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Das Weihnachtskonzert

©Petra Kramp


Einen Tag vor Heiligabend gab es in unserer Familie immer ein besonderes Ereignis: In der so genannten "Mehrzweckhalle" meines Heimatortes wurde das Weihnachtskonzert des Knappenchores aufgeführt. Und mein Vater war und ist Mitglied dieses Männergesangvereines, und das mittlerweile schon seit über sechzig Jahren.
Mein Vater rühmte sich wohl zu Recht, das langjährigste Mitglied zu sein, und solange ich denken kann, war die Vorweihnachtszeit aus diesem Anlass ausgefüllt mit ständigen Chorproben und vorweihnachtlichen Zusatzauftritten - in Kirchen oder bei anderen Institutionen. Aber Vater wurde, je näher der eigentliche Auftritt rückte - d a s kulturelle Ereignis des Jahres schlechthin - immer nervöser. Zu viele Aufgaben mussten vorher noch erledigt werden, denn mein Vater war - und ist noch bis heute - als "Mädchen für alles" nicht mehr für seinen Verein nicht wegzudenken. Die Gestaltung der jährlich wechselnden Bühnendekoration beispielsweise geht auch auf sein Konto.
Vor zwei Jahren hatte Vater allerdings einen Schlaganfall erlitten, von dem er sich zwar glücklicherweise erholte, aber so ganz spurlos ist dieser "Schlag" in seinem Leben doch nicht vorüber gegangen: Heute noch hat er einen unsicheren, etwas wackeligen Gang und benötigt eigentlich auch einen Stock als Stütze beim Gehen, doch würde er sich niemals die Blöße geben, mit Stock auf der Bühne zu erscheinen …
Seine Stimme und sein Stimmvolumen hat er aber glücklicherweise wiedererlangt. Dennoch merkt er natürlich, dass er mit seinen fünfundsiebzig Lenzen seine Kräfte heutzutage besser einteilen muss und daher möchte er sich auch etwas mehr zurücknehmen. Aber was heißt schon eigentlich? Was heißt das bei einem Menschen, der seit so vielen Jahrzehnten schon mit das Rückgrat seines Vereines bildet?
Mittlerweile wird nach seinen Vorlagen das Bühnenbild erarbeitet, d. h. die Umsetzung erfolgt durch jüngere Vereinsmitglieder. Doch was heißt hier wiederum "Jüngere"?
Leider - oder besser gesagt - Naturgesetzen folgend - ist mein Vater gemeinsam mit seinen Sangeskollegen gealtert und das Durchschnittsalter reicht bald an das Methusalem-Alter heran …
Der Grund: Dem Chor fehlt der Nachwuchs, und das ist wirklich beklagenswert. Aber Hand aufs Herz: Wer von den jüngeren und dennoch reifen Männern möchte denn heute noch seine Freizeit zum Teil mit Selber-Singen verbringen? Wer singt denn noch heute in einem Chor?
Und als Boy-Group kann man seinen Gesangsverein nun bei aller Liebe nicht bezeichnen!
Umso erstaunter war ich aber, als ich unlängst erfuhr, dass vor kurzem ein etwa vierzigjähriger neuer Dirigent die Chorleitung übernommen hat und dies mit einem solchen ansteckenden, freudigen Eifer.
Und nun stand es also wieder an, d a s kulturelle Ereignis in meiner Heimatstadt.
Früher, daran muss ich jetzt denken, hatte meine Mama immer fetten Speck in Würfel geschnitten - für alle Sangeskollegen. Dieser sollte kurz vor dem Konzert von jedem Chormitglied langsam im Munde gelutscht werden und sorgte angeblich für einen geschmeidigeren Hals und Rachenraum. Und dieses wiederum ermöglichte ein besseres Singvermögen.
Aber Mama ist tot, schon seit vielen Jahren, und wer besorgte jetzt eigentlich den Speck?
In meiner Kindheit also gehörte das Weihnachtskonzert der Knappen zum Pflichtprogramm und ich muss gestehen, das ganze Brimborium ob des Gelingens des Konzertes, die vielen Vorbereitungen und das ständige Gerede darüber, gingen mir damals oft auf die Nerven. Auch die eigentlichen musikalischen Darbietungen entlockten mir keine enthusiastischen Begeisterungsausrufe: Meine Freude daran hielt sich - gelinde gesagt - in Grenzen. Lediglich beim Schlusslied, bei dem traditionsgemäß "Stille Nacht, Heilige Nacht" gesungen wurde, und zwar gemeinsam mit dem Männerchor, dem eingeladenen Gast-Kinderchor und dem Publikum, wurde ich so recht in weihnachtliche Stimmung versetzt, denn der Wunsch zum Mitsingen, den hatte und habe ich wohl von meinem Vater geerbt.
Und als junge Erwachsene schließlich hatte ich nun überhaupt keine Lust mehr, den jährlichen Weihnachtskonzerten beizuwohnen. Zudem wohnte ich auch nicht mehr in meinem Heimatort.
Ich gestehe, ich habe mir die anschließenden, väterlichen Kommentare ob des grandiosen Konzertes im Nachhinein wohl eher amüsiert, denn ehrlich interessiert angehört. Hatte ich denn jemals etwas anderes aus seinem Munde vernommen?
Und rückblickend weiß ich wirklich nicht, wie es dazu kam, aber vor drei Jahren hatte ich meine Teilnahme - zusammen mit einer lieben Freundin - wieder aufleben lassen. War ich reifer geworden, hatte sich mein Musikgeschmack geändert? Ich weiß es nicht, wohl weiß ich, dass es keine Zwangsveranstaltung gewesen ist und ich gerne dorthin ging, einen Tag vor dem Heiligen Abend.
Doch dieses Mal, d. h. das diesjährige Konzert, ist zu einem ganz besonderen für mich geworden:
Zum allerersten Mal konnte ich jede musikalische Einzeldarbietung genießen, sei es der alleinige Gesang des Männerchores, sei es das Klaviersolo, sei es der Auftritt des Kinderchores, sei es die Gesangseinlagen der jungen Sopranistin. Und allein ein Blick auf das begeisterte Gesicht des jungen Dirigenten bereitete mir unendlich Freude.
Und bei so manchen Liedern des Knappenchores fühlte ich mich an meine Kindheit erinnert, und ich war richtig rührselig. Ach ja, das "Tiroler Weihnachtslied" hat Papa mir auch immer begeistert vorgesungen und die "Hymne an die Nacht" erkannte ich auch wieder. Diese Erinnerungen berührten mich so sehr, dass mir die Tränen kamen, und ich begriff zu diesem Zeitpunkt noch nicht so ganz warum.
Und beim gemeinsamen Schlusslied mit allen Beteiligten plus Publikum, da kannten meine Begeisterung, meine Rührung und auch meine Tränen kein Halten mehr: Und trotz der Tränen sang ich mit, so laut und so inbrünstig ich zu singen vermochte.
Und ich denke, ich war meinem Vater selten so nah gekommen, in seinem Denken und Fühlen, wie in diesem Augenblick. Und auf einmal begriff ich auch - wenn auch nur ansatzweise - was der Chor, sein Verein, für ihn bedeutete, und dass man musikalisch sogar stehen kann, wo man will, aber die ständige Treue, die er diesem Verein und seinen Mitgliedern entgegenbrachte und -bringt, Vaters Einsatzbereitschaft, die manchmal schon an Aufopferung grenzte, einfach sein ganzes Engagement, dies alles waren Dinge, die so viele Menschen heute auch in Ansätzen schon gar nicht mehr kennen, geschweige denn bei anderen nachvollziehen können.
Und getragen wurden und werden diese Werte durch die Liebe, durch seine Liebe zur Musik, zur großen Lust zum Selber-Singen - in einer Welt, in der fast alles nur noch "vom Band kommt" und synthetisch aufbereitet werden muss, bevor es "konsumiert" werden kann!
Und noch bei den Schlussakkorden von "Stille Nacht, heilige Nacht" beschloss ich, ich würde alles tun, dem Konzert meines Vaters, denn es ist in der Tat mittlerweile "sein Konzert" geworden, so lange er denn noch mitzusingen imstande ist (und dies, so hoffe ich, ist noch recht, recht lange) in Zukunft beiwohnen zu können. Und genau dies wollte ich ihm auch sagen. Unverzüglich und unwiderruflich.
Am Ende des Konzertes wartete ich daher am Bühnenaufgang auf ihn und - als schien er es zu spüren, dass etwas Besonderes uns umgab - kam er schon mit Freudentränen in den Augen auf mich zu. Diesmal wieder mit seinem Stock, den er auf der Bühne, denn dazu ist er viel zu eitel, ("Ich bin doch kein alter Mann"), selbstverständlich nicht benötigte…
Ich nahm ihn in die Arme, drückte ihn ganz lieb, ganz doll und ganz lange und bedankte mich überschwänglich für das schöne Konzert und dann gab ich ihm mein Versprechen:
"Papa, im nächsten Jahr bin ich wieder dabei!"



Eingereicht am 30. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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