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Der Alte

© Anatufila


Die drei Jungen hatten sich auf dem Markt getroffen. Das taten sie immer, auch heute, am Mittag des Heiligen Abends. In ihren Familien gab man nicht viel um Kirche und Gott. Es würde wohl Würstchen mit Kartoffelsalat und danach ein paar Geschenke geben. Ihre Eltern würden sich dann aufs Sofa setzen. Eine halbe Stunde würden sie sentimentale Lieder singen. Dann würde der Fernseher eingeschaltet. Bier und Schnaps würde die Eltern schon bald unausstehlich machen. Es war also fast ein Tag wie jeder andere in jeder der drei Familien.
Die Jungen lungerten an der Siegessäule herum, standen einfach nur da, schauten den Leuten beim Einkaufen zu. Ein Alter in Begleitung eines großen, zotteligen Hundes erweckte ihr Interesse. Der Hund trug ein Gestänge auf seinem Rücken, das der Mann sicher in der Hand hielt. Daraus schlossen sie, dass er blind war. Seine speckige Felljacke, die ausgebeulte Hose und verdreckte Schuhe ließen seine Obdachlosigkeit erahnen.
Die Jungen beobachteten, wie der Alte sich seinen Weg durch die einkaufswütige Menge bahnte. Er steuerte auf den Studenten zu, der an der Ecke des Marktes Tannenbäume anpries. Zaudernd trat der Blinde zwischen die gelichteten Reihen. Der Student glaubte wohl, dass er sich nur verlaufen hätte. Als aber der Alte keine Anstalten machte, um wieder aus dem Geviert heraus zu kommen, ging er auf ihn zu. Die drei Jungen konnten nicht verstehen, was dort gesprochen wurde. Sie sahen aber, wie der Verkäufer dem Alten ein kleines, windschiefes, an einigen Stellen schon entnadeltes Bäumchen entgegenhielt. Der Alte kramte ein paar Münzen hervor, worauf der Student ihm Wechselgeld zurückgab. Bei dem Gedanken, dass man dem Blinden ein solches Gestrüpp andrehen konnte, prusteten die Drei vor Lachen. Nachdem das Bäumchen zum besseren Transport mit einem Band umwickelt war, zog der Blinde weiter. Die neugierigen Jungen folgten ihm.
Der Obdachlose schlurfte zum Städtchen hinaus, wanderte den leicht ansteigenden Weg hinauf, bis zur Kapelle. Dort, unter dem weit überhängenden Dach, musste er seinen Schlafplatz haben. Vom rechten Ende des Daches hing ein grauer Lappen herab, der ein wenig den Wind abhielt. Auf dem Boden lag dichtes Stroh, darauf so etwas wie eine Decke. Unterhalb eines Fensters stand eine leichte Futterkrippe für das Wild. Daneben hing ein Vogelhaus von dem niedrigen Dach herunter. Die hungrigen Meisen ließen sich durch die Anwesenheit von Mensch und Hund nicht vertreiben. Der Mann stellte das Bäumchen in die entfernte linke Ecke seiner offenen Heimstatt. Er mühte sich sehr, um ihm mit aufgeschichteten Steinen und Erde einen sicheren Halt zu bieten.
Die Jugendlichen hatten sich hinter einem Strauch versteckt, um die Szenerie trotz der hereinbrechenden Dunkelheit betrachten zu können. Der Obdachlose hatte sich auf das Stroh gesetzt. Aus einem Fettpapier wickelte er einen großen Knochen für den zotteligen Hund heraus. Für sich selbst entnahm er einer weiteren Tüte einen Hähnchenschenkel und ein Stück weißes Brot. Anscheinend hatte eine mildtätige Organisation umsichtig für sein Weihnachtsgeschenk gesorgt. Der Hund knurrte einige Male in Richtung der heimlichen Beobachter, ließ sich aber nicht von seinem Knochen abbringen. Den Alten störte es nicht.
Nachdem er aufgegessen und ausgiebig mit der Zunge geschnalzt hatte, stand er auf. Er schlurfte zur Krippe, um das Heu behutsam darin zurecht zu drücken. Dann blickte er zum Himmel, als ob er trotz seiner Blindheit etwas darin erkennen könnte. Er nickte, ging auf den spärlichen Weihnachtsbaum zu. Er zog ein dünnes, rotes Kerzchen hervor, mühte sich mit seinem Feuerzeug ab und brachte es tatsächlich zustande, diese eine Weihnachtskerze an dem Baum zum Leuchten zu bringen. Jetzt aber ging etwas in den Jungen vor, das sie sich hinterher kaum erklären konnten. Von dem Licht dieser spärlichen Kerze strahlte eine Wärme und Andacht aus, dass sie jede Albernheit vergessen ließ. Sie standen vor der Bühne des Alten wie in Tagen ihrer frühesten Kindheit. Es war als hörten sie die vergessenen Weihnachtslieder, als könnten sie an Engel, Schafe und Hirten glauben. Auch schienen die Sterne heller zu strahlen und ein Duft wunderbarer Spezereien zog aus dem Wald hervor.
Der Hund schlug an. Drohend stand er auf dem Stroh. Der Alte blickte mit blinden Augen in Richtung der Jungen. Diese wurden von drei zornigen Vätern am Genickt gepackt, ruppig beschimpft und nach Hause gezerrt.
Am Vormittag des ersten Weihnachtstages trafen sie sich wie gewohnt an der Siegessäule. Ohne ein Wort rannten sie los, aus der Stadt heraus, den Weg hinauf. Da war kein Alter zu sehen. Stroh und Lappen waren verschwunden. Auch das Bäumchen war nicht mehr dort. Unter dem Dach der Kapelle fanden sie Losung vom Wild. Die Krippe war leer. Die hungrigen Meisen ließen sich von den Jungen nicht aus dem Vogelhaus vertreiben. "Er ist fort", sagte einer. Dann rannten sie um die Wette in die Stadt zurück.



Eingereicht am 18. November 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.

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