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Aufklärungsunterricht

© Wolfgang A. Gogolin


Im Prinzip werden wir Schneeflöckchen nicht anders hergestellt als meine Freunde, die Regentropfen. Unsere Wiege steht weit oben in der höheren, eiskalten Atmosphäre. Wassertröpfchen gefrieren an kleinen Kernen. Diese Kerne sind winzige Verunreinigungen aus der Luft. Daraus bildet sich mein erster Eiskristallkern.
Ich bin den Menschen dankbar, weil ich ohne Staub und Rußpartikel nicht geboren werden könnte. Also liebe Menschen, seid weiterhin so schmutzig, sonst könnt ihr euch im Winter nicht über mich freuen und mit mir spielen. Auf der Reise durch die Wolken friert immer mehr Wasserdampf an meinem Eiskristall fest, so dass ich mit der Zeit zu einem ansehnlichen Schneeflöckchen heranwachse. Wie alle meine Geschwister habe ich eine sechseckige Grundform. Ansonsten sind wir völlig verschieden ...
Geräuschvoll klappte Sophie das dicke, bunte Kinderbuch zu. Jeden Abend las sie ihrer Tochter mindestens eine schöne Geschichte zum Einschlafen vor. "So, Carla, jetzt wird es aber Zeit", sagte sie nachdrücklich. Die fünfjährige Tochter war wieder einmal nicht zum Schlafen zu überreden. "Wenn du schön schnell einschläfst, erzähle ich dir morgen, wie eine Schneeflocke ihr kurzes Leben hier auf der Erde verbringt", versprach Sophie ihr leise.
Die Geschichte von der Schneeflocke war bereits die dritte Zugabe und so langsam sollte Carla wirklich schlafen. Die Nachttischlampe tauchte den Raum in warmes gelbliches Licht. Carla schien mittlerweile ausreichend müde zu sein. Sophie hob die Bettdecke an und schüttelte sie auf. Sie gab dem einschlafenden Engel einen Kuss auf die Stirn und knipste die Lampe aus.
Sophies Ehemann Alexander saß im Wohnzimmer vor einem Glas Rotwein und blätterte in einer Motorrad-Zeitschrift. An diesem Tag vor Heiligabend zeigte sich das Wetter von seiner unfreundlichen Seite. Schneidender, eisiger Wind fegte um die Ecken. Sophie betrat das Schlafzimmer und öffnete ein Fenster, um für die Nacht zu lüften. Es roch nach Schneeluft.
Die kahle Birke vor dem Schlafzimmerfenster bog sich im Wind. Ein leichtes Frösteln ging durch Sophies Körper.
Plötzlich umfasste Alexander von hinten ihre schlanke Taille. Sophie zuckte überrascht zusammen, aber seine Umarmung tat gut, sie genoss die wohlige Wärme.
"Siehst du? Es fängt ein wenig zu schneien an", flüsterte er. Obwohl Sophie aus dem Fenster geschaut hatte, war ihr der erste Schnee in diesem Jahr nicht aufgefallen. Winzige Schneeflocken fielen tänzelnd herab. Sie schaute in den Himmel, inzwischen trieben immer mehr Schneeflocken umher, ihr wurde beinahe schwindelig vom Reigen in der Luft. Die unausgesprochene Hoffnung auf eine weiße Weihnacht ließ beide lächeln.
"Weißt du, welche Geschichte ich Carla vorgelesen habe?" fragte Sophie ihren Mann zärtlich.
"Mmmh", brummte Alexander langsam, sie fester umschlingend.
"Weißt du, dass Schneeflocken einen schmutzigen Kern haben und nur dann geboren werden, wenn jemand Schmutz macht?"
"Mmmh", brummte Alexander schon wieder, "das ist bei den Menschen genauso", und hauchte einen Kuss in ihren Nacken. Immer intensivere Küsse ließen keinen Zweifel daran, dass sie in dieser Nacht nicht frieren würde.
Sie drehte sich um, schaute ihrem Mann in die Augen und sah darin wieder diesen Wunsch nach einem zweiten Kind aufflackern. Sophie und Alexander hatten schon oft darüber gesprochen, dass Carla kein Einzelkind bleiben sollte und Alexander meinte spitzbübisch, dass die erste Schneenacht in diesem Jahr ideal wäre, um einen Helden zu zeugen.
Das geöffnete Fenster spielte für die beiden keine Rolle mehr. Klare, winddurchdrungene Luft ließ glitzernde, immer größere Schneeflocken lustig umhertanzen.
Das Liebespaar wogte in leidenschaftlichen, samtigen Gefühlen, zerschmolz darin. Warme, weiche, vertrauensvolle Liebe. Wie ein Becher heißer Schokolade, der sich danach sehnt, voller Genuss und bedächtig getrunken zu werden.
Mit ein wenig mehr Aufmerksamkeit für den Zauber der bevorstehenden Weihnacht hätten die Liebenden vielleicht ein leises Kichern gehört. Ein verhaltenes Raunen, kurz vor der Wahrnehmungsgrenze des menschlichen Gehörs, kam aus Richtung der Birke, die sich im Wind bog. "Siehst du, ich habe es dir gesagt" sagte die dicke erfahrene Schneeflocke zu ihrer Schwester, "die Menschen sind irgendwie eklig, sie machen Wärme". Das andere Schneeflöckchen lag unbeholfen auf dem kahlen Birkenast.
Der gesamte beleuchtete Innenhof schien zu wispern, viele helle Stimmchen bildeten ein fröhliches Konzert. Die dicke Schneeflocke raunte "Weißt du, das Schlimmste ist, wenn du auf einen Menschen fällst, dann bist du in Nullkomma nichts getaut, also gib gut Acht auf dich".
Beide Schneeflocken schauten Alexander und Sophie interessiert durch das offene Fenster zu. "Die Menschen fallen nicht vom Himmel und sie werden viel älter als wir, so viel weiß ich genau. Ich habe diese beiden schon viele Male beobachtet, aber ich habe noch nie gesehen, wie sie sich in Wasser aufgelöst haben. Dabei bestehen sie hauptsächlich aus Wasser, das kann man fühlen."
Die erfahrene Schneeflocke machte ein verdrießliches Gesicht, "aus warmem Wasser" setzte sie angewidert hinzu. "Im letzten Jahr haben sie hier auch aufeinander gelegen. Stell dir vor, die beiden kleben schon fast ein Jahr so zusammen. Dabei versperrt es doch die Sicht, wenn man so dicht übereinander liegt." So sah es das andere Schneeflöckchen auch, denn gerade plumpste ein Neuankömmling, eine besonders dicke Schneeflocke, auf sie.
"Geh weg, du dickes Monster" rief die kleine Schneeflocke erbost und schüttelte sich. Die riesige Schneeflocke machte sich breit und wollte gerade unverschämt werden, doch eine Windbö erfasste den dicken Tyrannen. Die Monsterschneeflocke landete auf dem Gehweg und Westhighlandterrier "Willy", der mit seinem Herrchen unterwegs war, machte aus dem weißen Tyrannen einen gelben Tyrannen.
"Siehst du, jetzt liegen sogar ihre Gesichter aufeinander und sie haben auch noch Wasser in ihrem Mund." Angeekelt schüttelte sich das kleine Schneeflöckchen, erstaunt von den Dingen, in denen es vom älteren Geschwisterchen unterwiesen wurde. "Ich habe bisher noch nicht herausbekommen, warum sie so fest und so lange aufeinander kleben," murmelte die ältere Schneeflocke, sichtlich bemüht, irgendwann einmal diese Wissenslücke zu füllen. "Aber nicht alle Menschen kleben aneinander, es gibt auch Einzelexemplare", dozierte die kluge Schneeflocke, als eine neue Windbö durch die Wohnanlage fegte. Die Birke stemmte sich mit aller Kraft dem Wind entgegen, allerdings wurden beide Schneeflocken vom nächsten Windstoß ins Schlafzimmer geweht. Die erfahrene Schneeflocke landete auf Sophies Stirn. Sophie quiekte. Das unerfahrene Flöckchen schaffte eine Punktlandung auf dem Po von Alexander. "Ich kann es sehen, ich sehe es" rief es aufgeregt seinem bereits wässrigen Geschwisterchen zu.
"Das obere Menschenwesen hat ein kleines Heizstäbchen und deshalb ..."
Alexander löste sich widerwillig von seiner Frau, stand auf und schloss das Fenster. Danach schlüpfte er wieder zu ihr unter die Bettdecke. Er nahm ihre Hand und sie wussten, dass heute eine ganz besondere Nacht war. Auch die beiden Wassertröpfchen bereiteten sich auf den Beginn eines neuen Lebenszyklus' vor, indem sie langsam verdampften und gen Himmel schwebten.
Carla war aufgestanden und in ihrem Nachthemdchen zum Fenster gegangen, um die Stimmung dieser wundersamen Schneenacht zu bewundern. Wie feiner Diamantstaub hatte sich eine glitzernd-weiße Pracht auf den Garten gelegt.
Alexander, Sophie und die dampfenden Wassertröpfchen bemerkten, wie leise Töne aus dem Kinderzimmer kamen und hörten Carlas Stimmchen zu. Sie sang ein wenig ungelenk und leise, doch ihre Worte waren zu verstehen:
Schneeflöckchen, Weißröckchen, da kommst du geschneit,
du kommst aus den Wolken, dein Weg ist soweit.
Komm setz dich ans Fenster, du lieblicher Stern,
malst Blumen und Blätter, wir haben dich gern.
Schneeflöckchen, du deckst uns die Blümelein zu,
dann schlafen sie sicher in himmlischer Ruh´.



Eingereicht am 05. März 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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