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Frieden schließen

Von Matthias Schwendemann


"He, hast du vielleicht ein bisschen etwas für mich?"
Verwirrt den Ursprung dieser Bitte suchend, drehte ich mich im Kreis. Doch ich sah niemanden.
"Hier ich bin, hier unten!", sagte der Sprecher leicht belustigt.
Ich sah nach unten und sah den Mann, etwa in meinem Alter, zerzauste Haare und einen wilden Bart. Alles, was ihn zudeckte, war eine alte kratzige Decke.
Genervt und ein wenig durcheinander antwortete ich ihm: "Tut mir leid ich habe grad überhaupt kein Geld dabei." Auf die Schnelle fiel mir nichts Besseres ein und ich wusste nicht wie ich hätte reagieren sollen. "Es tut mir leid!"
Aber der Mann hatte seinen Kopf bereits wieder in der Decke vergraben und sah mich nicht mehr an.
Ich bahnte mir weiter meinen Weg, durch die weihnachtliche Einkaufshölle, denn ich suchte noch ein Geschenk für meine kleine Schwester. Dass ich kein Geld dabei hatte, eine dreiste Lüge.
Als ich mich Stunden später, abgekämpft und müde in meinem Sessel niederließ und den Fernseher anschaltete, hatte ich mein Treffen mit dem Mann auf dem Boden bereits wieder vergessen. Ich mein, ich hatte ja auch wirklich wichtigere Dinge zu tun, über die ich mir Gedanken machen musste.
Im Fernsehen sah ich einen Spendenaufruf für Menschen die an Aids erkrankt waren und danach eine Sendung über Straßenkinder und wie sie leben mussten um zu überleben.
In mir regte sich plötzlich ein ungeheurer, heftiger Drang die Welt zu verbessern und allen zu helfen. Ich wollte Frieden schließen. Frieden schließen mit den Leuten im Fernsehen, mit meiner Familie, mit meinen Freunden und warum auch nicht, es bot sich ja geradezu an, auch mit mir selbst.
Weihnachten ist die Zeit, in der wir alle Frieden schließen. Die Zeit, in der wir die Welt ordnen und durch unsere großartigen Geschenke und Gaben besser und sicherer machen und auch den Ärmsten wieder Hoffnung geben. Doch Weihnachten ist nur einmal im Jahr. Was ist in der restlichen Zeit? Diese Frage schockierte mich. Was sind wir für Menschen, wenn wir uns selbst in den Himmel loben, wenn wir die "Armen" an Weihnachten zwar mit Geld und Arzneimitteln "überhäufen" und in den restlichen 11 Monaten die Kinder verhungern und die Kranken an unseren Krankheiten zugrunde gehen?
Diesen Gedanken im Hinterkopf und die 25 Euro, die meine Großmutter mir zum Kaufen eines Weihnachtsgeschenkes, bei ihrem letzten Besuch, dagelassen hatte, machte ich mich gleich am nächsten Tag auf den Weg zur Bank. Unterwegs um zu Hilfe zu eilen, tat sich vor mir die hell erleuchtete Pforte einer kleinen Bäckerei auf. Und ich betrat sie zum einen um mich ein wenig aufzuwärmen und zum anderen um noch etwas Besonderes zu kaufen. Ein kleines Detail, das meinen Plan, die Welt zu retten, ein wenig vorantreiben sollte. Ich kaufte eine kleine Tüte, mit den leckersten Weihnachtsplätzen. Sie sollten für die Bankangestellten sein, die so kurz vor Weihnachten noch arbeiten mussten. Aber sind nicht die Bankangestellten die wahren Helden, der Weihnachtszeit?
Sind sie es nicht, die es überhaupt erst möglich machen, dass die Kinder ihre Geschenke alle pünktlich bekommen, und sind sie es nicht, die alle unsere Hilfsleistungen überwachen und dafür sorgen, dass sie auch auf den richtigen Konten ankommen?
Dafür hatten sie sich diese paar Plätzchen doch wohl redlich verdient.
Als ich unter der alten Eisenbahnbrücke hindurch lief, hörte ich plötzlich ein Husten. Und kurz darauf noch mal. Ich stoppte, da ich fast über einen gefüllten Sack gestolpert wäre. Doch dann hustete eben dieser Sack. "Das hört sich ja böse an", mein bescheidener "Rat".
Langsam erhob sich der Kopf des "Sackes" und ich blickte in ein bekanntes, aber unglaublich bleiches Gesicht. Zuerst wollte ich weitergehen, da mir die letzte Begegnung mit dem Mann wieder einfiel und ein sehr erdrückendes Schamgefühl in mir hochstieg. Und dann überwand ich mich, griff in meine Tasche und holte den noch verbliebenen 20 Euro Schein hervor. Die Reaktion des Mannes, verwirrte, ja sie verletzte mich fast. Mit kränklicher und leiser Stimme, erklärte er mir: "Ich brauche dein Geld nicht! Pack es wieder ein und gib es jemandem, dem Geld wichtig ist!"
"Aber kann ich denn gar nichts für sie tun?", fragte ich fast während Verzweiflung in mir hochstieg.
"Doch natürlich, setz dich für ein paar Minuten zu mir."
Langsam und zweifelnd ließ ich mich auf dem kalten Boden gegenüber dem Mann nieder und versuchte, nicht zu überrascht und verkrampft zu wirken. Unterdessen hatte der Mann ein kleines Teelicht hervorgeholt, mit Hilfe eines Plastikfeuerzeugs entzündet und vor uns beide gestellt. "Jetzt ist es doch schon viel schöner, fehlen nur noch ein paar Plätzchen und jemand der die Weihnachtsgeschichte vorliest", witzelte der Mann.
Mir fielen meine Bankangestelltenplätzchen wieder ein, holte sie schnell hervor und streckte die Tüte dem Mann mit dem zerzausten Bart hin. Seine Augen strahlten, als er hineingriff und sich ein kleines Butterplätzchen herauszog. Wir saßen ein paar Minuten da, aßen Plätzchen und beobachteten die kleine Flamme des Teelichtes und wie der Wind mit ihr seine Spielchen trieb. Doch die Kälte machte mir mehr und mehr zu schaffen und ich beschloss, mich bald wieder auf den Weg zu machen.
Dann jedoch erhob sich der Mann trat hinter mich und legte mir seine Decke über die Schultern: "Deine Lippen sind ja schon ganz blau, nicht dass du mir hier draußen noch erfrierst."
"Danke", war alles was ich herausbrachte.
"Nicht Sie müssen sich bedanken. Ich habe zu danken. Das habe ich schon lange vermisst!"
"Was denn?", hakte ich nach.
"Endlich mal wieder richtig Weihnachten zu feiern!"


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