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Mias Meer

© Sabine Raml


Der Streudienst arbeitet von früh bis spät, die Männer haben erhitzte Gesichter und sie riechen trotz der Kälte nach Schweiß, den sie abends wie eine Trophäe zu ihren Frauen tragen. An Tage ohne Schnee kann Mia sich nicht mehr erinnern, Schnee, so scheint es, wird für alle Zeiten die Straßen, Häuser und Plätze bedecken. Gestern hat Mia eingekauft, gestern hat sie es übers Herz gebracht, einen Supermarkt aufzusuchen. Wie erwartet war er überfüllt, wie erwartet dudelte aus allen Ecken Weihnachtsmusik. Mia lief mit zusammengepressten Lippen durch die Gänge, griff mal hier, mal dort hin und machte, dass sie mit ihrer Beute zur Kasse kam. Sie schaute der Kassiererin ins gerötete Gesicht, ungewohnt heiß war es plötzlich, Mia dachte noch, bestimmt sieht mein Gesicht genauso gehetzt und leer aus. Das Kind neben ihr schrie, die Mutter schimpfte, irgendwo zersprang Glas. Mias Herz klopfte bis zum Hals und in den Ohren rauschte es wie sonst nur am Meer. Hastig bezahlte Mia und konnte gar nicht schnell genug hinaus in die Kälte kommen.
"Warte mal", rief eine Stimme hinter ihr her. Dann spürte Mia eine Hand auf ihrer Schulter und zuckte unter der unerwarteten Berührung zusammen. "Jetzt warte doch mal."
Seine Augen waren blassblau wie ihre, auf dem Kopf trug er eine dieser lächerlichen Strickmützen und die auch noch in rot. Er streckte Mia den Beutel Orangen hin, den sie erst vor wenigen Minuten bezahlt hatte. "Hier, die hast du vergessen."
Mia blickte erst die Orangen, dann den jungen Mann an, der sie sie hilflos anlächelte.
"Ist dir nicht gut?"
Rasch senkte sie den Blick und holte tief Luft. "Nee, alles in Ordnung, warum?"
"Na, gerade, an der Kasse, da dachte ich, du kippst gleich um."
"Nee, ich mag nur Weihnachtsmusik nicht besonders und die Hektik und die vielen Menschen."
Jetzt lächelte auch Mia, weil sie merkte, wie kindisch sie sich noch immer anstellte, wenn sich das Jahr langsam dem Ende neigte und alle die Weihnachtsbäume aufstellten und feierlich schmückten. Als wäre Weihnachten eine schlimme Sache, etwas, das man über sich ergehen lassen muss.
Bevor sie noch etwas sagen konnte, brach der junge Mann in schallendes Lachen aus. "Klasse, endlich mal jemand, der nicht im Weihnachtsrausch ist. Weißt du, das ganze Heile-Welt-Getue geht mir allmählich echt auf den Geist. Erst vorhin habe ich einem Pärchen dabei zuhören müssen, dass sie ein echtes Christkind zeugen wollen, kannst du dir das vorstellen?"
Und Mias Augen füllten sich mit Tränen, tapfer schüttelte sie den Kopf und griff nach ihren Orangen. Sie standen noch einen Moment da, blickten sich schweigend in die Augen, dann drehte sich Mia um und lief so schnell davon, wie es die dicke Eisschicht zuließ.
Auf allen Kanälen der Weihnachtsmann, mal lustig, mal melancholisch, immer mit rotem Mantel und Rauschebart. Mia hat den Ton abgestellt, sie wird Musik dazu hören. Keine Weihnachtsmusik, sondern das härteste, was sie im CD-Regal findet. Die Nudeln sind aufgesetzt, die Miracolisauce köchelt vor sich hin. Dass sie gestern in der Hektik nur Fertiggerichte gekauft hat, hat Mia dann doch geärgert, aber an den Sekt hat sie zumindest gedacht. Den wird sie nach dem Essen öffnen und mit in die Badewanne nehmen, so wie sie es jedes Jahr am Heiligen Abend macht. Und in dem heißen Wasser wird sie sich ins Meer wünschen. Weihnachten ohne ihr Meer kann Mia sich nicht vorstellen, wenn sie an früher und die traditionellen Weihnachtsabende denkt, graut es ihr. An ganz früher, als es Mutter noch gab, kann sie sich nicht mehr erinnern, nur von Fotos kennt sie die alten Weihnachtsfeste und auf denen hat sie schon als Kind eine Schnute gezogen. Und jedes Jahr hat es Ärger mit Vater gegeben, weil Mia schon am Nikolaustag den ganzen Adventskalender geplündert hatte. Dass das Unglück brachte, wusste sie, er hatte es ihr schließlich oft genug gesagt.
Mia gibt sich einen Ruck und verscheucht die lästigen Gedanken mit einem energischen Kopfschütteln, gerade, als sie die CD mit den Rocksongs gefunden hat, klingelt es an der Tür. Augenblicklich ist da ein Kloß in ihrem Hals und das Herz zieht sich zusammen. Mia hasst Besuch, besonders an so einem Abend wie heute. Auf Zehenspitzen schleicht sie zur Tür, den Türspion fest im Blick.
Als Mia die Haustür öffnet, sehen ihr die blassblauen Augen von gestern entgegen.
"Hallo, ich bin Tom, du weißt schon, der mit den Orangen. Ich bin dir gestern gefolgt, deshalb weiß ich, in welchem Haus du wohnst. Deine Nachbarn kennen mich schon, von der alten Grete soll ich dir liebe Grüße ausrichten. Weißt du, du sahst gestern so traurig aus."
Während er auf irgendetwas zu warten scheint, schiebt Mia ihn einfach in ihre Wohnung.
"Was willst du?"
Tom hält die Tasche hoch, die er in der rechten Hand hält, und grinst. "Ich habe was Leckeres zum Essen besorgt, nur wenn du willst natürlich."
Da fallen Mia ihre Nudeln ein, rasch rennt sie in die Küche und reißt den Topf vom Herd. Auf den weißen Kacheln gesprenkelte rote Sauce, es sieht aus, als hätten sie die Windpocken.
"Du isst am Heiligabend Miracoli?"
"Was dagegen?"
Früher hat Mia gelacht, wenn es ihr schlecht ging, hat in schlechten Zeiten gar nicht genug davon bekommen können. So lange lachen, bis die Traurigkeit verschwunden ist. Mit Tom steht sie in ihrer Windpocken befallenen Küche und lacht vor lauter unerwartetem Glück.
Später liegen sie gemeinsam in Mias Meer und teilen sich den Sekt. Tom hat versprochen, ihr nur in die blassblauen Augen zu schauen und sich zumindest eine Weile daran gehalten. Sie erzählen sich Geschichten über Weihnachten, der Schaum schmilzt und wird durch neuen ersetzt, heißes Wasser läuft nach und vernebelt ihnen allmählich die Sicht.
"Mein erstes Weihnachten im Meer", bemerkt Tom und nippt genüsslich an seinem Sekt. In seiner Stimme etwas Stolzes.
Mia nickt und überlegt, wie es wohl wäre, wenn sie wirklich ans Meer fahren würden. Als sie an Tom vorbei aus dem Badezimmerfenster blickt, sieht sie durch die Nebelschwaden hindurch, dass es wieder angefangen hat zu schneien. Die Schneeflocken tanzen im Licht des Mondes und dann legt sich die Hand, die gestern noch ihre schneenasse Schulter berührt hat, auf Mias Hand.



Eingereicht am 11. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.


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