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Kein Whisky zu Weihnachten

© Agnes Jäggi


Es war Heiligabend. Ausser ihr befand sich niemand mehr auf der Strasse. Es schneite. Grosse weiche Flocken schwebten langsam auf den weissen Teppich, der sich bereits auf dem Boden gefestigt hatte. Sie stand neben dem alten Milchhaus, dort wo früher die Bauern aus dem Dorf jeden Abend die Milch in hohen metallenen Kannen abgeliefert hatten. Als Mädchen hatte sie, bewaffnet mit zwei Eimern ­ der eine fasste 3, der kleinere 2 Liter - darauf gewartet, dass diese aufgefüllt wurden. Der kleinere Eimer war für die Nachbarin bestimmt. Als Belohnung erhielt sie jeweils ein fünfzig Rappen Stück sowie Schokolade oder ein Buch. Die nette alte Dame war sehr belesen und als sie merkte, wie gerne das Mädchen Bücher mochte, schenkte sie ihm dann und wann eines, manchmal waren es auch Kriminalromane. Das Mädchen verschlang alles, saugte die Geschichten auf wie ein Schwamm. Es spielte keine Rolle, dass sie für das eine oder andere Buch noch zu jung war, nicht genau verstand, worum es in den Erzählungen ging. Sie las und las wie besessen.
Der grössere Eimer war für die vielköpfige Familie des Mädchens bestimmt.
Jeden Abend drei Liter. Sie bewohnten ein geräumiges Haus mit einem riesigen Gemüsegarten. Ihre Mutter hatte stets alle Hände voll zu tun, der Vater arbeitete in einer grossen Fabrik. Sie waren bestimmt nicht wohlhabend, dennoch erschien ihr ihre Kindheit im Rückblick als unbeschwerte und abenteuerliche Zeit. Wenn sie etwas nicht gekannt hatte damals, dann war das Einsamkeit. Nie war sie irgendwo alleine im Haus. Manchmal, wenn es regnete oder kalt war draussen, dann ergatterte sie ein kleines Plätzchen im Keller oder in der Garage, wo sie in Ruhe lesen konnte. In ihrem Zimmer war das selten möglich, denn sie teilte es mit zwei Schwestern. In der Küche stand meistens die Mutter oder einer der älteren Brüder und auch das Wohnzimmer war ständig belegt. Sie hatte sich damals hin und wieder gewünscht, ganz allein in dem grossen Haus zu wohnen. Sie hätte in ihrem Zimmer oder in der Küche lesen und nach Herzenslust Kaffee oder heissen Kakao trinken können.
Jetzt, sechzig Jahre später, erfüllte sich dieser Wunsch. Nur, dass sie jetzt nicht mehr einsam sein wollte. Die Eltern waren gestorben so wie einige Geschwister, die übrigen wohnten zwar in der Nähe, hatten aber ihre eigenen Familien. Für sie war nirgends Platz. Sie hatte sich jahrelang so sehr nach Unabhängigkeit gesehnt und auch dafür gekämpft, dass sie jetzt als alte, vergessene Frau ohne Familie, alleine in einem grossen Haus lebte. Gut, dass sie wenigstens noch die Bücher hatte. Viele, viele Bücher, überall im Haus. An Heiligabend fühlte sie sich noch einsamer als in den übrigen Tagen des Jahres. Weihnachten hatte sie schon als Kind besonders
geliebt: Der Schnee, die Lichter, die Tannenbäume, die märchenhaften Dekorationen, der Duft von Weihnachtsgebäck, der durch das ganze Haus strömte. Sie wollte diese Gedanken abschütteln, wollte weiter durch das stille Dorf spazieren, die tänzelnden Flocken betrachten, die weihnachtlich geschmückten Fenster anschauen. Doch bald wurde sie traurig, als sie die Menschen hinter den Fenstern erblickte, wie sie lächelnd vor ihren bunten Tannenbäumen standen. Gedämpftes Lachen und Singen drang durch die geschlossenen Fenster auf die Strasse: "Stille Nacht, Heilige Nacht, alles schläft..." Da wandte sich die alte Frau ab, wollte schnell zurück in ihr Haus, sich mit einem Buch ins Bett verkriechen, eine Schlaftablette mit etwas Whisky einnehmen und die beiden Weihnachtstage möglichst verschlafen.
Danach würde es ihr wieder besser gehen, das wusste sie aus jahrelanger bitterer Erfahrung. "Ich brauche niemanden, nur meine Bücher", murmelte sie trotzig auf dem Nachhauseweg. "Nichts als Kommerz und Lüge, dieses Weihnachten, dieses Fest aller Feste", höhnte sie, als sie sich in ihrer geräumigen Küche den zweiten oder dritten Whisky einschenkte. Dennoch liefen Tränen über ihre faltigen Wangen. Sie war eine alte, trotzige Frau, die seit ihrer Jugendzeit nichts anderes getan hatte, als die Leute, die sie mochten, zu vergraulen. Ganz besonders ihre Geschwister und deren Familien, aber auch ihren Ex-Ehemann. "Er war so gut, so lustig und lieb ­ warum konnte ich nicht einmal mit ihm zusammen in einem Haus leben. Wir hätten Weihnachten feiern können ­ schöne, kitschige, bezaubernde, magische Weihnachtsfeste." Sie ergab sich eine Weile ihrem Selbstmitleid und schlief schliesslich am Küchentisch ein.
Ein Geräusch weckte sie, es klang wie das Splittern von Glas. Benommen schlug sie die Augen auf, ein dumpfer Schmerz pochte in ihren Schläfen. Ich habe einen Kater, ich alte schlampige versoffene Schachtel. Nein, so sollte ihr Lebensabend denn doch nicht aussehen. Sie würde unter die Dusche stehen, sich gründlich einseifen, die Haare waschen, dann in ein frisch gewaschenes Nachthemd steigen und zu Bett gehen. Doch was war das? Sie lag in einem fremden Bett. Die Sonne schien durchs Fenster und es schneite. Ein schöner Anblick, der ihr Herz erwämte. Sie setzte sich aufrecht hin und zuckte sofort zusammen, nicht nur der Kopfschmerzen wegen. Neben ihrem Bett an der gegenüberliegenden Wand stand ein weiteres Bett, e in Kajütenbett, um genau zu sein. Die beiden Kinder oben und unten sassen ebenfalls aufrecht in ihren Betten und schauten sie verschlafen an. "Na, Rita, geht es dir heute schon etwas besser. Wäre schade, wenn du ausgerechnet an Heiligabend im Bett bleiben müsstest." Es waren ihre Schwestern Hanna und Lisa. Wie war das möglich? Die beiden waren immer noch Kinder, während sie... Die Türe öffnete sich. "Hanna, Lisa, steht schnell auf. Wir haben noch viel zu tun heute." Sie hätte fast geweint vor Freude. Da stand die Mutter auch schon neben ihrem Bett. "Hast du wenigstens etwas schlafen können? Ich werde dir gleich die Temperatur messen und dann bringe ich dir Tee und Zwieback." Zärtlich strich die Mutter ihr übers Gesicht. Eine seltene Geste für die stets viel beschäftigte Mutter. "Hallo Lisa, hallo Hanna, kommt frühstücken!" Ihr Vater. Und dann stand er auch schon neben der Mutter an ihrem Bett. "Hallo Rita, wie geht es meiner kleinen Prinzessin?" Sie krächzte irgendetwas und begann zu weinen. "Oh, tut es noch so weh. Vielleicht solltest du besser einen kalten Sirup trinken, das kühlt deinen Hals etwas. "Ich will aufstehen, ich will mit euch allen frühstücken. Sind Susi, Fabian, Martin und Clara auch da?" Die Eltern starrten etwas verdattert auf ihre erkältete Tochter hinunter. "Also, deine Brüder sind in der Schule und bei der Arbeit, Aber Susi und Clare sind da. Das weißt du doch." Bevor ihre Eltern noch etwas sagen konnten, schlüpfte Rita aus dem Bett und rannte mit blossen Füssen aus dem Zimmer. Sie flog beinahe den schmalen Flur entlang und stand dann in der Küche. Da stand eine grosse Pfanne mit heisser Milch auf dem Herd, der Kaffee duftete herrlich und um den reich gedeckten Tisch sassen ihre vier Schwestern. "Zieh doch bitte deine Pantoffeln an", schimpfte ihre Mutter. Rita setzte sich gehorsam an ihren Platz und liess sich die schweren, weichen Filzpantoffeln mit dem Tigermuster anziehen. "Na, du hast dich ja schnell erholt", neckte Susi sie, "wolltest gestern wohl einfach nicht zur Schule gehen wegen der Bastelarbeit, was?" Rita liebte festliche weihnachtliche Dekorationen, vor allem Sterne ­ aber Basteln gehörte definitiv nicht zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. "Nein, sie ist schon krank, aber sie will unbedingt heute Abend auf bleiben, wenn das Christkind kommt", krähte die kleine Clara vergnügt in die Runde. Inzwischen sassen auch die Eltern am Tisch. Kakao und Kaffee wurde eingeschenkt, die grösseren Schwestern strichen Butterbrote für ihre kleineren Schwestern und Rita ass und trank so viel, dass alle befürchteten, sie müsse sich danach gleich übergeben. "Ich bin gar keine alte Frau. Und ich will auch nie, nie alleine in einem grossen Haus leben ­ schon gar nicht an Weihnachten. Und Whisky werde ich auch niemals trinken, dann haut mein Mann auch nicht mit einem Flittchen ab", verkündete Rita auf einmal mit ernster Stimme. Verblüfftes Schweigen erst, dann hemmungsloses Gelächter. Rita lachte auch, es war ein befreiendes Lachen, eines das ganz, ganz tief auf ihrem Herzen kam. Der Vater wischte sich die Tränen aus den Augen, so sehr hatte er gelacht. Die Mutter meinte missbilligend, aber dennoch mit verräterisch schwankender Stimme, dass sie jetzt besser Fieber messen und vor allem einige der Bücher der Nachbarin aus Ritas Nähe entfernen sollten. "Alte Frau, Whisky, Flittchen - also wirklich, kannst du nicht einfach Bücher aus der Schulbibliothek lesen?"



Eingereicht am 22. November 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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