Das Ordnungsamt bietet an
Eine Kurzgeschichte von Manfred Osterfeld
Es war Samstagmorgen als ich mich verkatert und mit verquollenen Augen aus meinem Bett quälte. Mein Kopf hatte über Nacht erheblich an Volumen gewonnen und verursachte einen deutlich spürbaren, pulsierenden Schmerz. Alles drehte sich. Besonders starke Drehbewegungen rief der Versuch hervor, den gestrigen Abend zu rekonstruieren. Überdies war mir eine lückenlose Wiederherstellung der Geschehnisse ohnehin nicht möglich, da mein Gedächtnis immense Erinnerungsdefizite aufwies.
Bestimmt hatte ich mich unmöglich benommen und sehr wahrscheinlich redete die ganze Stadt schon über mich. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als eine Familienpackung Aspirin und dass Gott mein Gebet: "Bitte, bitte, mach den gestrigen Abend ungeschehen" erhören möge.
Müde und völlig zerschlagen kämpfte ich mich über die Treppe zu meinem Briefkasten durch, um die Zeitung zu holen. Wie üblich stürzte ich mich auf die Kontaktanzeigen unter der Rubrik "Frau sucht Mann" und wählte meine beiden Favoriten aus, denen ich aber ohnehin nie schreiben würde.
Doch diesmal schweifte mein Blick auf die Rubrik "Amtliche Bekanntmachungen" ab. Dort stand sie, die Lösung meiner Probleme. Die Stadt Osnabrück, Fachbereich Bürger und Ordnung, bot mit sofortiger Wirkung eine neue Dienstleistung an. Gegen eine geringe Gebühr würden geschulte Mitarbeiter mit dem Software-Paket Lebenslauf 3.0, gezielt Korrekturarbeiten an den Lebenslaufdaten der Einwohner vornehmen. Unangenehme Ereignisse könnten gelöscht und erfreuliche hinzugefügt werden. Die geänderten Daten würden
unverzüglich in allen Datenbanken weltweit geändert, da es sich um ein integriertes System handele. Das war meine Chance und ich würde sie unverzüglich wahrnehmen.
Am Montagmorgen nahm ich kurz entschlossen ein Tag Urlaub und klopfte um 9.00 Uhr im Stadthaus an eine Zimmertür mit dem verheißungsvollen Türschild "Herr Beyer - Lebenslaufkorrekturen". Ein freundlicher junger Mann empfing mich und nach kurzer Suche fanden wir die Datei "Manfred_Osterfeld".
"Da sind Ihre Daten", meinte Herr Beyer und deutete auf den Bildschirm. "Allerdings", fügte er hinzu, "fehlen die ersten zehn Jahre. Leider gab es bei der Übertragung der Satellitenbilder vor Neun-zehnhundertzweiundsiebzig größere Probleme, aber danach ist die Qualität der Bilder beeindruckend. Der Ton wird übrigens im Dolby-Surround-Verfahren erzeugt."
"Die alten Daten brauche ich nicht", beruhigte ich Herrn Beyer. Mit den Sünden aus meiner Kindheit konnte ich gut leben.
Dann begannen wir uns in aller Ruhe die Bilder anzuschauen. Längst vergessene Szenen tauchten wieder auf. Zum Beispiel die Party, auf der ich Susanne kennen lernte. Es war eine warme Nacht im August. Ich hatte Susanne, mit Hilfe einiger Cocktails, davon überzeugt, dass wir uns in der Gartenlaube besser über Nietzsche unterhalten könnten und dann kotzte ich ihr auf die Schuhe.
Herr Beyer grinste. Vielleicht empfand er eine gewisse Sympathie für mich. Oder war es vielleicht doch nur Schadenfreude? Ich für meinen Teil würde diese Geschehnisse gerne ungeschehen machen.
"Löschen", sagte ich daher. Und sofort waren die Bilder weg. Die Party hatte in meinem Leben nie stattgefunden. Es folgte das Gespräch über meinen Chef bei geöffneter Zimmertür; der unglücklicherweise auf dem Flur stand. Auch das löschten wir.
Es wurde immer peinlicher. Der Versuch, morgens, nur mit einem Handtuch bekleidet, die Zeitung aus dem Briefkasten zu holen, bei dem meine Wohnungstür zufiel. Der Rülpser auf der Jubiläumslesung der Literarischen Gruppe Osnabrück, der mir lange die uneingeschränkte Aufmerksamkeit aller Zuhörer bescherte. Der Abend, als ich Gaby kennen lernte und nachdem ich, unter anderem, auch ihre süßen Muttermale auf dem Rücken geküsste hatte, sie mit Lisa anredete.
"Löschen!"
"Löschen, Löschen, Löschen", sagte ich immer wieder.
Herr Beyer hatte immer weniger zu lachen. Nach einer Stunde waren wir endlich fertig. Der Umfang meiner Datei war von 40 Gigabytes auf blütenweiße 2 Gigabytes geschrumpft.
Erleichtert atmete ich auf. Mein Traum war in Erfüllung gegangen. Ab sofort würde jeder, der sich nach mir erkundigen würde, einen tadellosen Lebenslauf vorfinden. Und so sollte es auch in Zukunft bleiben, darauf würde ich peinlich achten.
Am nächsten Morgen stand ich um sechs Uhr auf, joggte eine halbe Stunde, um dann ein Frühstück mit Vollkornbrot, Müsli und frisch gepresstem Orangensaft zu mir zu nehmen.
Nach dem Frühstück rasierte ich mich und duschte abwechselnd mit warmem und kaltem Wasser. Danach setzte ich mich wieder in die Küche, um in aller Ruhe die Zeitung zu studieren.
Wie immer begann ich mit den Kontaktanzeigen und sofort fiel mir in den "Amtlichen Bekanntmachungen" die Mitteilung mit den zusätzlichen Öffnungszeiten des Ordnungsamtes am Donnerstag auf.
Aber erst bei näherer Betrachtung sah ich den Zusatztext: "Nur für Einwohner, deren Leben bisher langweilig und ereignislos verlief."