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Kurzgeschichte Kurzgeschichten

Abschied

Von Camilla Sitte


"Es wird kühler. Der Sommer neigt sich dem Ende zu." Im Stillen verfluchte Rave die Jahreszeiten Frühling, Herbst und Winter. Warum konnte der Sommer nicht ewig dauern? Aber selbst wenn das ganze Jahr über nur Sommer wäre, würde es nicht gehen. Wieso konnte man nicht ewig in einem Sommertag leben? Ein Sommertag, zum Beispiel der 4. August. Du legst dich am 4. August schlafen und wenn du aufwachst, ist es wieder der 4. August. Und wenn du dich dann am Abend wieder schlafen legst, wachst du wieder am 4. August auf. Dann würde das ganze Leben immer nur aus dem 4. August bestehen, aber natürlich machst du an jedem 4. August etwas anderes. Sicher, die anderen Jahreszeiten hatten auch ihre schönen Seiten, das musste Rave zugeben. Im Herbst wenn die Blätter sich rot, orange und gelb färben, und wenn der ganze Wald aussieht wie ein stilles Feuermeer, das hatte schon etwas. Oder im Winter, wenn der erste Schnee den Waldboden bedeckt und Schneeflocken in den verschiedensten Formen vom Himmel fallen, das war auch etwas Schönes. Genauso schön, wie wenn sich im Frühling die ersten Blumen wieder an die Oberfläche trauen und verschiedene Tiere verschlafen durch den Wald taumeln, weil sie den ganzen Winter lang in ihren Höhlen geschlafen haben.
Aber man merkt von dieser Schönheit nicht viel, wenn man einsam und alleine ist. Wenn sie nicht da ist, mit ihren strahlenden Augen und ihrem Blick, der dir sagt, dass du etwas Besonderes bist. Sie, die jeden Tag gutgelaunt und fröhlich ist und nur an die guten Dinge im Leben denkt.
Rave, ein schwarzer Hengst, seufzte. Das Schicksal hatte es so gewollt, dass sie nur im Sommer bei ihm war. Traurig blickte er auf die schlafende Stute neben ihm. Die Morgensonne schien auf ihren braunen eleganten Körper.
Aber der Sommer ging zu Ende. Und Rave konnte nichts dagegen tun. Er entfernte sich ein Stück von ihr und trabte durch den Wald. Den Wald in dem er geboren war. Der Wald in dem er aufgewachsen war. Rave war ein Wildpferd, er war frei, konnte tun und lassen was er wollte, aber er war nicht glücklich. Nur im Sommer. Nur wenn sie bei ihm war. Aber in ein paar Tagen würden sie Abschied nehmen müssen. Dann würde sie dorthin zurückgehen, woher sie gekommen war. Denn sie war kein Wildpferd wie er. Sie war eine hübsche braune Stute, aber sie war auf einem Bauernhof geboren. Auf einem Bauernhof, nicht weit weg von dem Wald, in dem Rave lebte. Der Bauernhof war ihr Zuhause, nicht der Wald. Sie mochte den Bauern, bei dem sie lebte. Aber jedes Jahr im Sommer fuhr er in ein anderes Land und ein Ersatzbauer kam auf den Hof. Er kümmerte sich nicht so gut um die Tiere und so gelang es Fay, so hieß sie, wegzulaufen. Und sie lief in den Wald zu Rave. Aber am Ende jedes Sommers ging sie zurück auf den Bauernhof. Es war eben ihr Zuhause und der Bauer kümmerte sich gut um sie, Fay mochte ihn.
"Rave, ich muss gehen." Sie war leise gekommen. "Guten Morgen Fay", sagte Rave und versuchte seine Niedergeschlagenheit zu verbergen. Er hatte gehofft, sie würde noch ein paar Tage bleiben. Aber vor ihr konnte er nichts verbergen. "Wir sehen uns nächsten Sommer wieder", sie lächelte ihm aufmunternd zu. "Aber bis dahin ist es so lang", seufzte Rave. "Er wird kommen", lachte Fay, "und dann werden wir wieder zusammen durch den Wald galoppieren, und wir werden den Sonnenuntergang beobachten und Äpfel von den Bäumen fressen und wir werden Gras fressen und aus dem Fluss trinken und wir werden Lachen und Spaß haben und..." Fay schnappte nach Luft. Rave war sich sicher, dass sie ihn genauso liebte wir er sie, aber er begann zu verstehen, dass es noch etwas Zweites gab, das ihr wichtig war. "Bis nächsten Sommer, also", Rave zwang sich zu einem Lächeln. "Ich werde auf dich warten" "Machs gut!", sagte Fay. Dann drehte sie sich um und galoppierte über eine Wiese, in Richtung Bauernhof. "Wir sehen uns nächsten Sommer wieder", flüsterte Rave.



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