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Schlitten, geschlitterte

© Susanne Weinhart


Es hätte anders laufen können. Rasanter, geschmeidiger, sanfter, seliger. Die Gelegenheit war günstig, das Lametta aufgehängt. Doch die Kufen waren nicht gewachst, die Steine nicht aus dem Weg geräumt und graue Schneemänner säumten den Weg, lenkten mich ab und zeigten grinsend in Schluchten. Gegen graue Schneemänner ist kein Kraut gewachsen (eine graue Schneefrau fiel mir erst zuhause ein).
Mit jedem aufsteigenden Schritt rieselte zuckriger Pulverschnee in unsere klammen Siebenbergestiefel, die Schlitten : anstupsende Krokodile, die gegen Fers` und Stein rumpelten. Simon, rot-daunig, rief in die eiskalte Nacht hinaus: "der EU-Gipfel in Nizza!". Politik am Stil nannte ich das, er gab mir - hüstelnd - Recht und ein gut durchdachtes Salamibrot.
Es gibt nichts Schöneres, als bei 1400 Meter über Null und 15 Grad unter Null in Jacques Chiracs Agrarpolitik zu schwelgen. Das war mir klar.
Gerade an Heiligabend hat das seine Reize.
Fäustlinge anziehen, echoten unsere Fingerspitzen. Fäustlinge anziehen.
Unter uns Unterammergau, weihnachtlich illuminiert, wir blieben stehen, hielten uns an der Hand und meinten, aus der Dorfkapelle einen Knabenchor zu hören, Schneepolster hingen wie bauchige Notenschlüssel in den schwarzen Tannen. Ich schluckte, Tee und den christbaumkugelgroßen Weihnachtskloß im Hals. Sprechen - unmöglich.
Norwegerpulliwarme Gedanken legten sich auf den mütterlichen Lichterteppich und versanken geborgen wie niedergebrannte Dochte im Wachs.
Weitergehen, pochten unsere Eiszehen. Weitergehen.
Dann lange Zeit nur Wald, der Weg so breit wie eine Fahrstraße. Keine Fußspuren. Kein Mensch. Waren wir denn noch Menschen? Ja, wir redeten über Politik, alles in Ordnung also. Genauer: Simon redete, ich keuchte zweifelnd und hielt mehr Ausschau nach der Pürschlingshütte als dem "Haus Europa", das Simon als bebende Fata Morgana in großen Atemwolken aushauchte. Die genannten Politikernamen, durchwegs männlich und ohne großen geistigen Aufwand mit Finanzdelikten und Vakuumreden in Verbindung zu bringen, machten selbst die weißesten Schneekristalle brüsselgrau.
Wir kamen als schwitzendes, knirschendes Gespann (auf den Schlitten schienen ein paar politisch interessierte Waldkobolde Platz genommen zu haben, sie wurden immer schwerer und störrischer: "Du ziehst bestimmt Hans-Kobold Eichel...") an einer winzigen, verschlossenen Marienkapelle vorbei, an deren makelloser Fassade ein fast leerer Meisenknödel baumelte. "Was ist das denn?", fragte Simon sogleich enthusiastisch(Berliner Wissenschaftler aus Überzeugung). "Futter für deine Polit-Meise", sagte ich und tippte ihm liebevoll gegen die Stirn. Drei rote, vor der Madonna aufgebahrte Grablichter züngelten hektisch und hatten Löcher in den Schnee gefressen. Die Hütte in Reichweite, in Schneeballweite. Ein Seufzer war erlaubt. Der Zenit war erklommen und - Weitergehen, pochten unsere Wangen. Weitergehen.
Jeder hatte seinen Schlitten, auch das konnte zu denken geben. Aber an einem Dezemberabend auf dem Berg zur heute-journal-Zeit denkt man generell nicht mehr viel, oder man denkt wie Simon an Chancen und Risiken der internationalen Politik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der EU oder wie ich an ausgepresste Orangen und explodierte Geschenke, klopft sich den hartnäckigen Schnee von den Hosenbeinen und wünscht blaulippig Hals- und Beinbruch. Runter kommen sie alle, und lenken muss man allein. Und noch mal den Schal lassolässig um den Hals geworfen, bevor die Tiefe die Kufen zu fressen beginnt.
"Dann geht's bergab!"
Wir saßen auf unseren Schlitten, noch zügellos. Die erste Kurve fletschte schon perlweiße Zähne und tote Wurzeln, sauberer 45°-Winkel ...
Ich sah ihn prüfend an.
"Solange du das nicht metaphorisch meinst ...", lachte Simon und warf mir einen Schneeball gegen den Rucksack.
"Dein Schlitten heißt Devil´s Dance, das gibt zu denken ..."
"Keine Sorge, so höllisch wird's schon nicht werden. Also los?"
"Also los."
Los/Schicksal. 6 aus 49.
Eine Tippgemeinschaft rast dem Tal zu.
Am Parkplatz im Tal stiegen wir in zwei Autos und fuhren nach Hause, er nach Berlin, ich nach München. Simons Schlitten war bei 900 Höhenmetern an einer gefällten Lerche in drei Teile zersprungen, den Rest trabten wir mit hochgeschlagenen Krägen zu Fuß ins Tal. Es sah aus, als kämen wir vom Gaißacher Hornschlittenrennen oder vom Holzklauen. Oder als würde Simon ein Geweih aus dem roten Daunenbauch wachsen. Aber niemand sah uns, und wir sahen uns auch nicht.
Ein Ros' war in diesen Breiten nicht entsprungen. Der grüne Daumen trug Fleecefäustlinge.
Der Schnee war erst im Auto geschmolzen, das Eis tat es gar nicht.
Und das Lächeln war unterwegs ausgerutscht.
Weiterfahren, klopften meine Finger. Weiterfahren.
Nach Bethlehem ist es noch so weit.



Eingereicht am 14. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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