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Stille Nacht

© Beate Rosner


Lichterketten leuchten an den Fenstern, fast an jedem Haus, frischer Schnee hat die Stadt pünktlich zu Heiligabend märchenhaft verzaubert.
Bei der Familie Rhode ist der Tisch schon gedeckt, aus der Küche duftet es verführerisch, am grünen Adventskranz flackern vier rote Kerzen. Erwin klingelt mit einem goldenen Glöckchen, wie er das schon getan hat, als Anke und Ines noch klein waren; und die gesamte Familienbande, alle in Schale geworfen, Sarah und Tilly voraus, stürmt das Wohnzimmer. Unter dem Weihnachtsbaum, an dem die blauen Kugeln blitzen und das silberne Lametta herunterfließt, liegen in buntes Glitzerpapier eingepackte Geschenke, auf einem Tischchen steht eine leere Krippe. Die Kinder zerfetzen ungeduldig das Geschenkpapier, es knistert und ratscht, und befreien Socken und T-Shirts aus ihrer Umhüllung. Auf Sarah wartet außerdem ein Gameboy, für Tilly liegen Bilderbücher mit biblischen Geschichten bereit.
Nachdem die Geschenke ausgiebig bewundert worden sind, wird die Krippe vervollständigt. Sarah platziert wie jedes Jahr Maria, Josef und das Jesuskind, Tilly ist für die Hirten und Schafe zuständig.
Sarah ist mit diesem Weihnachtsabend bisher vollkommen zufrieden, Tilly jedoch stellt sich vor die Krippe und verkündet: "Sehr geehrtes Christkind. Vielen Dank für die Geschenke. Ich hätte aber lieber auch einen Gameboy gehabt wie Sarah. Bitte denk nächstes Jahr dran."
"Essen ist fertig!", ruft Luise, und alle kommen ins Esszimmer, streiten sich, wer welchen Platz einnehmen darf.
Ein schwarzer Blitz schießt quer über den Tisch und wirft beinahe einen Teil des Geschirrs herunter.
"Zorro, du Mistkater!", brüllt Erwin.
Luise begehrt auf: "Beleidige nicht meinen Liebling!"
Dann bringt sie zwei Auflaufformen mit Lachsgratin und eine große Schüssel mit Vollkornreis. Jeder nimmt sich reihum etwas auf seinen Teller, Anke versorgt ihre Töchter.
"Ich mag aber keinen Fisch", mault Sarah. "Ich will lieber Chicken-Nuggets."
"Und ich mag keinen Vollkornreis", schmollt Tilly. "Ich will lieber Pommes rot-weiß."
"Jetzt probiert doch erst mal", versucht Anke ihre Kinder zu besänftigen.
"Verzogen bis ins Letzte, deine Brut", giftet Ines ihre ältere Schwester an.
"Krieg erst mal selbst Kinder, dann kannst du mitreden", gibt Gerd, Ankes Mann, zurück, und, an die Adresse von Heiko: "Deine Frau kann sich mal wieder nicht benehmen."
"Ach, auf einmal", kontert Heiko. "Aber damals hast du ihr schöne Augen gemacht."
"Was?" Anke schaut Gerd entsetzt an.
"Da wusste ich ja noch nicht, was für eine Zicke das ist", schleudert Gerd heraus.
"Kinder, heute ist doch Weihnachten", mischt sich Luise hilflos ein.
Erwin gießt jedem Erwachsenen eine Aperitif ein und dröhnt: "Jetzt trinken wir erst einmal einen Schluck!" Er kippt den Inhalt seines Glases hinunter und schenkt sich sofort nach.
Alle essen schweigend und brüten wütend vor sich hin. Man hört nur das leise Klappern und Kratzen der Bestecke auf den Tellern.
Zorro rupft mit seinen Krallen an der Gardine.
"Du schwarzer Satansbraten", poltert Erwin, und Luise fährt auf: "Ich will nicht, dass du meinen Schatz so nennst!"
Nach dem Essen gibt Erwin eine Runde Williams aus, leert sein eigenes Glas mehrmals.
"Musst du wieder so viel saufen!", motzt Luise ihn an.
"Na klar, heute wird gefeiert!" Erwin lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
"Sarah und Tilly haben ihre Blockflöten mitgebracht und wollen uns ein paar Weihnachtslieder vorspielen", verkündet Anke.
Luise deckt den Tisch ab und bringt die Reste in die Küche. Man wechselt vom Esszimmer wieder zurück ins Wohnzimmer. Sarah und Tilly packen ihre Instrumente aus.
"Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all ..." Der samtene, sich ab und zu leicht überschlagende Klang der Flöten erfüllt den Raum.
Ines verzieht gelangweilt das Gesicht. "Können wir nicht einen Film im Fernsehen anschauen? Heute kommt "Quo Vadis". Es läuft schon." Sie schaut Luise fragend an.
"Ich weiß nicht, wie man den Fernseher bedient", wendet Luise sich Hilfe suchend an ihren Mann.
Dieser setzt das Glas ab. "Tja, wenn ich jetzt wüsste, wo die Fernbedienung ist ..."
Ines findet sie in einem Wust von Zeitschriften und schaltet das Gerät ein. Deborah Kerr und Robert Taylor flimmern als Lygia und Marcus Vinicius über den Bildschirm und werfen sich schmachtende Blicke zu.
"Ich will aber lieber Augsburger Puppenkiste sehen!", protestiert Tilly.
"Und ich will noch ein Lied spielen", meldet sich Sarah zu Wort.
"Psst", fährt Ines die beiden an.
"Wie kannst du nur so egoistisch sein!", ereifert sich Anke. "Die Kinder haben mit ihren Flöten so lange für heute geübt."
"Heute bin ich eben auch mal dran", bricht es aus Ines heraus. "Ansonsten werdet ihr doch immer bevorzugt! Anke und Gerd haben Kinder, Anke und Gerd haben ein Haus, wir müssen Ihnen vorn und hinten das Geld hineinschieben und uns alle nach ihnen richten!"
"Das kannst du so nicht sagen!" Luise bricht beinahe in Tränen aus. "Wir waren auch immer für dich da, haben dir dein Studium finanziert, hast du das schon vergessen? Erwin, sag doch auch mal was!"
Erwin erhebt wiederum sein Glas, leert es auf einen Zug und knallt es auf den Tisch. "Kinner", lallt er, "heud is Weihnachdn. Da wird ned rumgekeifd, hicks!"
"Übrigens, an deinem Auto brennt das Licht", macht Heiko Gerd aufmerksam.
"Und das sagst du erst jetzt?" empört sich Gerd.
"Ich hätte es dir auch überhaupt nicht zu sagen brauchen, du Affenarsch", gibt Heiko zurück.
"Willst du eine rein haben?" Gerd hält Heiko seine geballte Faust unter die Nase. "Komm nur her!"
Gerd und Heiko erschlagen sich gegenseitig, Ines und Anke kratzen sich die Augen aus, der Christbaum kippt um, die Kugeln zerbrechen, Erwin stirbt an Alkoholvergiftung, Luise trifft der Schlag, der Fernseher hat einen Kurzschluss, nur Sarah und Tilly spielen unbeirrt auf ihren Blockflöten "Stille Nacht, heilige Nacht", und Zorro macht sich über den restlichen Lachs in der Küche her.



Eingereicht am 14. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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