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Ein Mann aus dem Norden

© Silvie Katz


Er war ein Flüchtling von Geburt an, und vielleicht war es dieser Umstand, der ihm die Kraft gab, dem Weg seiner Seele so kompromisslos zu folgen, wie er es schließlich tat. Da er niemals eine Heimat besessen hatte, konnte er keine verlieren, und wenn er auf der Erde nirgends zu Hause war, dann konnte dieses Zuhause, das jeder Mensch besitzt oder sich doch zumindest schaffen muss, wenn er es nicht besitzt, nur im Himmel sein. Die Umstände seiner Geburt sind mehr als abenteuerlich, und sein gesamtes späteres Leben ist es ebenfalls. Die Überlieferung ist lückenhaft und an manchen Stellen vieldeutig, und dennoch ist jede überlieferte Einzelheit, auch und gerade in ihrer Zweifelhaftigkeit, von größtem Gewicht.
Seine Eltern waren Einwohner eines besetzten Landes und sie hatten sich in dessen Norden niedergelassen, der weniger kahl, heiß und steinig ist als die übrigen Landesteile. Zuweilen, vor allem nach den Winterregen (wenn diese stattfinden), sind die sanft gerundeten Hügel wochenlang grün. Später verbrachte er lange Jahre in jener nördlichen Region und man verlieh ihm den Namen dieses Landstriches als Beinamen, so wie es den Gebräuchen jener Zeit entsprach. Vielleicht war es, zusammen mit dem abenteuerlichen Beginn seines Lebens, die Sanftheit jener Hügel, gepaart mit der Schroffheit und dem harten klaren Licht der glühenden Tage endloser Sommer, die seinen Charakter wesentlich prägten.
Es ging das Gerücht, dass seine Eltern nicht seine wirklichen Eltern gewesen seien. Angeblich war er von einem Engel gezeugt worden, aber dies war eine gebräuchliche Ausrede junger Frauen in einer Zeit, in der Hochzeiten nicht nach Belieben gefeiert werden konnten, sondern nur im Herbst, nachdem die Ernte des Dorfes eingebracht war - und auch das nur in guten Jahren. Fest steht, dass seine Eltern einander liebten und dass sie auch ihn als das Kind ihrer Liebe betrachteten, und das war viel für jene Zeit.
Er kam in einer kalten Nacht in der Mitte des kurzen Winters zur Welt, während seine Eltern bemüht waren, einer Anordnung der Besatzungsmacht Folge zu leisten. Man verlangte von ihnen, dass sie in ihren Geburtsort zurück wanderten und begründete diese Unbequemlichkeit mit der Notwendigkeit einer Volkszählung. Für seine Eltern war dies weit mehr als eine Unbequemlichkeit, denn sie überließen ihren Handwerksbetrieb einem ungewissen Schicksal und sie ahnten noch nicht, an welches Ufer das Leben sie und ihren Sohn später verschlagen würde. So kam er in einem Stall zur Welt - ein Sinnbild und auch ein Zufall, den die Überlieferung idealisierte, während in Wirklichkeit nur kein Platz mehr in der Herberge war und seiner Mutter nicht länger Zeit vergönnt war, mit der Niederkunft zu warten.
Es existierte noch ein anderes Gerücht, welches besagte, dass in jenen Tagen die Geburt eines Menschen zu erwarten sei, der alles Bestehende radikal umwälzen würde. Das Gerücht sprach zwar davon, dass dies eine Umwälzung zum Guten zu sein habe, aber dennoch oder gerade deswegen stürzte diese Nachricht die Besatzermacht in helle Panik. Diese uferte in einen Befehl von unmenschlicher Grausamkeit aus, nämlich in jenen, dass alle in einem bestimmten Zeitraum geborenen männlichen Säuglinge zu töten seien. So war seine Geburt mit Blut befleckt, wenn auch nicht mit seinem eigenen (das sollte später kommen), und auch nicht durch sein Zutun. Seine Eltern flohen mit ihm quer durch das Land und über die südliche Grenze hinaus und dies erwies sich als besonders notwendig, da bereits die ersten eintrafen, die das neugeborene Kind verehrten, als sei es ein König. Über die Gefahren und Erlebnisse dieser Reise berichtet die Überlieferung wenig und man erfährt nur, dass der Aufenthalt im südlichen Nachbarland, das einmal Feindesland gewesen und dessen politische Position nun mehr als unklar war, einige Zeit währte.
Schließlich aber kehrte die Familie in den Norden zurück und soweit man vermuten kann, gelang es ihnen, ihre materielle und soziale Existenz wieder aufzubauen. Auch von ihm, dem Kind, das später Berühmtheit erlangen sollte, berichtet die Überlieferung wenig, außer dass er im Alter von zwölf Jahren seinen Eltern davon lief und im Tempel wieder gefunden wurde, wo er die Lehrer seiner Zeit belehrte.
Über die folgenden Jahre ist so gut wie nichts bekannt und über sein Privatleben überhaupt nichts. Allem Anschein nach aber lebte er selbst als Handwerker (damals eine sehr gute soziale Stellung), denn man hört davon, dass er diese Existenz aufgab, um im Lande umher zu ziehen und dem Ruf seiner Seele zu folgen.
Er war kein sanfter Mensch und sein Zorn war leicht entfacht. So wird von ihm berichtet, dass er die Tische der Geldverleiher umwarf, weil sie ihren Geschäften im Tempel nachgingen und nicht auf dem Marktplatz. Er gab nichts auf die Normen und Werte seiner Zeit. Er setzte sich mit Bettlern ebenso an einen Tisch wie mit Geldzählern und er scheute sich nicht, Frauen mit derselben Achtung entgegen zu treten, wie man sie Männern gegenüber als üblich empfand. Er berührte Aussätzige, rehabilitierte Ehebrecherinnen, rettete Leben in einer Zeit und einer Gesellschaft, in der die Feiertagsruhe höher eingestuft wurde als die Qual eines in einen Brunnen gefallenen Tieres. Man sagte ihm wundertätige Kräfte nach und möglicherweise besaß er sie sogar. Die Geschichte und die Geschichten, die sich um sein Leben ranken, berichten von Heilungen, Wundern, sogar vom Lebendigmachen von Toten.
Er berief einen kleinen auserwählten Kreis von Vertrauten um sich und die Schar seiner Anhängerschaft wuchs rasch. Er sprach von Frieden, der möglich sei in einer Welt und in einer Zeit, die von Kampf, Gewalt und Verfolgung geprägt war. Er sprach von Freiheit, die im Innern beginnt und das Außen revolutioniert. Er sprach von der Unsterblichkeit der Seele und der sinnvollen Ordnung des Universums. Er rührte Wünsche auf in der Tiefe der menschlichen Seele, von denen man bisher nicht zu sprechen, vielleicht nicht einmal zu denken gewagt hatte. Er war mutig und direkt. Er duldete keine Heuchelei, keine Lügen, keine Halbheiten. Er lebte vor, wovon er sprach. Er war es, der sich mit Zöllnern und Huren an einen Tisch setzte, als seien sie Menschen wie er - was sie ja tatsächlich waren, nur war diese einfache Tatsache in Vergessenheit geraten. Er war ein fröhlicher Mensch und es wird von ihm erzählt, dass er einen Becher Wein nicht verachtete.
Man stilisierte ihn zum König, zum Gottgesandten, aber was ersteres betrifft, so nahm er niemals politische Macht für sich in Anspruch, und letzteres war er in einer stillen, demütigen und gleichermaßen unerschrockenen Art und Weise, die alle Egoismen ausklammert. Es mag sein, dass dies die Schattenseite seiner Berühmtheit war, die er schließlich mit seinem Leben bezahlte. Nach einigen Jahren großer Erfolge, in denen seine Anhängerschaft wuchs, war er der herrschenden Besatzungsmacht und deren Gefolgsleuten ein derartiger Dorn im Auge, dass eine Intrige gegen ihn inszeniert wurde. Einer seiner eigenen engsten Vertrauten wechselte die Seiten und verriet ihn, und nach einem Schauprozess, der ebenso grandios inszeniert wie abstoßend war, richtete man ihn hin. Es gab einen Moment, da bekannte er sich zu seiner Todesangst, aber dies ist nur menschlich. Es war der einzige Moment, in dem er wankend wurde - er blieb seiner großen Idee, dem Wissen seiner Seele, treu und starb für sie.
Was die Umstände seines Todes betrifft, so liegen sie noch tiefer im Dunkel als die Umstände seiner Geburt und vieler Jahre seines Lebens. Es gibt eine weniger bekannte Überlieferung, die behauptet, er habe sich von der versuchten Hinrichtung erholt und habe danach weitere Jahre gelehrt und gelebt. Die gängige Überlieferung hingegen berichtet von seinem physischen Tod und einer Metamorphose seines Körpers, die ihm erlaubte, noch weitere fünfzig Tage umher zu ziehen. In diesen fünfzig Tagen entstanden wesentliche Abschnitte dessen, was als seine Lehre erhalten geblieben ist. Beide Überlieferungen sagen seine Wiederkunft für jene Zeit voraus, in der wir heute leben.
Die Welt hat sich verändert seitdem - und hat es doch nicht. Noch immer gibt es Besatzermächte, vom Krieg zerrissene Gebiete, Hunger, Diskriminierung und Leid. Seine Wiedergeburt muss sich nicht physisch vollziehen, sondern im Bewusstsein eines jeden Einzelnen von uns, der die Elemente seiner Lehre versucht zu verwirklichen. Jener Mann aus dem Norden, geboren auf der Flucht, lebend in einem besetzten Land, verraten von einem engen Freund und ermordet von Intriganten, war einer der mutigsten, kompromisslosesten und geradlinigsten Revolutionäre seiner Zeit - und weit über seine Zeit hinaus bis in unsere Zeit hinein.
Jener Mann aus dem Galil, dem grünen Garten seines ansonsten trockenen, harten und kargen Landes, brachte Weichheit, Mitgefühl und das Bewusstsein von Sinn und Geborgenheit in diese Welt: in jene, in der er lebte und der auch wir, wenn auch später, leben. Das Bild eines von Minen zerfetzten Kindes in den Nachrichten hätte seinen Zorn entfacht, die Trauer einer vereinsamten alten Frau sein Mitgefühl. Er hätte sich mit Pennern, Prostituierten und anderen Randgruppen an einen Tisch gesetzt, dasselbe Brot mit ihnen gegessen, denselben Wein mit ihnen getrunken. Er hätte mit jedem Menschen gelacht, geweint, gezürnt und Dinge verändert, die verändert werden müssen.
Wenn ein Bewusstsein von ihm in uns lebt, dann lebt er, und wenn wir wissen wollen, wie dieses Bewusstsein aussieht und wie es sich anfühlt, dann stellen wir uns doch einfach manchmal vor, wir würden mit seinen Augen sehen, mit den Augen des Mannes aus dem Norden, genannt Jesus von Nazareth. Vielleicht ist sie dann ein klein wenig näher gerückt, jene Prophezeiung, der Kernsatz seiner Lehre, den er aus der Weisheit seiner Seele heraus für realisierbar hielt und der es, allen Widrigkeiten zum Trotz, immer noch ist:
Frieden auf Erden und allen fühlenden Wesen ein Wohlgefallen.

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