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Wie ich Weihnachten rettete

© Tassel


Es hätte alles so schön sein können: Draußen lag kniehoch Schnee, Mama hatte dieses Jahr ausnahmsweise einmal nicht die Christbaumkugeln fallen lassen, Papas Tannenbaum war diese Jahr mal kein windschiefes nadelndes Gerippe wie in den Jahren davor und auch der Plätzchenduft, der aus der Küche in mein Zimmer zog, roch diesmal überhaupt nicht angebrannt. Sogar die schreckliche Blockflöte, mit der meine Schwester Jana die Weihnachtslieder zu "untermalen" pflegte, war auf unerklärliche Art und Weise verschollen. Ja, wie gesagt, es sprach eigentlich alles dafür, dass es zur Abwechslung mal ein gelungenes Weihnachtsfest werden würde.
Wenn, ja wenn nicht etwas Seltsames vor sich gegangen wäre: Die Bescherung kam und kam nämlich nicht. Versteht mich nicht falsch, es war ja nicht so, dass ich einfach nur ungeduldig gewesen wäre - zugegeben das war ich, schließlich war ich gespannt wie ein Flitzebogen, ob ich das ersehnte Fernrohr bekommen würde - aber irgendwie ging die Zeit überhaupt nicht rum. Ehrlich. Ich ging sogar soweit, sämtliche Uhren im Haus zu überprüfen, aber sie zeigten seltsamerweise jedes Mal dieselbe Uhrzeit an, sooft ich auch schaute.
Da ich meiner quengelnden Schwester aus dem Weg gehen wollte, verkroch ich mich in meinem Zimmer (sie beschuldigte nämlich unverschämterweise mich, Ihre Flöte geklaut zu haben! Dabei hatte ich sie nur leicht mit dem Fuß anstupsen müssen und sie war quasi von selbst unter den Schrank gerollt). Da ich ja nichts Besseres vorhatte, setzte ich mich auf die Fensterbank und beobachtete gelangweilt die Sterne (leider ohne Fernglas, aber nun ja).
Plötzlich knallte etwas mit Schwung gegen meine Fensterscheibe, so dass ich vor Schreck von der Fensterbank fiel. Als ich mich wieder aufrappelte, sah ich vor dem Fenster ein großes pelziges Gesicht mit einer langen Schnauze, einem Geweih und einer leuchtend roten Nase, die plattgedrückt an der Fensterscheibe klebte. Erwähnte ich schon, dass sich mein Zimmer im dritten Stock befindet? Nein? Das Wesen war offenbar in rasanten Flug gegen meine Scheibe gedonnert! Gut, ich mag ja nicht gerade ein Experte für Weihnachtslieder sein, aber ich erkenne eine leuchtend rote Nase wenn ich sie sehe: Rudolph, das Rentier schwebte draußen vor meinem Fenster. Ich öffnete also selbiges, und ließ völlig baff Rudolph in mein Zimmer, dessen Nase durch den Zusammenstoß irgendwie zunehmend roter wurde, wenn das überhaupt noch möglich war. Nachdem ich mich in die Küche geschlichen und einen Eisbeutel für Rudolphs anschwellenden Zinken stibitzt hatte, setzte ich mich wieder vor ihn auf die Fensterbank und versuchte aus der ganzen Sache schlau zu werden. Wenn heute Weihnachten war, Rudolph ganz allein hier in meinem Zimmer stand und die Bescherung einfach nicht kommen wollte, dann musste irgendetwas geschehen sein.
"Rudolph, wo ist eigentlich der Weihnachtsmann?" Rudolph legte den Kopf leicht schief und machte eine Bewegung, die für ein Rentier wohl als ein Schulterzucken durchging. Natürlich, Rentiere können nicht sprechen, auch fliegende nicht. Mist, ohne den Weihnachtsmann würde es auch kein Weihnachtsfest geben. Also: keine Bescherung, kein Weihnachtsbraten, keine Plätzchen und vor allem: kein neues Fernrohr! Und jetzt? Wie würde ich dieses Jahr ohne Weihnachten überstehen? Und was wollte Rudolph eigentlich von mir?
"Sag mal, kann ich vielleicht irgendwie weiterhelfen?" Ein heftiges Nicken folgte, das den Eisbeutel von seiner Nase zu Boden plumpsen ließ. Er ließ sich schwungvoll auf das Hinterteil nieder und bedeutete mir, aufsitzen. Ich konnte mich gerade noch an seinem Geweih festhalten, als er auch schon mit einem Satz aus dem Fenster gesprungen war und mit schnellen Sprüngen mitten durch die eiskalte Nachtluft galoppierte. Mannomann, ich bin ja kein Feigling, aber anfangs wurde mir schon ganz schön flau im Magen als er da mit mir etliche hundert Meter über der nächtlichen Stadt dahinsauste und ich wünschte, ich hätte heute nicht schon so viele Plätzchen gefuttert. Rudolph wusste offenbar ganz genau, wohin er wollte und steuerte ein großes Haus mit einem riesigen Schornstein an, auf dessen Dach ein mit Geschenken voll beladener Schlitten stand. Daneben standen einige ratlos wirkende weitere Rentiere, die erleichtert zu sein schienen, dass Rudolph mit mir zurückkehrte. Nach der überraschend weichen Landung schwang ich mich mit doch sehr weichen Knien von Rudolphs Rücken und blickte mich prüfend um. Kein Weihnachtsmann zu sehen. Nur die Rentiere, der Schlitten und der Schornstein mit dem komischen zappelnden Aufsatz darauf, der-.Moment mal. Aufsatz? Das waren doch zwei in schwarzen Stiefeln steckende Füße, die da aus dem Kamin ragten, oder nicht? Ich trat einen Schritt näher.
"Äh, Santa? Bist Du das etwa?" fragte ich etwas lahm.
"Eine sehr dämliche Frage. Wen hast Du denn sonst an Heiligabend in einem Schornstein feststeckend erwartet? Einen Schornsteinfeger mit Überstunden?" drang es dumpf und etwas genervt aus dem Backsteinmauerwerk hervor. Dann entschuldigte sich der Weihnachtsmann aber sogleich: "Ach, tut mir leid, aber ich sitze hier schon seit einigen Stunden fest. Ich wäre Dir also für ein wenig Unterstützung dankbar, falls Du heute Abend also nichts Besseres vorhaben solltest" Ich grinste. "Geht klar, Chef!"
Während ich rasch ein Seil (das ich im Schlitten gefunden hatte) an seinen Füßen befestigte, erkundigte ich mich: "Wie ist das Ganze eigentlich passiert?"
Santa seufzte. "Naja, ich wollte wie immer mit meinem Sack Geschenke durch den Kamin springen, hatte aber nicht an die ganzen Geschenke in meinem Sack gedacht, die ja jedes Jahr mehr werden. Dazu kamen noch die vielen guten Plätzchen, die überall auf den Gabentischen rumlagen, an denen ich nicht ohne zu probieren vorbeigehen konnte-und so kam es, wie es kommen musste: ich konnte weder vor noch zurück."
Mittlerweile war der Strick an seinen Stiefeln festgebunden, das andere Ende nahmen die Rentiere ins Maul. "Okay, wir sind dann soweit", rief ich, "Eins, zwei -drrrrrrei!"
Kennt Ihr das Geräusch, wenn an Silvester die Sektflaschen mit einem lauten "Plöpp" geöffnet werden? So hörte es sich auch jetzt an, nur hundertmal lauter, als Santa unter der gemeinsamen Anstrengung der Rentiere und mir wie ein Korken aus dem Schornstein gezogen wurde. (Es sah übrigens auch so ähnlich aus). Santa schoss in hohem Bogen hoch in die Luft und landete samt Seil (das wir vor Schreck losgelassen hatten) zum Glück relativ sanft, wenn auch schon wieder kopfüber in einer Schneewehe neben dem Haus. Um uns herum prasselten die Geschenke aus dem Sack hernieder. Wir halfen Santa aus seiner misslichen Lage und er schüttelte sich, um den Schnee aus seinem Bart und den Kopf wieder klar zu bekommen.
"Auch wenn die Ausführung etwas zu wünschen übrig gelassen hat: Vielen Dank Euch allen für die Hilfe" meinte er schließlich, "und vor allem Dir, ohne Dich hätte Weihnachten wohl dies Jahr ausfallen müssen."
Er spannte die Rentiere wieder an und ich dufte neben ihm auf dem Schlitten bis zu meinem Haus mitfahren. Er hielt direkt vor meinem immer noch offen stehenden Zimmerfenster und bedankte sich nochmals herzlich. "Aber kein Wort zu niemandem, versprochen?"
Ich grinste. "Aber nur wenn Du versprichst, bis zum nächsten Weihnachtsfest abzunehmen." Er zwinkerte mir zu "Versprochen!" antwortete er gutgelaunt. Dann flog er wieder davon, das letzte was ich von ihm hörte, als er in den sternenübersäten Nachhimmel entschwand, war seine etwas verwunderte Frage an Rudolph, ob dessen Nase heute irgendwie roter leuchtete als sonst, was von Rudolph mit einem genervt wirkenden Schnauben beantwortet wurde.
Zu Hause war dann alles wie gewohnt: Jana hatte ihr Instrument leider wieder gefunden (und warf mir während des Flötenspiels unter dem Weihnachtsbaum unverständlicherweise ständig wütende Blicke zu), Mamas Braten war mittlerweile doch angebrannt und der Tannenbaum hatte angefangen zu nadeln. Trotzdem war es ein wunderschöner, stimmungsvoller Weihnachtsabend (und ich bekam ein wundervolles Fernrohr, ganz so wie ich es mir immer gewünscht hatte.) Na dann: Frohe Weihnachten Euch allen!
P.S. Übrigens hat zum Glück niemand außer mir bisher bemerkt, dass das alte, kaum genutzte Trimm-Dich-Gerät von unserem Dachboden verschwunden ist. Stattdessen lag da ein Zettel mit einer Nachricht: "Hab mir das mal ausgeliehen, bringe es nächstes Jahr zurück, viele Grüße und Danke! Ho-ho-ho! S."



Eingereicht am 28. März 2006.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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