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Ich esse meine Freunde nicht

Von Eve Herzogenrath


Es war kurz nach dem Krieg; wir hatten die Räume in diesem Haus gerade erst bezogen. Da es sich um ein ehemaliges Einfamilienhaus handelte, gab es keine abgeschlossenen Etagen. Auf jedem Stockwerk waren die Zimmer vom Treppenhaus aus zugängig und gingen teilweise auch ineinander über. Da wir im oberen, also zweiten Stock wohnten, befand sich vor dem Bad noch ein kleiner, fensterloser Vorraum, von dem aus eine Treppe zum Speicher führte. Vor dieser Treppe hatte ich immer fürchterliche Angst. Es war so düster in dem Vorraum. Die Toilette war ins Bad integriert und von der Badeecke durch eine Wand getrennt. Die Wanne konnte nicht benutzt werden, weil es kein warmes Wasser gab. Der Gasofen war defekt. Gebadet wurde in der Stube in einer Zinkwanne. Samstags. Ich hatte Angst auf der Toilette wegen des unübersichtlichen Anmarschweges. Deshalb ließ ich die Türen offen, und deshalb hatte ich auch sicher ständig Verstopfung.
Eines Tages hörte ich aus Richtung der Nische, in der sich die Badewanne befand, ein Rascheln. Panik, ich stürzte völlig aufgelöst in die Stube und schrie: "Im Bad ist ein böser Mann." Oma lachte und ging mit mir zusammen ins Bad, das heißt, sie hatte mich im Schlepptau. In der hinteren Ecke, die im Vorbeigehen uneinsehbar war, stand auf einem Gestell ein Käfig mit Maschendrahtfront. Dahinter saß der Auslöser meines Schreckens und mümmelte unschuldig vor sich hin. Ein schwarz-weißes Kaninchen. Ich war entzückt, öffnete die Tür und streichelte das Tierchen. Es hielt inne mit Mümmeln und saß ganz still.
Eine wunderschöne Zeit begann. Mittags nach der Schule beeilte ich mich, weil Mümmelchen auf mich wartete. Noch gab es Löwenzahn, den ich unterwegs eifrig sammelte. Jeden Apfel, jedes Möhrchen teilte ich mit Mümmelchen. Das Bad und die Toilette hatten für mich jeglichen Schrecken verloren. Nur den düsteren Vorraum durchquerte ich rasch ohne nach rechts und links zu sehen.
Aus Mümmelchen wurde ein stattliches Karnickel. Nun besuchten auch meine Freundinnen und Freunde unser Haustier. Die Badewanne kam zu neuen Ehren; in ihr wurden Fische gehalten. Das Bad wurde langsam zur Tierpension, Rolf brachte einen Behälter, den wir großspurig Terrarium nannten, mit Molchen mit, Dieter steuerte Salamander bei. Da es draußen allmählich kalt wurde, war unser Bad zum beliebten Spielparadies geworden. Oma freute sich, dass ich so schön in ihrer Nähe war, wo mir nach ihrer Ansicht nichts passieren konnte, und servierte uns zwischendurch Apfelstückchen und Selbstgebackenes. Ich war froh, meinen Freundinnen und Freunden, die teilweise in schönen Villen wohnten, mit eigenem Zimmer und reichlich Spielsachen, mit dem sie mich immer spielen ließen, endlich auch was bieten zu können.
Die Freude nahm ein jähes Ende, und das ausgerechnet an Heiligabend. Auf dem Weg zur Toilette nahm ich Kurs auf die Kaninchenecke. Der Käfig war geschlossen, durch die Maschen lugten Stroh und Grünzeug, nichts rührte sich. Ich öffnete vorsichtig das Türchen und... erstarrte. Ich kann heute noch nachempfinden, wie mir zumute war. Der Käfig war leer - mein heiß geliebtes Mümmelchen war weg. Es war mein Freund, mein Tröster, mein Kuscheltier. Wenn ich traurig war, hatte ich ihm alles erzählt. Manche Träne war über sein Köpfchen und seine langen Ohren geflossen. Es war gewachsen und gediehen, woran ich nicht unbeteiligt war, ich hatte es gut versorgt und regelmäßig gefüttert.
Oma war hilflos. Sie sagte, ich solle mich beruhigen, ich brauchte nicht zu suchen, sie wolle es mir erklären. Ich hörte nicht zu, ich wollte keine Gewissheit, ich wollte mir die Hoffnung noch aufbewahren. Ich raste auf den gefürchteten Speicher, rief, weinte. Nichts. Ich lief in den noch mehr gefürchteten Keller. Nichts. Mutti kam nach Hause. Ich saß zitternd auf der Treppe im Freien. Sie nahm mich in den Arm und sagte: "Das Mümmelchen war doch kein Spielzeug, es war ein Nutztier. Wir haben doch kaum was zu essen. Kaninchen werden irgendwann geschlachtet und gegessen. Onkel Hans hat es mitgenommen. Opa kann das ja nicht." Es wurde ganz dunkel in mir. Ich glaube, in diesem Moment habe ich meine Familie gehasst.
Weihnachten gab es Kaninchenbraten. Ich habe allen gewünscht, dass sie daran ersticken oder sich vergiften sollten. Zu den Mahlzeiten bin ich erst gar nicht erschienen. An die Wand habe ich in Riesenbuchstaben direkt auf die Tapete geschrieben: "Ich esse meine Freunde nicht! Ihr Mörder." Opa gab eine Darmgrippe vor und aß auch nichts. Außer meinen Puppen und einem Tierlexikon von Opa habe ich nichts angerührt von den Sachen, die für mich unter dem Tannenbaum lagen. Die neuen Puppenkleider habe ich meinen Puppen ausgezogen und zurückgelegt. Nach diesem Weihnachtsfest war ich lange sehr traurig und verweigerte meiner Oma und meiner Mutter den Zugang zu mir. Ich antwortete einfach nicht mehr. Meine Freundinnen haben mich getröstet und mit mir geweint. Rolf brachte einen Hamster mit, der bei mir leben sollte. Als ich dann im Tierlexikon las, dass Hamster nur zwei Jahre alt werden, wollte ich, dass er bei ihm leben sollte. Die Fische, Molche und Salamander haben wir wieder in ihren natürlichen Lebensraum ausgesetzt.


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