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Weihnachtsmorgen

Eine Weihnachtsgeschichte von Jenny Frey


Es war der Weihnachtsmorgen. Wie es sich für ein richtiges Weihnachtsfest gehört, hatte es in der Nacht geschneit und das Land war mit einem dicken weißen Teppich überzogen. Anna spürte den Schnee, sie wusste, dass es geschneit hatte, bevor sie aus dem Fenster schaute. Die Geräuschkulisse von draußen war anders, weil der Schnee alles dämpfte und die Autos langsamer fuhren. Und weil hie und da das vereinzelte Kratzen einer Schneeschippe auf dem Gehweg zu hören war. Mit einem Satz war Anna aus dem Bett und stürzte ans Fenster. Es hatte wirklich geschneit, richtig viel, und es schneite immer noch, in dicken fetten Flocken, überdeckte alles Leben mit einem üppigen weißen Mantel. Anna liebte den Winter, hätte jubeln mögen vor purer Freude.
Sie war hellwach. Hastig zog sie sich an, um so schnell wie möglich hinauszukommen. Sie war allein zu Hause, trank im Stehen ihren Frühstückskakao und kritzelte einen Notizzettel an ihre Eltern, wie sie es oft tat: "Bin bei Laska." Es war gerade mal 09.00 Uhr, als die Haustüre hinter ihr zufiel. Normalerweise legte sie die kurze Strecke zum Reiterhof mit dem Rad zurück, aber in Anbetracht der Schneewehen stapfte sie fröhlich zu Fuß los. Sie hatte alle Zeit der Welt, war voller Energie und konnte sich nichts schöneres als einen Spaziergang im Schnee vorstellen. Außer natürlich einen Ausritt im Schnee.
Der Reiterhof lag an diesem frühen Morgen verlassen da. Nur der Stallknecht verrichtete seine Arbeit und mistete die Boxen.
Die schwarze Stute Laska begrüßte Anna mit einem leisen Brummeln und blickte sie mit sanften, klugen Augen an, die Anna immer so menschlich vorkamen. "Frohe Weihnachten, Laska", sagte Anna zärtlich und legte beide Arme um den Hals der Stute. In ihrem Rucksack war eine Tüte selbstgebackener Pferdeleckerlis, die würde Laska nach dem Ausritt bekommen. Als Weihnachtsgeschenk.
Sorgfältig putzte Anna ihre Stute und kratzte ihr die Hufe aus. Dann trenste und sattelte sie Laska und führte sie ins Freie. Es hatte aufgehört zu schneien. Die Wolken waren aufgebrochen, ließen erste Sonnenstrahlen durch. Es würde einen klirrend kalten, aber wunderschönen Wintertag geben.
Laskas Blick wanderte überrascht über die veränderte Landschaft. Den Hals gereckt wie eine Giraffe sog sie röhrend die klare, eisige Dezemberluft ein. Dann schnupperte sie am Boden, prustete den Schnee an und begann mit dem Vorderhuf zu scharren. Anna lachte laut auf. Der Ausritt würde lustig werden! Sie kontrollierte ein letztes Mal den Sattelgurt und saß auf. Laska war aufgekratzt und schien Hummeln im Hintern zu haben - genau wie ihre Reiterin. Aber Anna hatte keine Angst vor der übermütigen Tier - im Gegenteil. Laska und sie waren ein eingespieltes Team und sie liebte es, die Lebensfreude und Lauflust ihrer Stute unter sich zu spüren.
Im flotten Schritt verließen sie den Hof und folgten einem Feldweg, der zu einem Wäldchen führte. Der Weg war noch jungfräulich unberührt und es war bester, feinster Pulverschnee, der unter Laskas Hufen hervorstäubte. Laska schnaubte fröhlich mit jedem Schritt und durch ihr lebhaftes Ohrenspiel fragte sie bei ihrer Reiterin vorsichtig nach, ob sie nicht etwas schneller gehen dürfte. Anna war zwar jung, aber lange genug im Sattel, um zu wissen, was man machte und was nicht. Nur im Fernsehen sah man Reiter, die ihr Pferd aus der Box holten und im Galopp davonstoben. Wie jeder verantwortungsvolle Tierfreund, dem etwas an der Gesundheit seines Pferdes lag, ritt sie Laska ein gutes Stück im Schritt, um Muskeln und Sehnen die Möglichkeit zu geben, sich aufzuwärmen. Auch ein Hochleistungssportler würde Dehnübungen machen, bevor er lossprintete. Erst als sie das Wäldchen erreichten, gab sie Laska mit einem leisen Schenkeldruck das Zeichen zum Trab. Die Stute schüttelte übermütig den Kopf und versuchte sofort, anzugaloppieren. Anna hielt sie nur mit Mühe in einem gemäßigten Tempo. Aber sie ritt seit ihrem 6. Lebensjahr und hatte genug Sattelfestigkeit und Können erworben, um sich nicht durch einen Seitensprung aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Anna strahlte über das ganze Gesicht. Das Leben war wunderbar. Laska trabte prustend dahin, trug sie mit butterweichen, anmutigen Tritten durch die winterliche Märchenlandschaft.
Staunend blickte Anna auf die Wunder, die der Schnee vollbracht hatte, der so heimlich über Nacht gekommen war. Die jungen Tannen am Wegrand waren üppig beladen und bogen ihre Zweige unter der schweren weißen Last des Schnees. Die Wolken waren weiter aufgebrochen und hatten einem strahlendblauen Himmel Platz gemacht. Im Sonnenlicht glitzerten und schimmerten die Schneekristalle verschwenderisch in allen Regenbogenfarben. Es war still um sie, allein das leise Knirschen des Sattels unter der schmächtigen Reiterin oder des Schnees unter Laskas Hufen war zu hören, ab und zu ein fröhliches Schnauben Laskas.
Andächtig trabten Pferd und Reiter durch die weiße verzauberte Winterwelt. Der Weg machte eine Biegung und führte einen steilen Hügel hinunter. Anna parierte zum Schritt durch und die Stute schlitterte und rutschte mehr bergab als dass sie ging. Sie schreckten ein paar Rehe auf, die gerade den Weg kreuzen wollten und entsetzt flüchteten, als sie das große schwarze Pferd vor sich sahen. Laska erschrak ihrerseits vor den Rehen und machte einen Hüpfer zur Seite, den Anna aber gekonnt aussaß. Die Stute stand einen Moment lang stocksteif da, mit hochgerecktem Hals und geweiteten Nüstern, den Körper wie eine Feder gespannt, um jeden Moment flüchten zu können, falls Gefahr im Verzug war. Aber Anna strich ihr beruhigend über den Hals und sie setzten ihren Weg gemächlich fort.
Sie verließen den Wald und gelangten auf eine freie Wiese und Laska begann erwartungsvoll zu tänzeln. Sie wusste, was jetzt kam. Anna zügelte sie noch einen Augenblick, während sie die Richtung taxierte. Im Winter bei geschlossener Schneedecke und gefrorenem Boden darunter war es offiziell erlaubt, querfeldein zu reiten, die Gefahr eines Flurschadens war jetzt nicht gegeben. Vor ihr lagen weite, ebene, tief verschneite und unberührte Wiesenflächen. Laskas Ohren spielten lebhaft. Sie schüttelte unwillig den Kopf und wollte endlich rennen, rennen, rennen. Sie wollten es beide.
Anna brauchte nicht viel mehr zu machen als ihr Bein etwas nach hinten zu verlagern und die Zügel frei zu geben, im selbem Moment befand sich Laska im Galopp. Der feine Pulverschnee stob nach allen Seiten auseinander, als sie in weiten Sprüngen dahinfegten. Anna hätte am liebsten vor Freude gejuchzt. Das war das wahre Leben für sie. Das pure Glück dieser Erde. Sie hätte auf alles mögliche verzichten können, solange ihr nur das Reiten blieb. Das unbeschreibliche Gefühl, eins zu sein mit dem Pferd, die Anmut und Stärke des Tieres unter sich zu spüren und sich gleichzeitig in völliger Harmonie mit ihm zu bewegen. Das unbeschreibliche Gefühl, wie sich ein gut gerittenes Pferd buchstäblich am seidenen Faden leiten ließ, ja, wie die Kommunikation manchmal fast schon durch Gedankenübertragung funktionierte. Wer solche Glücksmomente der Einheit mit einem Pferd einmal erlebt hatte, der vergaß sie nie wieder und würde immer danach trachten, sie wieder und wieder zu erfahren. Wirkliches Reiten war süchtigmachend. Im leichten Sitz, den Körper nach vorne geneigt, sauste Anna auf Laskas Rücken über die Wiese, ging geschmeidig mit den Bewegungen ihrer Stute mit. Immer schneller, immer wilder wurde der Galopp. Sie jagten dahin, als sei der Teufel hinter ihnen her. Anna dachte, sie müssten jeden Moment abheben und fliegen.
In weitem Bogen lenkte sie die Stute zum Waldrand zurück und parierte sie endlich durch. Laska war nassgeschwitzt und atmete heftig. Aber sie waren beide zufrieden. Überglücklich klopfte Anna den Hals des Pferdes. Sie gab die Zügel hin und Laska streckte sich dankbar. Leider war es Zeit, umzukehren und heimwärts zu reiten. Dabei hätte sie bis ans Ende der Welt reiten mögen. Aber ihre Mutter würde sie pünktlich zum Mittagessen erwarten, und wenn sie nicht da war, gab es Ärger. Vielleicht konnte sie sich heute Abend nach der Bescherung noch einmal hinausschleichen, mit oder ohne Erlaubnis. Denn es war die Heilige Nacht und sie hätte einfach zu gerne gewusst, ob die Legende stimmte, dass Tiere in der Heiligen Nacht sprechen konnten. Und es gab nur einen Weg, das herauszufinden, nämlich den, anwesend zu sein. Im ruhigen Schritt, damit Laska abschwitzen konnte, ritt Anna zum Reiterhof zurück.
Es war der Weihnachtsmorgen. Wie es sich für ein richtiges Weihnachtsfest gehört, hatte es in der Nacht geschneit und das Land mit einem dicken weißen Teppich überzogen. Es schneite immer noch. Anna blickte aus dem Fenster und schaute den Schneeflocken nach. Sie liebte den Schnee. Sie erinnerte sich an das Weihnachten letztes Jahr, an ihren Ausritt, an Laska. In dem vergangen Jahr war so viel passiert, es würde nie wieder so sein wie früher. Sie würde nie wieder auf Laskas Rücken sitzen, noch auf dem eines anderen Pferdes, würde nie wieder fröhlich durch den Schnee stapfen und das Gefühl haben, sie müsse ihr Glück laut in die Welt hinausschreien. Manchmal überlegte sie, ob der liebe Gott ihr absichtlich so viele glückliche Momente mit Laska geschenkt hatte, damit sie für den Rest ihres Lebens reichten. Sie hatte Dinge erfahren dürfen, die andere Menschen ihr Lebtag nie erleben würden. Eigentlich sollte sie dankbar dafür sein.
Anna wendete ihren Rollstuhl und fuhr in die Küche.


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