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Kleine Weihnachtsgeschichte

Von Phoebe Pietrek


Zwei Jahre war er in Vietnam gewesen. Seine dreijährige Tochter und sein eineinhalbjähriger Sohn weinten, wenn er sie auf den Arm nahm. Sie erkannten ihn nicht mehr. Seine Frau hatte nicht mit seinem Kommen gerechnet. Es sollte eine Überraschung sein. Sie hatte ihn wegen dem Bart und dem eingefallenen Gesicht kaum wieder erkannt. Er war duschen gegangen. Das Bad hatte man umbauen lassen. Er hatte sich seine Kleidung angezogen und war ins Wohnzimmer herunter gegangen. Wie ein Fremder. Seine Kleidung fühlte sich nicht gut an. Zwei Jahre war er in Uniform gewesen. Und jetzt? Jetzt war er zu Hause. War er das? Alles war so fremd. So furchtbar fremd. Vietnam war nicht so fremd. Seine Freunde waren nicht fremd. Seine Kameraden, sein Kommandeur. Sein Trupp, selbst die Kneipe, die nicht weit der Einheit gewesen war, war nicht fremd. Die Leute, die dort zwei Jahre lang ein und aus gegangen waren, waren nicht fremd. Aber hier, hier war alles fremd.
Seine Kinder, seine Frau, das Haus, die Kleidung, einfach alles.
Weihnachtsschmuck hing an dem Christbaum, Girlanden zierten den Balkon. Am Kamin hingen die Strümpfe ordentlich nebeneinander. Alles passte. Nur er, er passte nicht. Sie saßen zu viert am Tisch im Esszimmer und aßen. Das Essen schmeckte seltsam. Sehr salzig und irgendwie zu intensiv. Er brachte kaum zwei Bissen hinunter. Seine Frau sah ihn aus den Augenwinkeln an, machte eine Bemerkung, von wegen, früher hätte er zwei Teller davon gegessen. Die kleine Twyla murmelte vor sich hin, und sein Söhnchen kaute auf dem Kinderlöffel. Es wurde schnell Abend. Leider nicht so schnell, wie er gehofft hatte. Viele Nachbarn kamen, um ihn zu begrüßen und schöne Weihnachten zu wünschen. Lauter Fremde, an die er sich kaum erinnern konnte.
Oder wollte. Abends im Bett fühlte er sich alleine. Das Bett war zu weich, die Temperatur zu hoch, die Luft zu stickig. Seine Frau, sie lag neben ihm und schlief. Er konnte nicht schlafen. Wenn er seine Augen schloss, sah er all das, was er nie wieder sehen wollte. Als das, was nicht fremd war. All das, was zwei Jahre lang grausam- schrecklicher Alltag gewesen war. All das, was er einfach nur verdrängen wollte. Aber es ging nicht, weil seine Umgebung zu fremd war. Um drei Uhr morgens krabbelte und stolperte etwas ins Schlafzimmer. Er schlief, aber er hatte nur einen sehr leichten Schlaf. Er schoss hoch, sprang gedeckt aus dem Bett und packte nach dem Eindringling.
Die kleine Twyla erschrak und begann zu weinen. Seine Frau wachte auf, warf ihm einen bösen Blick zu und nahm sie auf den Arm. Sie gingen zu seinem Söhnchen und mit den Kindern ins Wohnzimmer. Geschenke wurden ausgepackt, während fröhliche Weihnachtsmusik aus dem Radio strömte. Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Alles war so künstlich, so irreal, so absolut fremd. Wie hatte er nur in dieser Welt leben können? Wie lebte man in dieser Welt? Was waren die Regeln, wo waren die Tabus? Wo war der Kommandeur, der einem zuschrie, was man machen sollte? Wo waren die Kameraden, mit denen man zusammenhielt wie Pech und Schwefel? Seine Frau saß mit den Kindern am Boden, sein Söhnchen kaute am Geschenkpapier, welches die eifrigen Fingerchen der kleinen Twyla von den Päckchen gerissen hatten. Das kleine Mädchen strahlte, als es die Puppe sah. Sie lachte, drückte es an sich und sah ihrer Mutter ins Gesicht. Diese nickte ihr zu und meinte, Santa Clause wisse eben, welche Kinder brav waren, und welche nicht. Da nahm das kleine Mädchen die Puppe noch enger an sich, das Liebste, was sie im Moment hatte. Und sie ging auf ihn zu, hielt kurz vor seinen Knien und kletterte dann auf das Sofa neben ihn. "Das 's meine Puppe. Willst du halten... Daddy?"
Kleine Fingerchen streckten ihm die Puppe entgegen. Er nahm sie vorsichtig, fuhr sanft über die goldenen Löckchen und sagte: "Das ist eine schöne Puppe, mein Engel." Er nahm die kleine Twyla auf den Schoß, die ihm, plappernd wie ein Wasserfall, vom gestrigen Tag im Kindergarten erzählte, und dabei die Puppe fest an sich drückte. Er hörte zu, lächelte, und wusste es wieder. Es war nicht so fremd, das alles. Er kannte es. Er wusste es. Er erinnerte sich. So wie es jetzt war, war es richtig. Ja. Der Weihnachtsbaum schien nicht mehr so kitschig, das Wohnzimmer gar nicht mal so fremd. Das, was hier und jetzt war, war real, war wirklich. Ja, das war das Leben.

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Eingereicht am 07. Juli 2004.
Herzlichen Dank an den Autor.
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