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Singlebummel

© Maria-Luise Kleineberg


Der frostige Gehweg spiegelt ihre frostige Stimmung wieder. Auch der lebensgroße Rauschgoldengel am Eingang vom "Kaufrausch" wirkt auf sie wenig einladend, eine Second Hand Ausgabe wie der ganze Laden. Zwanzig Jahre lang als Stammkundin zwischen nostalgischem Plunder und dem Geruch von Mottenkugeln ist ihr dieser "Arme-Leute-Duft" vertrauter als der Duft ihrer eigenen Haut. Ihr Hippielook hielt all ihren Entwicklungsschritten stand. Das einzig Verlässliche in ihrem chaotischen Leben ist ihr chaotischer Kleidungsstil - ein Mix aus Madame Pompadour und Prusselliese.
Missmutig stampft sie in ihren Väterchen-Frost-Stiefelchen vorbei an kunstvoll bestickte Folkloreblüschen. Wie soll sie ihren Cup D darin platzieren? Ebenso reichen die grell bunten Stricktops der 70 er Jahre gerade als Brustleibchen. Pailletten bestickte Overalls, Schlaghosen, Röhrenjeans und Stretchkleider locken mit Leuchtziffern in Pink zum Schleuderpreis; ein Angebot für den schmalen Geldbeutel und für die schmale Taille. Sie tröstet sich mit Bildern von Fernsehauftritten erfolgreicher Pfundsfrauen wie Marianne Sägebrecht, Montserrat Caballe, Joy Flemming und Hella von Sinnen. Wie von Sinnen eilt sie zielstrebig auf den Ständer mit afrikanischen Kaftanen zu, deren farbig gebatikte Muster traumatischer Geschmacklosigkeit vom Kartoffelsackeinheitsschnitt in Dreimannzeltqualität ablenken.
Sie bleibt sich treu und wählt zwei dieser Ungetüme, ohne der Anstrengung des Ankleidens in eine dieser brutal Neon beleuchteten engen Kabinen ausgesetzt zu sein.
Sämtliche Verzerrspielgel der Kirmesschausteller des Landes scheinen sowohl von Kaufhäusern, Boutiquen und Second Hand Läden aufgekauft zu sein. Es ist ihr rätselhaft, wie es bei einem Blick in diese Schneewittchenorakel zu einem Kleiderkauf kommen kann. Selbst das magersüchtige Topmodel Twiggy muss sich beim Blick in Umkleidekabinenspiegel als Verwandte des Altkanzlers mit dem Völlegefühl von Saumagen mutieren.
Ihr Magen knurrt. Sie weiß nicht, ob vor Hunger oder Ärger. Beim Geruch von gebrannten Mandeln, gepanschtem Glühwein und mager belegter Pizza, die sich in ihrem eigenen Fett zu ertränken droht, ignoriert sie die Gretchenfrage. Gierig beißt sie in eines der Nürnberger Rostbratwürstle, die in ihrem Mini-Format unschuldig den Snack für zwischendurch vorgaukeln; jede Kalorie beim Biss verbrannt wie des Würstchens halb verkohlte Pelle.
Ein Gezapftes und der Klare wärmen sie nicht, auch nicht der klebrige Glühwein, der nur mit einem Grog als Nachtrunk erträglicher wird. Sie sieht strahlende, frohe leuchtende Kinderaugen, kleine Hände in Fausthandschuhen fest geklammert an rosa Ponys, Dinosaurier mit Bambiaugen und blinkenden Feuerwehrautos. Alles dreht sich, doch nicht bei ihr. Es ist das Karussell, das sich unablässig unermüdlich zur Melodie von "Jingle Bells" um sich selbst dreht.
Kleine Prinzen und Prinzessinnen werden gegen den Lauf von Unabänderlichkeit und einem kleinen Sterben zum Trotz in ihrer Realität des Augenblicks im Handumdrehen erhöht.
In jede ihrer Umdrehungen sind sie Prinzen und Prinzessinnen; nur manchmal mit Bescheidenheit ein Feuerwehrmann.
Sie träumt sich beim Zusehen in ihre Kinderwelt und wünscht sich ihren eigenen Auftritt als Prinzessin, schön, selbstbewusst und bewundert in einem sündhaft teuren Kleid mit dem Duft der großen weiten reichen Welt. Die Zigarette schmeckt bitter und rauchig. Die eisig klare Luft reizt beim Einatmen zum Husten. Das klingt so gar nicht nach "Jingle Bells", vielmehr nach der Imitation einer Rocklegende.
Ihre Väterchen-Frost-Stiefel sind vom Schnee durchgeweicht und die Füße schmerzen bei jedem Schritt ihres Eisvogellaufs. Eisblau glitzern künstliche Schneekristalle hinter Schaufensterscheiben. Auffällig poppig geschminkte Schaufensterpuppengesichter blicken aus leblosen Augen. Mit knirschendem Schritt gehen die Väterchen-Frost-Stiefel über die Schwelle in eine andere Welt.
Die Verkäuferin im fliederfarbenen Taillenkostüm mit Schößchen starrt sie mit entsetzten weit aufgerissenen Augen an, wie die Augen ihrer Schaufensterpuppen. Davon wenig beeindruckt lächelt sie siegessicher hinter ihrem orangefarbenen Brillengestell dem Fliederkostüm zu. Die Plastiktüten mit der Kaufrauschkollektion schmerzen an ihrem Handgelenk. Sie verschwindet zielstrebig in eine der Kabinen.
"Fräulein, Fräulein, so geht das hier aber nicht! Was machen sie denn da?" Das Businesskostüm zerrt den Vorhang auf und blickt ungläubig in ein Cup D Dekolletee.
"Können se nicht anklopfen? Ick denke, dat is hier nen Nobelschuppen? Bringen se mir mal dat Feinste und Teuerste wat se so auf der Stange haben."
"Meine Verehrteste! Ich glaube kaum, dass etwas für sie dabei ist!" Ihr Chanel No 5 Duft kann das Mottenkugelaroma in der Kabine nicht leugnen.
"Größe 44, aber bitte keene Spaghettiträger und nix in weiß, dat macht so blass. Nun machen se Mal. Ick wollt hier nicht überwintern."
Das Kostüm stakst kopfschüttelnd davon. "Vivaldis Frühling", der dezent aus dem Lautsprecher erklingt, verfängt sich fliehend im Flieder ihres Stoffes. In ihrem starren Gesicht fügen sich die Äderchen unter ihrer Pudermaske zur "Winterreise", komponiert von einem schwermütigen Schubert.
"In Größe 44 wird die Auswahl natürlich eng. Wir haben selten Kundinnen mit solch einem Format". Ihre Augen gleiten verächtlich, sich in orange farbenen Brillengläsern reflektierend, hinunter zu den Väterchen-Frost-Stiefel. Das Kleid hängt sie mit großem Widerwillen resignierend an den Kabinenhaken.
Dann schließt sich der Vorhang. Das Frühlingsflieder entfernt sich eilig, um in Erwartung des Grauens aus sicherer Entfernung gebannt auf den Samtvorhang zu starren.
"Ick bin ja een janz neuer Mensch wa?" Über bunt geringelte Wollstrümpfe rauscht ein Traum von Ballkleid aus dem schweren Samt. Creme, goldbraun mit einer Spur von Lachstupfern schimmert in unwirklichem Glanze das Werk eines begnadeten Modegenies.
"Ick bin ja een janz neuer Mensch!" Ihrem Entzücken folgt ein lautes Jauchzen und mit gerafftem Rock eine Polka durch den Laden. Sie lacht, jauchzt, dreht sich und wirbelt bis sie ein leiser Beifall jäh zum Enden bringt. Sie hat die Ladenglocke überhört und schaut verschämt in das Gesicht eines älteren Herrn.
"Tschuldigung" stammelt sie und die naturfarbene Märchenstoffkomposition verschwindet mit ihr hinter dem Kabinenvorhang.
Die Plastiktüten unter dem Arm, die Stiefel an den Füßen, stürmt sie versunken in ihren Mantelkragen aus dem Laden. Ein letzter Blick schaut auf eisblaue Schneekristalle, die sich in leblosen Augen von Puppengesichtern wieder finden.
"Gnädige Frau, ich bitte sie, so warten sie doch." Eine sonore Männerstimme dringt an ihr Ohr. Sie schaut sich verdutzt um. Es ist der älter Herr aus dem Laden. Zögerlich geht sie mit gesenktem Kopf auf ihn zu. Lächelnd reicht er ihr eine große Schachtel aus der verdächtig ein creme - goldbrauner lachs getupfter Zipfel schaut. "Gnädige Frau, bitte nehmen sie! Es ist ihr Kleid!" Der ergraute Herr lächelte gütig. "Aber wieso? Ick hab für So was gar keen Geld, wollte nur mal im Leben so nen teuren Fummel tragen, verstehn se?"
Der Mann schmunzelt wissend. "Ja, ich habe es entworfen und keine meiner teuren, schönen Modells hat es so würdig getragen wie sie in ihrer unbändigen Freude über meine Schöpfung. Ich schenke es ihnen. Es hat all die Jahre auf sie gewartet und ihre bunt geringelten Wollstrümpfe. Verschmitzt lächelnd verschwindet er und hat kaum ihr gehauchtes "Danke" gehört.



Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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