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Kafka, eine Katze, eine tote Maus und kein Gewitter

© Ronald Henss

Gestern die letzte Vorlesung gehalten. Jetzt habe ich Zeit. Viel Zeit. Urlaubszeit, Lesezeit. Endlich mal wieder ein Buch zur puren Unterhaltung gekauft: Franz Kafka. Ein Lesebuch mit Bildern.

Heute war es wieder entsetzlich heiß. Wie die letzten Tage. Wie die letzten Wochen. Die Wetterfrösche haben es bestätigt: Der Juni war der heißeste seit mehr als hundert Jahren. Und der Juli ist, von wenigen Tagen abgesehen, eine Qual. Aber bei uns hat in diesem Jahr der Sommer im Februar begonnen. Seit einem halben Jahr: Sonne, Sonne, Sonne. Fast jeden Tag Sonne. Wenn im Wetterbericht davon die Rede war, dass in anderen Teilen der Republik heftige Unwetter Millionenschäden verursacht haben, konnten wir hier nur verwundert den Kopf schütteln. Regen ist absolute Mangelware. Nun wird auch in den Nachrichten seit Tagen über die anhaltende Trockenheit berichtet. Aber für heute haben uns die Wetterpropheten heftige Gewitter versprochen.

Ich sitze im Garten, der mich so langsam an die Wüste Gobi erinnert. Lese Kafkas "Hungerkünstler". Als ich das Buch heute Mittag kaufte, brannte die Sonne vom Himmel. Jetzt wird es zunehmend schwüler. Der Himmel hat sich zugezogen. In der Ferne ein dunkles Grollen. Gott sei Dank, ein Gewitter. Aber nein, nur ein Motorrad. Also weiter im Hungerkünstler.

Da, am äußersten Rand des Blickfeldes lautlose Bewegung. Schemenhaft. Ah, es ist eine der Nachbarskatzen. Die weiße mit den schwarzen Flecken. Lautlos, langsam, geschmeidig bewegt sie sich zum Baumstamm. Sie reckt sich am Stamm hoch, die Hinterbeine lang ausgestreckt, der Rücken tief durchgebogen, die Vorderbeine weit ausgefahren. Scharfe Krallen bohren sich in die Rinde. Kratzgeräusche dringen bis zu mir. Dann schaut sie mich an. Lange. Eindringlich. Unbeweglich. Drei, vier, fünf Schritte behutsam weiter. Ihr Blick richtet sich auf den Boden, bleibt dort haften. Vor ihr liegt eine tote Maus. Noch ziemlich frisch. Gepflegtes Fell, gesund und kräftig. Aber schon wimmeln auf dem toten Tier die Fliegen. Große, dicke, grün glänzende Schmeißfliegen.

Wie viele sind das? Sechs, sieben, acht. Nein, zählen geht nicht. Die sind ständig in Bewegung. Kleine Luftkriege zwischen zweien, dann sind es vier oder fünf, die aufeinander zu schwirren. Sofort wieder auseinander.

Die Katze ist wenig beeindruckt von dem grün glänzenden Gewirr und dem leblosen grauen Fell. Lautlos schleicht sie ins Gebüsch. Warum wollte sie von der Maus nichts wissen? Hat sie sie selbst erlegt? Oder war's die andere Nachbarskatze, die dunkle, grau-gescheckte? Oder die schneeweiße, die sich nur selten in diesem Revier blicken lässt?

Während ich meinen Überlegungen nachhing hat sich der Himmel weiter verdunkelt. Es besteht also Hoffnung.

Ich lese weiter im Hungerkünstler. Die tote Maus und die wimmelnden Schmeißfliegen lenken mich ab. Die Szenerie zwingt die Gedanken auf Kafkas "Verwandlung". Dieses bizarre Meisterwerk hatte mich schon zu Schulzeiten fasziniert. Ich blättere im Inhaltsverzeichnis. Aha, Seite 37. "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken ..." Nein, diesen Leckerbissen hebe ich mir noch etwas auf.

Es ist noch dunkler geworden, noch schwüler, noch drückender. Ob ich es schaffe, den Hungerkünstler zu Ende zu lesen, bevor der Regen nieder prasselt? Noch während ich dies denke, platscht der erste Tropfen auf den rechten Unterarm. In der Ferne dumpfes Grollen. Diesmal ist es kein Motorrad. Vereinzelt ein paar Tropfen. Ich gehe nach oben.

P.S.: Es hat tatsächlich ein bisschen geregnet. Aber kaum der Rede wert. Als später im heute-Journal vor Unwettern in Nordrhein-Westfalen, Bayern, Thüringen und in Teilen von Sachsen und Sachsen-Anhalt gewarnt wurde, war bei uns alles schon längst vorbei. Am nächsten Tag war die tote Maus verschwunden.

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