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Das große Mädchen und sein dringendster Weihnachtswunsch

© María del Carmen González Gamarra


Es war einmal ein kleines Mädchen vor vielen, vielen Jahren hinter den hohen rotbraunen Bergen. Da lebte sie mit ihrer Mutter, ihrem Vater und der kleinen Schwester in einem kleinen Dorf mit einer riesigen Kirche mitten auf der Plaza.
Von maurischen Mauern umgeben, auf denen im Sommer Jasmin wuchs, lag das Dorf an einem flachen Bach. Nachts hörte das kleine Mädchen die Grillen singen im Kartoffelacker neben dem kleinen mit Kalk geweißten Haus, wenn sie mit der Mutter vor der Tür im Sommer saß und die gelbgoldenen Sterne zählte. Strom gab es damals im ganzen Dorf nur in drei Häusern. Im Haus des Pfarrers, des Apothekers und des Herrn, der viele Knechte besaß, die ihm das weite Land bestellten bei Regen und Sonnenschein im Sommer wie im Winter.
Im Jahr, als sie zum ersten Mal in die Klosterschule ging, kam das Fernsehen zum Herrn in das kleine mit Apfelbäumen umgebenen Dorf und wer von den Dorfkindern BONANZA schauen wollte, musste zur Hausdame des Herrn ein Real mitbringen. Zu den ersten Fernseh-Tagen im Haus des Herrn kamen nur wenige Dorfkinder. Denn ein Real besaßen damals nur sehr wenige Familien im Dorf. "Von einem Real muss eine ganze Familie eine Woche lang leben!", schimpften die Mütter und Hausfrauen, als sie von den "Fernsehengebühren" hörten und ihre Kinder weinend zu Hause festhalten mussten. Das Mädchen kannte diese Armut und fragte die Mutter nicht, ob auch sie zum Fernsehen bei dem Herrn gehen durfte. Denn das Mädchen wusste auch, dass ihr Vater beim Herrn ab und zu auf dem Feld arbeitete.
Als im Laufe der Jahre immer mehr Dorfbewohner sich einen Fernseher, wenn auch auf Raten zulegten, fiel der Preis für BONANZA im Haus des Herrn auf die Hälfte. Das kleine Mädchen hörte in der Schule davon und nach langem Bitten bei der Mutter, auch BONANZA im Haus des Herrn sehen zu dürfen, erlaubte es die Mutter, wenn auch nicht jede Woche.
Die Jahre gingen durch das Dorf. Das Mädchen, jetzt ein junges Mädchen, lernte die Großstadt kennen. Mit großen Kinos und Laternen am Straßenrand. Kurz danach bekam das kleine Dorf Elektrizität, wie es damals genannt wurde und die Mutter erhielt eine mechanische Nähmaschine und bald auch ein Radio.
Kaffeemaschinen, Bohrer und die ersten modernen Fotoapparate kamen auf den Markt im Laufe der Jahrzehnte. Kaum hatten alle im Dorf einen Fernseher, folgten der frigorifico und anschließend der elektrischer Herd. Die Modernen Zeiten, wie in Charlie Chaplins Film, brachten eine Mär von elektronischen Geräten mit, nicht nur in die Großstadt, sondern auch in das kleine Dorf, um das keine Äpfelbäume mehr blühten. Bald folgte der erste PC, Drucker und das erste kiloschwere Handy. Viele Menschen zeigten mit einem am Hosengürtel hängenden Handy, dass sie der glückliche Besitzer eines mobilen Telefons sind, wenn sie mit diesem fast schon "obszönen" großen Ding am Gürtel befestigt, durch die Gegend wie ein Pfau stolzierten. Die Handys wurden kleiner und kleiner und kleiner und die Menschen lauter und lauter und lauter.
Und als aus dem jungen Mädchen ein richtiges große Mädchen geworden war, da trug fast jeder ein Handy, dieses zwar nicht mehr sichtbar aber hörbar. Sie selbst wollte dennoch nie eins besitzen. Sie wollte in der Straßebahn oder U-Bahn lieber weiterhin in Ruhe lesen, als plötzlich mit einem Schreck von einem Handyklingeln aus einer interessanten Lektüre herausgerissen zu werden, um Telefonieren zu müssen. Denn Lesen unterwegs fand sie viel spannender. Jahre lang hatte sie in Zügen, Straßenbahnen, U-Bahnen, überhaupt in öffentlichen Verkehrsmitteln viel gelesen. Hunderte von Romanen hatte sie in wenigen Jahren, während sie zur Arbeit fuhr oder auf dem Weg war, Freundinnen zu besuchen, lesen können.
Doch mittlerweile war das Lesen in öffentlichen Verkehrsmitteln kaum noch möglich. Denn kaum war sie in die Straßenbahn oder U-Bahn eingestiegen, hatte ihr Buch aus der Handtasche herausgeholt, klingelte direkt neben ihr oder zwei Meter neben dran bei einem Fahrgast ein Handy mit irgendeiner penetranten Musik oder schrillen Schallton, der nach mehreren Sekunden vom Besitzer oder auch Besitzerin abgeschaltet wurde, in dem er oder sie fast immer in das Handy in einer Wohnzimmerlautstärke sagte: Ich bin in der Straßenbahn. Dieser "elementare" Satz, der durchgängig mit dem zweiten genauso "erfolgreichen" Standartsatz komplettiert wurde: Ich steige in drei Minuten aus, schallte immer wieder durch die Straßenbahnwagens. Oft wurden auch sehr "geistreiche" Mitteilungen hinzugefügt wie: Ich bin in 5 Minuten an der nächsten Haltestellen. Aber nicht nur kurze und "spritzige" Gespräche mussten jeden Tag in den öffentlichen Verkehrsmitteln zwanghaft mit angehört werden, sondern auch längere und für die Öffentlichkeit einfach unpassende Unterhaltungen.
Eines Tages entdeckte das große Mädchen, dass die in diesen "genialen" Sätzen enthaltene Phantasie im Verhältnis zu der Lautstärke des Sprechers und der Sprecherin diametral entgegen gesetzt steht. Das heißt: Je lauter die Menschen ins Handy grölen, desto "origineller" ihre Botschaften. Ein komisches Verhältnis, dachte sie. Oder ein "denkenswertes"? Und dann begann sie darüber nachzudenken. Denn seit Jahren konnte das mittlerweile große Mädchen kaum noch etwas in den öffentlichen Verkehrsmitteln lesen, und die Wut stieg und stieg und nicht nur bei ihr, wie sie zunehmend feststellen konnte, wenn immer wieder die angenehme Stille für die Fahrgäste durch solche "lebenswichtigen" Gespräche abrupt unterbrochen wurde. Langsam verstand das große Mädchen immer besser den neumodischen Satz: "Wir leben in einer kommunikationsgestörten Gesellschaft." Denn eine Gesellschaft, die zunehmend laut kommuniziert, sich aber anscheinend nichts Essentielles mitzuteilen hat, muss einfach gestört sein, dachte sie. Denn, wenn Menschen miteinander reden, sogar ohne Unterbrechung am Tag miteinander per Handy sprechen und vorwiegend dabei nur laut sind, da sie meistens nichts existenzielles zu verkünden haben, dann sind sie wahrscheinlich wirklich etwas "gestört". Ein "gestörter" Mensch ist heut zutage nichts Außergewöhnliches. Außergewöhnlich ist lediglich die per Handy verbrauchte Energie. Denn bedauerlicherweise verbrauchen die Handybesitzer oder Besitzerin dabei hochwertige Energien, die von uns alle in unterschiedlichen Formen erbracht werden müssen; sie verbrauchen unnötigen Strom und vergeuden lebensnotwendige menschliche Energien. Dieser lauter und dümmer werdende "globale" Kommunikationsentwicklung versucht das große Mädchen zu entkommen, wenn sich eine Möglichkeit ergibt.
So hatte sie irgendwann einmal begonnen, sich ab und zu in die entgegen gesetzte Richtung des Handybesitzers in der Straßenbahn zu setzen. Sie flüchtete regelrecht vor peinlichen mit Gewalt aufgedrängten Gesprächen über intime und delikate Themen, die sie nicht einmal in ihren Vier-Wänden führen würde. Doch auch das half immer weniger. Denn mittlerweile war es Gang und Gebe, dass vier und manchmal auch bis zu sechs Leute gleichzeitig in einer Straßenbahn oder U-Bahn telefonierten und zwar in so einer Lautstärke, als würden sie auf der Toilette zu Hause sitzen, und durch die geschlossenen Toilettentür dem Empfänger oder Empfängerin im Wohnzimmer ihre Mitteilung bekunden mussten. Nicht nur der Gesprächsstil oder die Lautstärke also waren ziemlich vulgär, sondern oft auch die primitiven Gesprächsinhalte, die dem großen Mädchen und allen anderen Fahrgästen immer mehr mit brachialer Gewalt aufgedrängt wurde. Und wenn sie diesen oft belanglosen Gesprächen kaum entkommen konnte, so versuchte sie manchmal im friedlichen Tod, um eine Senkung der Lautstärke zu bitten. Aber meistens bekam sie, statt eine Entschuldigung, wie sie als Kind erzogen wurde sich zu entschuldigen, wenn sie Menschen belästigt hatte, eine freche oder dreiste Antwort: Ich red, wie ich will. Wenn´ s nicht passt, setzen Sie sich wo anders hin. Sie war immer wieder schockiert über die Reaktionen der Menschen, deren Dreistigkeit und Aggressionsniveau.
Die Menschen wurden also nicht nur lauter, sondern frecher. Sie merken kaum noch, dass sie bereits mit ihrer Wohnzimmerlautstärke die intimen Grenzen fast aller Fahrtgäste um sie herum, überschritten haben, dachte sie dabei. Im Gegenteil: vom "Schuldgefühl" eine Grenzüberschreitung begangen zu haben, war selten etwas zu spüren und die Worte "Grenzüberschreitung" oder "Grenzverletzung" schienen nicht mehr bekannt zu sein. Oft wurde dabei auch der Freiheitsbegriff in den Straßenbahndebatte eingeworfen, bei dem jede Diskussion nur noch in die Eskalation mündete. Auch die Betreiber von öffentlichen Verkehrsmitteln unternahmen trotz mehrmaliger Bitten nichts gegen die damit verbundene zunehmende Aggressivität, die entweder sofort vor Ort eine Entladung erfährt oder ungewollt einfach mitgenommen wird und woanders entladen wird, meistens an der falschen Stelle ein Ventil findet. Vielleicht! wollen sie auf sich aufmerksam machen in der Öffentlichkeit, dachte das große Mädchen über die Energievergeuder nach oder zeigen, sie besitzen auch ein …, oder sie werden auch angerufen usw. Dieses Verhalten lässt ein Geltungsbedürfnis durchscheinen, das nicht weit von einer "gestörten" Identität angesiedelt werden kann, dachte sie manchmal.
Einmal, nachdem sie gar nicht mehr einen sehr lauten Handybesitzer bitten wollte, leiser zu telefonieren und dieser sein Handy nach einigen Minuten in die Tasche wieder gesteckt hatte, setzte sich neben ihn ein zweiter Fahrgast, der sofort sein Handy aus der Hosentasche zog und fast schon beim ersten Satz schrie: Ich bin bald da. Kaum hatte dieser seinen Satz beendet, klingelte es bei seinem Nachbarn, der gleich sein Handy aus der Hoschentasche zog und auch zu sprechen begann.
Bist Du auch da? (Laut)
Wo bist Du jetzt? (Auch laut)
Ach so. Ja (Noch lauter)
Ich komme jetzt. (Noch lauter)
Vielleicht in drei Minuten. (Sehr laut)
Ich verstehe Dich nicht. Hier ist einer so laut. (Sehr laut)
Was hast Du gesagt? Sprich lauter, ich höre Dich nicht gut. (Noch lauter)
Warte mal, ich verstehe Dich nicht. (Aggressiv zum Nachbarn)
Seien Sie dich endlich leiser. Ich kann mein Gespräch nicht verstehen. (Aggressiver Ton).
Seien Sie doch leiser! Sie sollten leiser und nicht frecher werden. (Stimme bebt)
Sie haben mir gar nichts zu sagen. Ich habe auch einen Fahrschein. (Äußerst aggressiv)
Warte Du. (Fuchtelt mit dem Handy in der Luft und spricht in das Handy). Dieser Idiot kapiert nichts. Dann muss ich das wohl anders sagen. (Wendet sich nervös zum Nachbarn)
Wie reden Sie mit mir? (Sehr aufgeregt)
Wenn Sie nicht anders verstehen wollen, dann nur noch so. (Greift den anderen am Ärmel und schüttelt ihn)
Werden Sie nicht handgreiflich (Schweißperlen auf der Stirn). Sie haben nicht das Recht dazu. Auch ich darf in der Straßenbahn telefonieren, wie ich will. (Schwitzt)
Setzen Sie sich woanders hin, wenn Sie so laut telefonieren wollen. (Schreit den Nachbarn an)
Setzen Sie sich doch solange woanders hin. (Grölt dieser und steht auf)
Nach drei Minuten mit zunehmender Lautstärke gehen die Herren zu handfesten Handgreiflichkeiten über. Dem einen fällt das Handy aus der Hand, der andere hat ihm unerwartet einen Fausthieb auf die Nase versetzt und diese beginnt zu bluten. Alle anderen Fahrtgäste sitzen weiterhin schweigend in der Straßenbahn, verstreut um die zwei sich schlagenden Männer. Nach ca. vier Minuten hat einer von den Handybesitzern ein Taschenmesser aus der Jackentasche herausgeholt und sticht den anderen in die linke Bauchseite. Dieser lässt einen kurzen Schrei durch die Bahn schwingen. Dann fällt einer der beiden Männer zu Boden. Und ein kleines Kind sagt zur Mutter: Mama der Mann ist auf den Boden gefallen. Die Mutter antwortet: Schau nicht hin Kind. Und von hinten klingt leise eine Stimme: Jetzt ist endlich Ruhe.
Aus langjährigen Erfahrungen und besonders "Erlebnissen! wünscht sich das große Mädchen mehr denn je zu Weihnachten mittlerweile nur noch eines: Ein Handyverbot (wie Rauchverbot) an öffentlichen Orten (wie Verkehrsmitteln) bevor Mord- und Totschlag herrscht.



Eingereicht am 30. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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