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Ein kleines Wunder

© Rosita Hoppe


Unzählige Schneekristalle glitzerten in der Sonne und ließen den frisch gefallenen Schnee wie Diamanten funkeln. Es wehte ein eisiger Nordostwind, als Anne dick eingemummelt durch die herrliche Winterlandschaft wanderte. Ihr Blick schweifte über die weiten, weißen Felder und trotz der Kälte taute ihre Lebensfreude, die seit Monaten weit unter dem Gefrierpunkt lag, beim Anblick dieser unwirklichen Glitzerwelt leicht auf.
Seit dem plötzlichen Tod ihres Mannes, der im Sommer bei einem Bootsunfall starb, hatte sie jeglichen Lebensmut verloren. Daran hatte auch das kleine Leben, das sie in ihrem dicken, unförmigen Bauch vor sich her schob, nichts ändern können.
Als Anne bemerkt hatte, dass sie schwanger war, lag der Todestag ihres geliebten Alexander schon fast zwei Monate zurück. Im Nachhinein war ihr klar geworden, dass sie die körperlichen Anzeichen einer Schwangerschaft in ihrer unendlichen Trauer nicht wahrgenommen hatte. Sie war tief erschrocken gewesen, als ihr Arzt bestätigt hatte, dass sie ein Kind bekommen würde.
Bisher hatte sie sich noch keinen Tag über das kleine Leben, das in ihr wuchs, freuen können. Es machte ihr regelrecht Angst, wenn sie an die Zukunft dachte. An eine Zukunft ohne Mann, allein mit einem Kind. Auch die Unterstützung und die aufmunternden Worte ihrer Eltern und ihrer Freunde konnten daran nichts ändern.
Der Gedanke an die Geburt und die Ungewissheit über ihr zukünftiges Leben schwebte wie ein Damoklesschwert über ihrem Kopf. Und morgen war auch noch Heiligabend. Am liebsten wäre Anne geflüchtet, - weit weg, - sogar bis ans andere Ende der Welt! Irgendwohin, wo es kein Weihnachten, keinen Kummer und auch keine unförmigen, dicken Bäuche gab.
Der kleine Funken Lebensfreude, der in Anne aufgeflackert war, erlosch, sobald ihre Gedanken wieder arbeiteten. Sie ging weiter, wollte so schnell es ihr möglich war, nach Hause zurück. In ihre Wohnung, die seit Alexanders Tod so leer war, in die sie sich aber verkriechen konnte, wenn sie nur noch ihre Ruhe haben wollte.
Die kommenden Feiertage wollte sie allein sein. Allein mit ihren Gedanken an Alexander, ohne festliches Getue. Ihre Mutter war außer sich gewesen, als sie das gehört hatte. Sie wollte Anne keinesfalls an diesen Tagen allein lassen. Sie debattierten darüber, bis sich schließlich ihr Vater eingeschaltet und gemeint hatte, wenn Anne Ruhe und Abgeschiedenheit brauche, solle sie die auch haben. Nach Weihnachten, das hatte Anne ihrer Mutter versprechen müssen, würde sie ihre Eltern, die etwa hundert Kilometer entfernt wohnten, für ein paar Tage besuchen. Die Geburt war für Ende Januar berechnet worden, dann würde ihre Mutter einige Wochen bei Anne wohnen, um sie zu unterstützen.
Als Anne zu Hause angekommen war und es sich mit einer Tasse Kräutertee in ihrem Schaukelstuhl gemütlich gemacht hatte, verspürte sie ein leichtes Ziehen im Unterbauch, das sich im Laufe des Nachmittags mehrfach wiederholte. Sie maß dem keine große Bedeutung bei, wahrscheinlich war der Spaziergang im Schnee zu anstrengend gewesen.
Doch in der Nacht wurde aus dem Ziehen ein heftiger Schmerz, der sich stetig wiederholte. Sie hielt es bald nicht mehr aus und rief bei ihren Eltern an.
"Das sind doch hoffentlich keine Wehen!", rief ihre Mutter erschrocken und beschwor Anne, sofort einen Krankenwagen zu rufen.
Eine halbe Stunde später war Anne bereits auf dem Weg ins Krankenhaus. Der Sanitäter, er stellte sich als Peter vor, sprach beruhigend auf sie ein und hielt ihre Hand, sobald der Schmerz ihren Körper durchzuckte.
"Vielleicht wird es ja ein Christkind", überlegte er lächelnd.
"Oh Gott, nein!", rief Anne entsetzt. Voller Panik sah sie den Sanitäter an. "Es ist noch viel zu früh. Es darf erst in vier bis fünf Wochen kommen."
"Ich glaube nicht, dass ihr Baby noch so lange warten will", meinte Peter, als eine neue Wehe ihren Körper durchschüttelte. "Was ist mit ihrem Mann? Fährt er hinter uns her?"
Ein Schatten legte sich über Annes Gesicht. Sie schüttelte den Kopf. "Es... es gibt keinen mehr... er ist tot...", sagte sie mit tonloser Stimme.
"Das... das tut mir Leid...", stotterte Peter und ärgerte sich, dass er danach gefragt hatte.
Anne klammerte sich an seine Hand und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. "Ich habe solche Angst..."
"Ich bleibe bei Ihnen, bis Sie im Kreißsaal sind", versprach Peter und strich ihr vorsichtig eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Diese dunklen Augen, die ihn so angstvoll ansahen, berührten auf merkwürdige Weise sein Herz.
Anne nahm nur die kalten, nüchternen Neonlampen und Peters warme, beruhigende Hand wahr, als sie durch die langen Gänge des Krankenhauses geschoben wurde. Dass er noch "Viel Glück!", rief, als sie durch die Tür des Kreißsaales verschwand, hörte sie nicht.
Es war eine lange, schmerzvolle Nacht, die Anne ihre ganze Kraft raubte. Als sie die Schmerzen nicht mehr ertragen konnte, bekam sie eine örtliche Betäubung ins Rückenmark gesetzt. Danach ging alles besser und auch schneller. Ihr Körper war nicht mehr so verkrampft und eine Stunde später durfte sie pressen.
"Gleich haben Sie es geschafft", ermunterte die Hebamme sie. "Nur noch einmal pressen!"
Ein energisch protestierender Schrei ertönte und die Hebamme lachte: "He, junger Mann, nicht so laut. Deine Mutter ist ziemlich erschöpft."
Ein winziges, klebriges Etwas, eingehüllt in ein warmes Handtuch, wurde Anne auf den Bauch gelegt. Zuerst nahm sie die leuchtend blauen Augen, die sie verwundert ansahen, wahr. Das kleine Gesicht war noch rot und faltig von den Strapazen der Geburt. Als dieses kleine Wesen gähnte und sich seine winzige Faust in den Mund schob, liefen Anne lautlose Tränen übers Gesicht.
"Es ist immer wieder ein kleines Wunder", ließ sich die Hebamme vernehmen. "Und der kleine Mann ist das erste Christkind, das heute zur Welt gekommen ist."
Ein paar Minuten später wurde Anne das Baby aus den Armen genommen, damit es untersucht werden konnte. Währenddessen wurde Anne weiter versorgt. Sie war noch völlig durcheinander und hatte noch gar nicht begriffen, dass es ihr Kind war, das sie in den Armen gehalten hatte.
Als Anne das gebadete, angezogene Bündel in den Arm gelegt wurde, der Kinderarzt ihr bestätigte, dass alles in Ordnung war und ihr alle gratulierten, weinte sie hemmungslos. Die ganze Anspannung der letzten Nacht und der Kummer der letzten Monate lösten sich mit einem Mal.
Die Hebamme half ihr, ihren kleinen Sohn an ihre Brust zu legen und als er nach einigen vergeblichen Versuchen zu saugen begann, durchzog Anne ein ungeahntes Glücksgefühl. Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden und streichelte immer wieder sanft über seinen dunklen Haarflaum. Ihr Herz quoll über vor Liebe.
"Wenn dich doch nur dein Vater sehen könnte", flüsterte sie.
"Das wird er ganz bestimmt", hörte sie ihre Mutter ergriffen flüstern, die lautlos ins Zimmer gekommen war.
"Und er wird seine schützende Hand über euch halten!", vervollständigte ihr Vater.
Anne strahlte ihre Eltern an. "Er ist das süßeste Baby auf der Welt! Meint ihr nicht auch?"
Später, als Anne allein war und immer wieder staunend in das kleine Bettchen sehen musste, spürte sie Hoffnung und Zuversicht in sich aufsteigen. Sie wusste plötzlich, dass sie es schaffen würde.
Weihnachten bekam für Anne eine ganz neue Bedeutung. Sie dankte Gott, dem Himmel und Alexander für das wertvolle Geschenk, das ihr heute beschert worden war.
Am nächsten Tag bekam Anne Besuch von einem rührend besorgten, jungen Mann, namens Peter. Und als er beim Abschied fragte, ob es sie wieder besuchen dürfe, verspürte Anne ein kleines Kribbeln im Bauch und das Lächeln in ihren Augen sagte mehr als tausend Worte.



Eingereicht am 18. April 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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