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Das letzte Geschenk

© Ellen Balsewitsch-Oldach


"Aber dieses Jahr schenkst du mir den Pelzmantel, ja, Liebling?" Yvonne fuhr sich durch die platinblonde Mähne und sah Fabian beschwörend an. Ihre Finger mit den langen künstlichen Nägeln glitten unter die Aufschläge seiner Anzugjacke. Fabian wäre am liebsten zurückgewichen, als ihr Schmollmund mit den gemalten Konturen und der perlmuttschimmernden Farbschicht sich seinem Gesicht näherte. Welchen Reiz an diesem Wesen, an dem nichts Natürliches mehr war, hatte er früher nur gefunden? Und was - außer seinem Einkommen und dem nicht unbeträchtlichen Vermögen - schätzte Yvonne eigentlich an ihm? Ihm graute davor, das Weihnachtsfest allein mit dieser Frau zu verbringen, die einer Barbie-Puppe mittlerweile ähnlicher war als einem menschlichen Wesen.
"Mal sehen", sagte er mechanisch, machte sich los und wischte sich das Gefühl ihres klebrigen Kusses von der Wange. "Ich muss los, die Patienten warten." Ein alter Scherz - Fabian arbeitete als Chefpathologe am Gerichtsmedizinischen Institut. Yvonne kicherte, den Kopf neckisch zur Seite gelegt. Mit den Fingern ihrer rechten Hand deutete sie ein Winken an und hauchte ihm ein übertrieben zärtliches "Tschauiiieee" hinterher.
Fabian hetzte den Gartenweg hinunter zu seinem Wagen. Es war schon spät und er hatte tatsächlich einen Termin im Institut. Auf der Höhe der Rhododendren wäre er beinahe gestürzt - ein Schatten aus zottigem Fell schoss aus den Büschen heraus und umklammerte kreischend Fabians Hosenbein. Zwanzig scharfe Krallen und vier spitze Eckzähne drangen erbarmungslos durch den Wollstoff in Fabians Unterschenkel. "Charlie!!!! Du Mistvieh!!!" Fluchend löste er Pfote für Pfote von seinem Knöchel und hielt das Bündel am Nacken gepackt auf Armeslänge vor sich hin. "Du Untier - wann wirst du dich endlich benehmen wie ein normaler Kater?!" Fabian schüttelte das strampelnde Geschöpf, das jetzt zu sich kam und nur noch kläglich maunzte. Wütend warf er den grauen Perser in den Schnee. Mit einem starren Blick aus gelben Augen duckte Charlie sich wieder unter die Büsche. Fabian untersuchte seine Wade. Im Institut musste er die Schrammen unbedingt sofort desinfizieren. Die Hose hatte glücklicherweise nur wenig abbekommen. Verstimmt stieg Fabian ins Auto.
Charlie, dachte er ... Charlie war auch ein Weihnachtsgeschenk gewesen. Yvonne hatte so lange geschmeichelt, bis er das Katzenbaby bei der Züchterin gekauft und ihr in einem Geschenkkarton mit Luftlöchern und einer großen Seidenschleife unter den Weihnachtsbaum gelegt hatte. Damals schon war ihm klar, dass Yvonnes Wunsch keineswegs ihrer besonderen Liebe zu lebendigen Wesen entsprungen war, sondern der Neid erregenden Tatsache, dass ihre Freundin sich eine kostspielige Perserkatze mit Stammbaum angeschafft hatte. Doch damals glaubte Fabian noch, das wuschelige Geschöpf könne in Yvonne vielleicht etwas Zuneigung und Wärme wecken. Aber es kam anders.
Von dem Augenblick an, als Charlie aus dem Karton geklettert war, gab es nicht einen friedlichen Moment. Für einen Perserkater war er ungewöhnlich lebhaft und mobil. Er zerwühlte Yvonnes sorgsam gebügelte Seidenunterwäsche im Schrank und zerkaute genussvoll ihre Kaschmirpullover. Er versuchte, die zarten Designergardinen im Wohnzimmer hinauf zu klettern, die - natürlich - unter seinem Gewicht zerrissen. Vom obersten Bord des Wohnzimmerschranks sprang er der ahnungslos vorbeigehenden Yvonne in den Nacken. Im Grunde tat er nichts anderes als jedes Katzenkind in seinem Alter. Aber Yvonne hatte keinerlei Verständnis für sein Wesen. Anfangs beklagte sie sich jeden Abend über Charlies neueste Missetaten, später beantwortete sie Fabians Fragen nach dem Kater nur noch mit einem unwilligen Schulterzucken.
Besonders ungern erinnerte sich Fabian an den Abend, an dem Charlie verschwunden war. Nach Stunden entdeckte er ihn - ganz hinten unter dem Bett im Gästezimmer, das Fell klatschnass. Yvonne behauptete standhaft, es sei nichts Besonderes vorgefallen. Schließlich aber gestand sie, dass sie versucht hatte Charlie in der Badewanne zu ertränken. "Den ganzen Tag hat er mich bloß angestarrt, mit diesen gelben Augen - oh, Mann, ist mir das auf die Nerven gegangen", hatte sie gesagt.
Eigentlich war es ganz logisch, überlegte Fabian, dass Charlie sich zu dem hochneurotischen Hausgenossen entwickelt hatte, der er heute war. In der letzten Zeit hielten sie ihn fast nur noch im Garten, denn seine Überfälle, früher ein Spiel, nahmen immer gefährlichere Formen an - ganz abgesehen davon, dass er nicht aufhörte, seine Geschäfte mit Vorliebe in Wohn- und Schlafzimmer zu verrichten. Ansonsten saß Charlie meist nur lethargisch herum und ließ keinerlei Lebensfreude erkennen. Trotzdem hatte Fabian sich bisher nicht durchringen können, den unglückseligen Kater einschläfern zu lassen. Irgendwie empfand er Achtung vor dem eigenwilligen Lebewesen.
Am Abend kehrte Fabian erschöpft nach Hause zurück. Yvonne öffnete ihm die Tür und begrüßte ihn überschwänglich. Sofort hatte er das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. "Was ist los?" fragte er barsch. Groß und unschuldsvoll sahen ihn Yvonnes blaue Augen an. "Nichts, Liebling, wieso?" Fabians Unbehagen nahm zu. "Irgendetwas ist doch wieder?" Yvonne wandte sich ab, ein bisschen zu schnell. Und ein bisschen zu leise kam ihr ausweichendes Nein. Es war genau die Art von Katz-und-Maus-Spiel, die in letzter Zeit immer häufiger vorgekommen war, zum Beispiel als Yvonne auf seine Rechnung heimlich eine sündhaft teure Vitrine für ihre Sammeltässchen gekauft, oder als sie ihren Sportwagen bei einem waghalsigen Überholmanöver zu Schrott gefahren hatte. Bisher war Yvonne nach einigem Hin und Her doch immer mit der Sprache herausgerückt. Heute aber ... Yonne war nicht zu bewegen, etwas zu sagen. Langsam wurde Fabian ärgerlich - vor ihm saß das personifizierte schlechte Gewissen, wurde immer blasser, behauptete aber steif und fest, es sei alles in bester Ordnung. Fabian hielt die Situation nicht mehr aus - er musste an die Luft. Heftig riss er die Terrassentür auf und trat hinaus in die Dunkelheit - auf etwas Weiches, Regungsloses. Er beugte sich hinunter und fühlte langes, zottiges Fell. Mit kundigen Händen tastete er das Bündel ab. Charlies Genick war gebrochen.
Als Fabian sich wieder umwandte, war sein Gesicht weiß vor Zorn. "WAS IST PASSIERT?" Mit trockenem Schluchzen schlug sich Yvonne die Hand vor den Mund. "Es war ein Unfall", jammerte sie, "bitte glaub' mir ..." - "Warum denkst du, ich könnte dir nicht glauben - noch hast du mir ja nicht mal erzählt, was geschehen ist!" Yvonne blickte zu Boden. "Ich wollte ... also, ich habe ...", stammelte sie, immer noch auf den Teppich starrend, "also, ich bin ins Auto gestiegen und losgefahren ... und Charlie ist mir genau unter die Räder ..." - "Und du hast ihn natürlich nicht gesehen - oder konntest du einfach nicht mehr bremsen?" - "Nein, also ... ich meine, ich musste zurücksetzen - und wie kann ich da sehen, dass ... und überhaupt - ich bin froh, dass das Biest endlich tot ist!" Aufsässig wie eine Dreijährige starrte Yvonne ihn plötzlich an. Fabian fühlte sich wie gelähmt. Charlie, von einem Porsche Boxster überrollt - trotzdem keine Quetschung, keine gebrochene Rippe - nur ein glatter Genickbruch? Aber eigentlich war es auch egal, ob und wo in all diesen Widersprüchen irgendein Körnchen Wahrheit lag. Er spürte nur noch eins: er war am Ende, am Ende mit seiner Geduld Yvonne gegenüber, am Ende mit dieser Beziehung, in der es immer weniger Lebendigkeit und Aufrichtigkeit gab und in der Yvonnes Gefühle nur noch von materiellen Werten bestimmt wurden. Weihnachten - wie sollte er dieses Fest zusammen mit Yvonne überstehen? "Lass' es gut sein", sagte er müde, als er den Raum verließ.
Schließlich war der 24. Dezember herangekommen. Yvonne hatte den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer schon am Abend zuvor mit einer glitzernden Pracht aus Schleifen und Kugeln im aktuellen Himmelblau überladen. Überrascht sah sie Fabian morgens in seinen Mantel schlüpfen. "Ich muss heute noch zum Institut - zwei entscheidende Obduktionen", murmelte er abwesend, dann sah er sie an, "aber damit dir der Tag nicht so lang wird, liegt unter dem Weihnachtsbaum schon ein Paket für dich ..." Er griff nach seinem Aktenkoffer, streifte Yvonnes Wange mit einem flüchtigen Kuss und war verschwunden.
Kaum war die Haustür ins Schloss gefallen, hastete Yvonne zum Weihnachtsbaum. Hatte sie Fabian tatsächlich dazu gebracht, ihr ihren größten Wunsch zu erfüllen? Das Paket hatte zumindest das passende Format! Mit fahrigen Fingern riss sie das Geschenkpapier vom Karton und entfernte den Deckel. Der Inhalt war noch einmal in Papier verpackt. Darauf ein Brief. "Erst lesen!" stand in großen Buchstaben darauf. Ungeduldig nestelte sie den Briefbogen aus dem Umschlag.
"Yvonne", las sie dort in Fabians Handschrift, "hier hast du nun, was du dir am meisten wünschst, aber - es ist auch das letzte Geschenk, das du von mir bekommen wirst - ich werde heute aus dem Institut nicht zurück kommen, ich werde überhaupt nicht mehr zurück kommen. Ich kann mit dir nicht mehr zusammen leben.
Mein Geschenk wird dich vielleicht überraschen - ich hoffe aber, dass du es eindrucksvoller findest als den Sportwagen, die Luxuskreuzfahrt und all das Andere in den vergangenen Jahren ..."
Verwirrt warf Yvonne den Brief zur Seite und wühlte sich durch die Verpackung. Ihre Finger griffen in den weichen Pelz eines voluminösen Mantels. Für einen Moment vergaß sie Fabians Abschiedsworte. Sie warf sich die schmeichelnde Hülle über die Schultern und lief zur Garderobe.
Reglos stand sie vor dem großen Spiegel. Der Mantel umfloss ihre schlanke Gestalt flauschig und silbergrau. Er gab ihr das Aussehen einer Prinzessin. Aber ihre Augen sahen nur den Mantelkragen: auf der rechten Seite bedeckte ein buschiger Schwanz zwei herunterbaumelnde Hinterpfoten. Und auf der linken Seite starrten sie zwischen den Vorderpfoten hindurch aus einem grauen, pelzigen Gesicht zwei gelbe Augen an - mit dem gleichen unergründlichen Ausdruck wie früher.



Eingereicht am 13. April 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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