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Zum ersten Mal

Von Daniel Tatz


Ein leichter, kühler Wind weht, als ich vor der Tür stehe, fröstelnd, mir die Schuhe abklopfe und den Schnee von der Jacke streife. Der Himmel ist mit Wolkenfetzen bedeckt und der Mond scheint trübe hindurch - fast so, als hätte er ein Glas Glühwein getrunken... Aber was soll's, er passt so genau zu meinen Gedanken.
Schon wieder fröstelt es mich, schnell schließe ich die Tür auf und trete in die Warme Diele. Ah, nichts geht über ein prasselndes Kaminfeuer und den Geruch nach gebratenem - und doch...
Plötzlich ertönt eine Stimme, ich solle schnell rauf in mein Zimmer, die Vorbereitungen liefen in vollem Gange. So hänge ich also meine mittlerweile von den Schneeflocken, die ich nicht erwischt hatte, nasse Jacke an die Garderobe und gehe nach oben.
Kaum im Zimmer, höre ich die Türschelle läuten. Oma muss da sein. Ja, sie ist es. Das Rascheln ihrer schweren Tüten und ihres Mantels ist unverkennbar, auch wenn es seit ein paar Monaten immer seltener zu hören ist.
Das Rascheln und die fast übertrieben anmutende Begrüßung im Zimmer unter mir ist gerade zu Ende, da ertönt auch schon das Klingeln der Weihnachtsglocke. Genau fünf Mal, wie jedes Jahr. Wie auf einen Startschuss hin fliegen sowohl meine als auch die Tür meines Bruders auf und beide stürmen wir die Treppe nach unten. Wie jedes Jahr. Ich setze mich neben den grünen Baum, der vor Jahren mal ein Weihnachtsbaum gewesen ist und lese die Weihnachtsgeschichte vor. Wie... jedes Jahr. Nun werden die schönsten Lieder zur Heiligen Nacht gesungen. Und spätestens jetzt wird klar: Eigentlich ist alles ganz anders als letztes Jahr.
Das aufgesetzte Gelächter, die hohle Fröhlichkeit - letztes Jahr war sie noch echt. Der grüne Baum neben mir - wenn ihn jetzt eine Kerze in Brand setzte, hätte er zumindest ein wenig Ausstrahlung. Die Weihnachtsgeschichte - eigentlich hört doch sowieso niemand mehr zu. Das schräge Singen uralter Lieder - ohne die vermisste, raue Stimme klingen sie nur halb so schief.
Meine Geschenke bleiben heute Abend unausgepackt.


Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors.


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