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Digital Versatile Disc

Von Dirk Christofczik


1
Die zweite Disc klebte unter der Originalen. Sie war unbeschriftet und ungelabelt, ungewöhnlich für eine Verleih-DVD einer Videothek. Ein herkömmlicher Rohling, der dort in dieser Box nichts zu suchen hatte. Ein unvorsichtiger Raubkopierer, der sein gefälschtes Produkt aus Versehen mit in die Box gelegt hat?, dachte Tobi. Wahrscheinlich!, antwortete er sich selbst. Die Beschichtung auf der Rückseite wies unterschiedliche Farben auf. Ein dunkler Kreis, der sich deutlich von dem Blau der restlichen Oberfläche abhob. Tobi erkannte sofort, dass auf der Disc Daten sind. Bei einem Schluck Bier gingen ihm die wildesten Gedanken durch den Kopf. Vielleicht nur eine Raubkopie des Originals oder aber auch ein unheimlicher Film, der dem Betrachter zwangsläufig den Tod bringt? Bei dem Gedanken lachte er laut auf und beschloss, nicht mehr so viele Horrorfilme zu schauen. Unter Umständen sind es langweilige Bilder eines Sommerurlaubs? Tobi wusste genau, dass er nicht widerstehen könnte, deshalb zögerte er nicht lange, schaltete das Abspielgerät ein und legte die ominöse Disc ein. Schwarzes Bild, sekundenlang. Die grüne Programmkennzahl war das Einzige auf dem dunklen Bildschirm. Dann, wie ein schneller Schnitt, ein Bett, ein großes französisches Bett. Es war leer! Nur ein Kissen und eine Bettdecke in gelber Satinbettwäsche lagen auf der weiß bezogenen Matratze. Kein Ton, absolute Stille! Tobi fühlte eine seltsame Beklemmung in sich aufsteigen. Er hatte Angst, warum auch immer, und ihn überkam der Drang die DVD abzuschalten, den Film samt Rohling zurückzubringen. Dann eine Hand im Bild, die Bettdecke wurde zurückgeworfen. Jemand flüsterte leise Anweisungen, dann wurde ein junges Mädchen ins Bild geschoben. Ein weißer Slip, ein blaues Top, so stand sie am Rande des Bettes und weinte. Ihre Hände waren hinter dem Rücken zusammengebunden. Tom erkannte Kabelbinder, die viel zu stramm um ihre Handgelenke gezogen waren. Dann schubsten das Mädchen zwei Hände auf das Bett. Leise befahl eine Stimme:" Leg dich hin!"
Eine Stimme, tief und rau, völlig gefühlslos, ohne Mitleid. Das Mädchen, höchstens 17, legte sich schluchzend auf den Bauch. Ein Mann trat ins Bild, völlig schwarz bekleidet, eine Ledermaske über den Kopf gezogen. Er schaute in die Kamera. Trotz der Maske wusste Tobi genau, dass der Kerl grinste, dreckig wie das Lachen des Teufels, wenn er die Seelen der Menschen raubt. Der Mann hatte ein Messer in der Hand. Er ging zum Bett rüber. Er stöhnte und keuchte. Das Mädchen schrie, ihre Augen waren vor Angst sperrangelweit aufgerissen, und sie schien zu wissen, was sie erwartet.
Tobi schaltete hektisch den Player aus und blieb minutenlang regungslos vor dem schwarzen Bild sitzen. Entsetzen! Ein ungläubiger Blick starr auf die Mattscheibe gerichtet. Kein Film, kein Hollywood! Echtzeit! Wahres Leid, realer Irrsinn. Verwirrt, blasses Gesicht und weiche Knie, wie eine Kugel Mozzarella, so stand Tobi von seinem Sessel auf. Er ging zum Schrank. In der obersten Schublade lag eine Packung Gauloises, ohne Filter, zu stark für seine Lungen, zu schwach für seinen Geist. Tobi schloss die Augen und zog kräftig an der Zigarette. In seinem Kopf spukte bereits wieder das Bild des gequälten Mädchens. In ihm tobte ein Krieg, ein Gefecht der Gegensätze, das Duell der Extreme. Er wollte das Schicksal des Mädchens nicht weiter verfolgen, doch er wusste bereits jetzt, dass er es trotzdem machen würde. Schon sah er seinen Finger auf der Wiedergabetaste, automatisch drückte er drauf, und der Wahnsinn ging weiter. Der Maskierte schlurfte zum Bett, kniete sich mit einem Bein auf die Matratze und schnitt mit einem kurzen Streich die Fesseln des Mädchens durch. Das Messer war scharf, lang und tödlich. Die Kamera war starr auf das Bett gerichtet. Es gab keinen Zoom, nur eine Perspektive, grausam und statisch. Das Mädchen schrie und wimmerte, aber es wehrte sich nicht, hielt seine Arme und Beine ruhig, so als wären sie immer noch gefesselt. Sie wirkte erstarrt, wie ein Reh, das nachts im Lichtkegel eines Autos steht und scheinbar unberührt auf das kommende Ende schaut. Das Messer des Mannes schnitt durch ihren Slip, dann durch das Top, bis sie schließlich nackt auf dem Bett lag. Sie weinte nicht mehr, auch das Schreien war verstummt. Sie war paralysiert vor Angst. Tobi wusste nun, was es heißt, wenn einem der Schrecken im Gesicht geschrieben steht. Wieder schloss er die Augen, doch die Bilder verschwanden nicht. Trotzdem war es leichter, als sie auf dem Bildschirm zu sehen. Dann hörte man ein seltsames Geräusch, einen schrillen Schrei, schließlich Totenstille. Tobi öffnete die Augen, nur einen kleinen Spalt, dann sah er rot, nur rot. Jetzt war er es der schrie, sich nach vorne stürzte und mit der Faust auf das Tastenfeld des DVD-Spielers hämmerte. Das Bild wurde schwarz, doch Tobi sah immer noch das Mädchen, wie es in ihrem Blut lag. Er würde es nie mehr vergessen können. Tobi hockte vor der Mattscheibe, nass geschwitzt. Er hatte einen tiefen Blick in die Hölle geworfen. In seiner Hand verkokelte die filterlose Zigarette. Als die Glut seine Haut verbrannte, erwachte er aus seiner Lethargie und überlegte, was er tun könnte. Die Polizei, es gab nur eines, die Polizei!

3
"Hier ist die Kriminalpolizei! Mein Name ist Inspektor Helmut Thurmann! Sie haben uns angerufen Herr Schroer!" Tobi war erleichtert, als es klingelte und die Stimme des Polizisten durch die Rufanlage dröhnte.
"Warten sie, ich lasse sie rein!", antwortete Tobi und drückte den Türöffner. Er atmete tief durch. Die DVD hatte ihn mitgenommen, schließlich war er Zeuge eines realen Mordes geworden, daran zweifelte Tobi mittlerweile nicht mehr. Die Schritte des Polizisten hallten durch den Hausflur. Langsam kamen sie näher und je lauter sie wurden, um so mehr fiel die Anspannung von Tobi ab. Er würde dieses Schreckenszeugnis bald loswerden. Die Polizei würde alles weiter in die Hand nehmen, und er könnte das Gesicht des Mädchens vergessen. Vergessen? Tobi machte sich was vor. Das Gesicht des Mädchens war in seinem Kopf eingebrannt, die Angst, der Schrecken, dieser unbeantwortete Schrei nach Hilfe.
"Herr Schroer?" Die Stimme des Beamten holte ihn aus seinen Gedanken. Vor der Tür stand ein Mann in einer schwarzen Nappalederjacke und lächelte Tobi freundlich an. Er hielt einen Ausweis in der Hand, den Tobi nicht beachtete.
"Ich bin froh, dass sie da sind! Kommen sie rein Herr...?"
"Thurmann, Inspektor Helmut Thurmann!", half ihm der Polizist, während er den Dienstausweis in der Jacke verschwinden lies und in den Korridor trat.
"Kommen sie rein! Die CD ist im Wohnzimmer. Unglaublich, was da zu sehen ist. Ich kann es wirklich nicht fassen."
"Bleiben sie ganz ruhig Herr Schroer. "
"Das sagen sie so leicht, aber so etwas Grausames habe ich noch nie gesehen. Die DVD ist noch im Player. Ich mache den Fernseher an. Seien sie mir nicht böse, aber ich gehe in die Küche, während sie sich das anschauen."
"Ich werde mir die DVD erst im Präsidium ansehen."
"Ach so! Na ja, dann werde ich sie mal rausholen. Setzen sie sich doch." Tobi deutete auf seine Couchgarnitur.
"Nicht nötig, danke. Ich muss sie bitten, mit ins Präsidium zu kommen, um für eventuelle Fragen zur Verfügung zu stehen.", antwortete der hochgewachsene Polizist.
"Ähm, gut, natürlich, wenn es sein muss."
Tobi beförderte die Disc aus dem Player, packte sie in die Videothekenbox und reichte sie dem Polizeibeamten. Der Mann nickte und lies die Box in seiner Jackentasche verschwinden.
"Ich hole schnell meine Jacke, dann können wir."
"Ok, lassen sich nur Zeit. Wir haben es nicht eilig."
"Nachtdienst?", fragte Tobi, während er in den Korridor ging und seine Jeansjacke von der Garderobe nahm.
"So ist es! Wird eine lange Nacht!", antwortete der Polizist und folgte Tobi in den Korridor.
"Sie können sich gar nicht vorstellen was ich gesehen habe. Das war so unvorstellbar schrecklich! Unbeschreiblich." Tobi zog sich seine Jacke an. Der Polizist wartete auf der Schwelle zum Wohnzimmer.
"Doch ich kann mir vorstellen, was sie gesehen haben."
"Was?"
"Ich kenne diese Dinge, ich sehe sie tagtäglich."
"Ach so! Natürlich. Von mir aus können wir los. Wartet ihr Kollege unten?"
"Mein Kollege? Nein, ich bin heute allein unterwegs. Mein Partner war noch nicht im Dienst, als sie angerufen haben. Wir wollten sie nicht warten lassen."
"Ach, sie sind allein." Seltsam, dachte Tobi, mass der Sache aber keine weitere Bedeutung zu.
Er drehte sich um und schaute den Inspektor an. Der Mann lächelte freundlich. Sein Gesicht war gebräunt und zwischen seinen Lippen offenbarten sich schneeweiße Zähne.
"Das ist sehr nett von ihnen.", sagte Tobi und schloss die Haustür hinter sich.

4
"Wollen sie eine Zigarette?"
"Gern!", antwortete Tobi und zog sich eine Camel aus der Schachtel, die ihm der Polizist entgegenhielt. Der Dienstwagen war ein Opel Vectra, weiß, dunkle Kunstledersitze. Der Innenraum war ordentlich, der Aschenbecher, den der Beamte rausgezogen hatte, sauber und unbenutzt. Statt des Radios ein Funkgerät, aus dem pausenlos Funksprüche gesendet wurden. Tobi zog genüsslich an seiner Zigarette und blies Kreise in die Luft. Auf die Windschutzscheibe plätscherte ein leichter Nieselregen, und das monotone Geräusch des Scheibenwischers beruhigte ihn zusehends. Die Straße war nass. Der Asphalt blitzte feucht im Lichtkegel des Scheinwerfers. Sie fuhren vom Parkplatz vor seinem Haus, dann rechts am Plus-Markt vorbei. An der nächsten Kreuzung hielten sie an, die Ampel zeigte rot.
"Ich kann mich nicht erinnern diese verdammte Ampel irgendwann einmal bei Grün erwischt zu haben." Tobi drehte sich zur Fahrerseite und grinste breit.
"Fahren sie doch durch, sie sind die Polizei!", antwortete er trocken. Der Beamte lachte. Dann drückte er seine Zigarette im Ascher aus.
"Ich könnte die rote Birne ausschießen.", konterte er nach einer Weile.
"Na ja, vielleicht sollten wir doch lieber warten, bis die Ampel grün wird."
"Ist wahrscheinlich besser." Ein paar Fußgänger überquerten die Straße, dann wurde die Ampel grün. Sie bogen auf die Hauptstraße ab und fuhren in Richtung Innenstadt. Aus dem Funkgerät quäkte die Stimme weiter und rief irgendeinen Streifenwagen mit der Nummer 1.15.
"Das, was sie gesehen haben, war hart, nicht wahr?"
"Das kann man wohl sagen."
"Sie sind immer noch ganz schön blass." Tobi merkte, wie ihn der Polizist von der Seite musterte.
"Das wundert mich nicht. Bin froh, dass ich nicht kotzen musste!", sagte Tobi, sog noch einmal an der Zigarette und drückte sie dann im Aschenbecher aus.
"Wie ist das bei ihnen?", fragte er den Polizisten.
"Was meinen sie?"
"Ich meine, wie gehen sie mit den Grausamkeiten um? Sie doch bestimmt täglich Mord und Totschlag?" Für einen Moment dachte Tobi, dass der Polizist nicht antworten wollte. Es war still im Wagen, und nur die Stimme aus dem Funkgerät bellte ihren Suchruf nach Wagen 1.15. Dann räusperte sich der Polizist und begann zu sprechen.
"Ich habe schon viele Dinge gesehen, die für die meisten Menschen unvorstellbar sind. Das bringt mein Beruf nun mal mit sich."
"Das ist klar, aber wie war es am Anfang? Wie haben sie sich daran gewöhnt?"
"Man gewöhnt sich daran." Die Art wie der Polizist das sagte, wirkte kurz angebunden, fast abweisend. Gerade als Tobi sich damit abfinden wollte, dass sie den Rest der Fahrt schweigend verbringen würden, da fuhr der Beamte fort.
"Das ist nicht wahr."
"Was?", fragte Tobi überrascht. Er hatte das Thema für sich längst abgehakt.
"Es nicht wahr! Man gewöhnt sich niemals daran. Es ist immer wieder neu, jedes Mal faszinierend."
"Faszinierend?"
"Ja, ich würde es so nennen. Faszinierend!"
Tobi schaute auf die nasse Straße. Der Scheibenwischer rumpelte quietschend über die Windschutzscheibe. Vor seinem geistigen Auge wiederholten sich die Bilder des verzweifelten Mädchens, dieser hilflose Blick, dieser Schrei nach Hilfe. Dieser Kerl spricht von Faszination, dachte Tobi entsetzt.
"Halten sie mich für kalt?"
"Nein, nein!"
"Sie halten mich für kalt! Aber das bin ich nicht, ich bin alles andere. Ich bin sogar das genaue Gegenteil. Emotionen sind der Motor meines Lebens. Gefühle sind meine Natur, unbändig, manchmal unzähmbar, wie ein wilder Schimmel. Der Tod, das Leiden der Menschen. Das bewegt mich bis ins Mark. In gewisser Weise, brauche ich das alles, um zu leben."
"Sie brauchen den Tod, um zu leben?" Tobi schaute den Polizisten von der Seite an. Irgendetwas schien ihm mittlerweile seltsam an diesem Typen. Redet so ein Polizist?, fragte sich Tobi mit wachsender Nervosität.
"Wagen 1.15 bitte melden sie sich. Wagen 1.15! Melden sie sich!", hallte es aus dem Funkgerät. Sie bogen nach rechts auf die Bismarkstraße ab, was nicht gerade dazu beitrug, Tobi zu beruhigen. Das Polizeipräsidium lag im Norden der Stadt, sie waren jetzt Richtung Westen unterwegs.
"Die Hauptstraße ist gesperrt. Ein Wasserrohrbruch am Nachmittag. Wir werden einen kleinen Umweg fahren müssen."
"Ach so!"
"Sie sehen alle gleich aus!", sagte der Polizist plötzlich.
"Was? Wer?"
"Die Sterbenden! Sie sehen alle gleich aus, wenn sie sterben!"
"Sie meinen die Toten sehen alle gleich aus."
"Dann auch. Aber wenn sie sterben, dann sind sie wie Klone. Sie jammern, schreien und betteln. Schließlich ergeben sie sich ihrem unabwendbarem Schicksal und sterben mit diesem seltsamen Blick in den Augen." Tobi blickte hilfesuchend durch den Wagen, dann traf ihn die Gewissheit wie ein Keulenschlag. Der kleine Aufkleber am Funkgerät, den er die ganze Zeit nicht wahrgenommen hatte, schien jetzt groß wie eine Werbetafel. Wagen 1.15 stand mit Klebebuchstaben auf dem Gehäuse des Funkgerätes. Tobi riss die Augen auf und krallte sich mit seinen Nägeln im Polster des Sitzes fest. Er schaute auf die Tür an seiner Seite. Langsam ließ er die Hand zum Türöffner gleiten.
"Wie ich schon sagte. Faszinierend! Übrigens, Kindersicherung! Ich habe es vorher getestet." Der Mann blickte mit einem Grinsen auf Tobis Hand. Tobi zog den griff der Tür. Nichts. Er begann zu schwitzen. Eine riesige Hitzewelle wälzte sich durch seinen Körper. Sein Muskeln zogen sich zusammen. Gespannt wie ein Flitzebogen, saß er auf seinem Sitz. Er schaute nach links, dann sah er den Ellbogen des Mannes auf sich zukommen. Tobi spürte noch den stechenden Schmerz in seinem Gesicht, dann wurde es schwarz vor seinen Augen.

5
Es war mitten in der Nacht, als Tobi aufwachte. Er saß immer noch im Wagen, aber nicht mehr auf dem Beifahrersitz, sondern hinter dem Steuer des Polizeiautos. Seine rechte Hand war mit einer Handschelle am Lenkrad gefesselt. Vom dem Mann war nichts zu sehen. Es dauerte eine Weile bis sich Tobis Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann sah er, dass der Wagen am Ufer eines Sees stand. Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet, nur der Mond erhellte die Wasseroberfläche schwach. Ein leichter Wind zog über das Wasser und kräuselte ein paar kleine Wellen auf. Tobi ahnte sofort, dass er wahrscheinlich mitsamt dem Wagen in diesem See versenkte werden sollte. Nervös begann er an den Handschellen zu zerren, doch außer ein paar schmerzhaften Druckstellen an seinen Handgelenken, die er sich zuzog, war das Unterfangen sinnlos. Verzweiflung suchte sich seinen Platz in Tobis Kopf, verbreitete sich schnell wie eine Seuche, um schließlich die Herrschaft über ihn zu übernehmen. Kalte Luft strömte durch das offen stehende Beifahrerfenster. Es herrschte eine bedrückende Stille. Tobi hörte seinen Herzschlag, der wie ein D-Zug durch seine Ohren raste. Dann roch er den Qualm einer Zigarette. Eine Hand legte sich auf den Rand des Beifahrerfensters, eine andere öffnete die Tür. Dann sah Tobi die glühende Zigarettenspitze durch das Seitenfenster, die wie ein Glühwürmchen durch die Dunkelheit hüpfte. Schließlich öffnete sich die Tür, und der Pseudopolizist setzte sich auf den Beifahrersitz. Schweigend hielt er Tobi ein Schachtel Camel entgegen. Kopfschüttelnd, und mehr aus Trotz, lehnte er ab.
"Du solltest noch eine rauchen. Ich brauche wohl nicht extra zu sagen, dass es deine Letzte ist.", sagte der Mann mit einem diabolischen Grinsen.
"Leck mich!" Das Grinsen weitete sich zu einem schallenden Lachen aus.
"Wie putzig."
"Macht es ihnen Spaß zu quälen? Ich habe gesehen, wie sie das Mädchen gefoltert haben."
"Ach je, du hast ja nicht einmal die Hälfte gesehen. Die auf der DVD war nur eine von vielen. Süß, aber eben nur eine von vielen. Ich mag dich! Du siehst geil aus! Ehrlich, aber leider hast du dir zur falschen Zeit diesen Matrix-Schwachsinn ausgeliehen." Tobi versuchte einen klaren Kopf zu behalten, obwohl er vor Angst wie gelähmt war. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was er machen könnte, im Grunde gab es kein Entrinnen, doch aufgeben wollte er nicht. Das Einzige was ihm einfiel, war den Mann in ein Gespräch zu verwickeln.
"Woher wussten sie, dass ich die DVD ausgeliehen habe?", fragte Tobi mit zitternder Stimme. Der Kerl schaute in seltsam an, immer mit diesem diabolischen Lächeln auf dem glatt rasierten Gesicht.
"Das war nicht schwer rauszubekommen. Das Mäuschen in der Videothek ist ganz vernarrt in mich. Vielleicht schnappe ich sie mir als Nächstes. Ja, genau! Das werde ich machen. Ich habe ihr irgendetwas erzählt, dann hat sie mir gesagt, wer nach mir alles die DVD ausgeliehen hat. Es waren nur drei Leute. Du wirst es nicht glauben, aber du warst der Erste auf meiner Liste."
"Was ist mit den Bullen? Das ist doch nicht ihr Wagen?"Tobi ahnte, was mit den wirklichen Polizisten geschehen ist, denn seit ein paar Minuten hörte er schabende Geräusche aus dem Heck des Autos. Der Mann neben ihm deutete mit dem Kopf auf den Kofferraum, wobei die Glut seine Zigarette, die lässig im Mundwinkel hing, durch den halb dunklen Innerraum des Wagens zu schweben schien.
"Ich habe vor deinem Haus gewartet. Als ich die beiden sah, da wusste ich sofort, dass es Bullen sind. Dann war natürlich klar, dass du meine Scheibe hast." Der Kerl zog an seiner Zigarette und blies Tobi den Qualm ins Gesicht. Eine Woge aus Nikotin und Knoblauch schwappte durch sein Gesicht und kroch in seine Nasenlöcher. Tobi hustete und für einen Augenblick dachte er, dass er sich übergeben müsste.
"Soll ich die beiden erlösen, bevor ich euch in den See schubse? Was meinst du? Soll ich ihnen die Kerle durchschneiden?" Tobi überlegte einen Augenblick, dann setzte er auf Angriff.
"Sie sind krank!" Mehr als das eintönige Dauergrinsen war aus dem Kerl nicht rauszuholen. Blitzschnell, wie hervorgezaubert, hatte der Mann plötzlich ein Butterflymesser in der Hand. Gekonnt spielte er mit der Waffe, lies die Klinge blitzschnell im Griff verschwinden, um sie mit einer flinken Bewegung wieder zum Vorschein zu bringen.
"Ach Moment!", sagte Tobi.
"Sie sind nicht krank!", fuhr er fort.
"Eigentlich sind sie nur ein armes Würstchen. Ein Looser, ein kleiner Feigling, der mit dem Messer in der Hand wehrlose Mädchen fickt und sie dann abschlachtet wie Vieh. Sie haben keinen Mumm! Du bist ein..."
"Halt deine Fresse!", unterbrach ihn der Kerl lautstark. Sein Lächeln war verschwunden und wurde durch eine Grimasse ersetzt, die Tobi einen kalten Schauer über den Rücken laufen lies. Der Mann packte Tobi im Genick und zog ihn soweit die Handschellen es zuließen zu ihm rüber. Dann spürte er das kalte Metall der Messerklinge an seinem Hals. Tobi schloss die Augen. Er erwartet einen stechenden Schmerz oder wie auch immer sich ein Schnitt an der Kehle anfühlen würde. Doch nichts passierte. Er öffnete die Augen. Der Griff in seinem Nacken löste sich. Der Mann zog das Messer von seinem Hals und starrte Tobi an. Aus dem Heck hörte man ein leises Wimmern, so als hätte jemand eine Katze dort versteckt. Der Blick des Mannes hatte sich verändert. Er schaute nicht mehr so aggressiv und kampfbereit, sondern gedankenversunken durch Tobi hindurch.
"Hören sie! Lassen sie mich und die Männer dahinten frei. Noch ist es nicht zu spät. Sie kommen eine Weile in den Knast oder sonst wo hin. Nach ein paar Jahren können sie ein neues Leben anfangen. Sie wissen doch, wie das hier in Deutschland ist. Gut, sie haben getötet, aber sie nehmen sich einen guten Anwalt, dann ist das alles kein Problem."
Tobi schien mit einer Wand zu sprechen. Keine Reaktion, keine Antwort, nur der Griff nach einer weiteren Zigarette, die der Killer wortlos anzündete. Er zog ein paar Mal hektisch an der Zigarette, blies den Rauch in den Wagen, dann stippte er den Rest aus dem offenen Seitenfenster. Leise, fast sanft begann er zu sprechen.
"Nun gut, du willst, dass ich dich freilasse? Ok!" Der Killer krammte einen Schlüssel aus der Innentasche seiner Lederjacke hervor. Mit einer kurzen Bewegung steckte er den Schlüssel in das Schloss der Handschelle. Mit einem Klicken öffnete sich die Fessel und Tobis Hände waren frei. Er hätte den Überraschungsmoment nutzen und den Kerl angreifen können, aber ihm fehlte der Mut, so lies er die Chance verpuffen. Sekunden später sah er wieder die funkelnde Messerklinge in der Hand des Killers. Tobi schaute ungläubig, wartete auf einen Angriff, doch der Kerl bewegte sich nicht.
"Ich habe Lust auf ein kleines Spielchen."
"Was für ein Spiel?", fragte Tobi.
"Ein kleines Wasserspiel!"
"Ein Wasserspiel?"
"Jo. Genau. Du wirst ein Bad nehmen. Dort drüben im See." Mit der Klinge zeigte er dabei auf die dunkle Fläche.
"Wenn du es schaffst, auf die andere Seite zu schwimmen, dann bist du frei und wirst mich nie wieder sehen. Hier!" Er zog die DVD aus seiner Jacke.
"Ich gebe dir sogar die Scheibe mit. Wenn du es schaffst, dann kannst du zu den Bullen gehen und mich ans Messer liefern." Er nahm die DVD und steckte sie ihm in die Innentasche seiner Jeansjacke. Tobi war sich nicht sicher, was der Kerl damit bezwecken wollte. Wollte er tatsächlich, dass er mitten im März durch diesen See schwimmt? Er schaute hinaus auf die dunkle Wasseroberfläche. Das Wasser war glatt, nur ab und zu brach der Wind ein und wirbelte es auf. Das andere Ufer war nicht zu sehen, so konnte man nicht abschätzen, wie weit es bis zur anderen Seite ist. Er war immer ein guter Schwimmer, aber das bedeutete nicht das geringste. Tobi wusste, dass es einen gehörigen Kraftakt brauchte, um einen kalten See in der Dunkelheit zu durchschwimmen.
"Was ist? Willst du warten, bis ich es mir anders überlege?"
"Nein, ich werde schwimmen. Was ist den Männern dahinten?"
"Denk an dich!", antwortete der Killer knapp.
"Wer garantiert mir, dass sie nicht gemütlich um den See fahren und mich am anderen Ufer grinsend empfangen?"
"Niemand. Du hast nur mein Wort."
Tobi starrte ihn ein paar Sekunden wortlos an, dann nickte er und griff mit der Hand den Türöffner. Einen Moment dachte er daran, doch noch einen Angriff zu starten. Er tat es nicht, sondern verlies den Wagen und ging zum Ufer des Sees. Der Killer blieb im Wagen, doch sein Blick klebte Tobi im Nacken. Der Boden war weich am Ufer. Er nahm die DVD aus der Jacke und steckte sie sich in die Backentasche seiner Jeans, dann schlüpfte er aus seine Sneakers. Sofort spürte er den feuchten Matsch, der durch seine Sportsocken drang.
"Das reicht, der Rest bleibt an.", rief ihm der Killer aus dem Wagen zu.
"Warum?"
"Frag nicht. Ich mache die Regeln für das Spielchen!"
"Scheiß Regeln!", murmelte Tobi leise, dann ging er so weit wie möglich an das Wasser heran. Schon jetzt spürte er die eisige Kälte des Sees. Er schaute hinaus auf die dunkle Fläche. Noch immer konnte er die andere Seite nicht sehen. Etwa in der Mitte des Sees erkannte er schemenhafte Umrisse, die aus dem Wasser ragten. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was es sein könnte.
"So, dann leg mal los!", rief der Kerl ihm zu. Tobi drehte sich um und sah ihn grinsend aus dem Fenster starren. Er hatte genug von diesem Gesicht, also drehte er sich um und watete ins eisige Wasser. Der Boden des Sees war glitschig und Tobi wäre fast ausgerutscht. Er konnte sich fangen, rutschte aber ein paar Meter weiter nochmal aus und stürzte kopfüber ins Wasser. Der erste Schock der Kälte war überwältigend. Tobi strampelte mit den Beinen, wollte sich wieder auf die Beine stellen, doch er spürte den Grund nicht mehr. Der See war jetzt so tief, dass schwimmen das Einzige Fortbewegungsmittel war. Er begann mit hektischen Kraulbewegungen, doch nach einigen Metern besann er sich auf langsame Brustzüge, die ihn nicht so schnell erschöpften. Tobi versuchte zurückzuschauen, doch er konnte nichts erkennen, weder das Ufer, noch den Killer im Wagen. Die Konzentration auf das Schwimmen schien ihm nun wichtiger, also schaute er nach vorn. Da das gegenüberliegende Ufer immer noch nicht zu sehen war, hielt er es für besser einen Punkt zu fixieren, der ihm helfen konnte, geradeaus zu schwimmen. Während er langsame Schwimmzüge machte, fiel sein Blick wieder auf die schemenhaften Umrisse, die er bereits vom Ufer gesehen hatte. Tobi wusste immer noch nicht, was er da sah, aber als Fixpunkt war es ideal, also schwamm er genau darauf zu. Die Kälte drang durch seine Körper und wirkte wie ein Betäubungsmittel. Es fiel ihm immer schwerer, die Züge zu machen. Das Wasser schien zu Brei zu werden, den man nur mühsam beiseite schaffen konnte. Die Schemen auf dem Wasser wurden nur langsam deutlicher, und es dauerte noch eine ganze Weile, bis Tobi endlich erkannte, was da aus dem Wasser ragte. Als er dann wusste, was es war, da wurde ihm auch klar, wo er sich befand. Was dort vor ihm meterhoch aus dem See ragte, war ein Bagger. Es war der alte verrostete Bagger, der schon seit Jahren im See lag und niemals gehoben wurde. Tobi kannte diesen Bagger. Der See, durch den er schwamm, war der Kieselsee, ein Baggersee etwas außerhalb der Stadt. Er war ein wenig erleichtert, denn er war diesen See schon zig Mal durchschwommen. Auch wenn es schon einige Jahre her war, diese Entfernung könnte er schaffen. Tobi musste sich beherrschen nicht schneller zu schwimmen. Langsam und ruhig zog er seine gerade Bahn in Richtung Bagger. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, doch schließlich war er direkt vor dem verrosteten Eisenkoloss. Lediglich der Ausleger schaute einige Meter aus dem Wasser. Die Schaufel hing wie der Kopf eines erstarrten Raubtieres am Ende der Stahlkonstruktion. Tobi klammerte sich am Eisen fest und kletterte ein Stück aus dem Wasser. Außerhalb des Wassers war es zwar nicht wesentlich wärmer, aber trotzdem brachte ihm die kurze Pause auf dem Trockenen ein wenig Erholung. Er versuchte seine Zehen zu bewegen, die wie gefrorene Zapfen an seinen Füßen hingen. Seine Finger knackten als er sie langsam bewegte, doch er hatte noch Kraft und die wollte er nutzen, um sich zu retten. Nachdem er sich ein wenig besser fühlte, sondierte er die Lage. Tobi versuchte hinüber an das Ufer zu schauen, wo der Killer ihn ins Wasser gescheucht hatte. Doch es war zu dunkel. Außerdem hatte sich ein Nebelstreifen über das Wasser gelegt und erschwerte die Sicht zusätzlich. Das Ufer auf der Seite des Sees war genauso wenig zu sehen, wie das auf der anderen Seite. Tobi fühlte sich wie auf dem offenen Meer. Im Ausguck eines Seglers, eingekeilt von Wasser, das bis zum Horizont reichte. Doch er musste nicht nach Land suchen, denn er wusste genau, wohin er schwimmen musste, um diesem klammen Eisfach zu entkommen. Er holte noch ein paar Minuten Luft, massierte sich die Arme und die Beine, dann ließ Tobi sich zurück ins Wasser gleiten. Zielstrebig steuerte in die Richtung, in der er das nächstgelegene Ufer vermutete. Zügig, aber nicht zu schnell schwamm er durch das kalte Wasser. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er vage den sandigen Uferbereich ausmachen konnte. Kurz bevor er wieder Boden unter den Füßen spürte, hielt er inne und sondierte den künstlichen Strand, der im Sommer als Freizeitbad fungierte. Tobis Blick glitt über das Ufer, immer in der Erwartung den Killer zu entdecken. Er war nicht zu sehen, was nicht bedeutete, dass er nicht da war. Trotzdem war Tobi erleichtert. Erst als er aus dem Wasser auf den Sandstrand stapfte, da merkte er, wie erschöpft und durchgefroren er war. Müde ließ sich Tobi auf den Boden sinken, streckte alle Glieder von sich und ließ sein Gesicht in den matschigen Sand fallen. Er schmeckte die Sandkörner auf seinen Lippen, der bittere Geschmack des Wassers drang in seine Kehle. Trotz seiner Erschöpfung raffte er sich nach einigen Minuten auf. Auf allen Vieren kroch Tobi über den Strand, um so schnell wie möglich in die sichere Deckung der angrenzenden Bäume zu kommen. Jederzeit rechnete er damit, dass der Kerl plötzlich auftauchte und im kichernd die Kehle durchschnitt. Doch er kam nicht und Tobi wurde sicherer. An einem der Bäume lehnte er sich sitzend an und atmetet ein paar Mal die frische Abendluft durch seine Lungen. Jetzt, wo er in Sicherheit war, da kamen sie! Sie kamen wie eine Horde wilder Bienen, erst summend, dann stechender Weise. Ein ganzer Schwarm von Gedanken prasselte auf ihn ein und ließ ihn erschaudern. Was ist passiert? Wo ist der Kerl? Was soll ich tun? Wo ist das Mädchen? Was ist mit den Polizisten? Hat er sich schon die Kleine aus der Videothek geschnappt? Wie komme ich hier weg? Er wusste nicht, woran er zuerst denken sollte, und wie immer vermischten sich seine Fragen und Gedanken zu einer Pampe aus verschwommenen Bildern, die sich in seinem Kopf festsetzten. Tobi schaffte es nicht sie zu ordnen, einen roten Faden in seinen Kopf zu bekommen. Er war hilflos und durcheinander wie ein kleines Kind. Hätte ihn nicht eine Stimme fast zu Tode erschreckt, dann hätte er wahrscheinlich noch Stunden so gesessen und sich seinen wirren Bildern ergeben.

6
Tobi hätte den Mann fast erwürgt. Erst als er merkte, dass es nicht der Killer war, der ihn am Ufer angesprochen hatte, ließ er von ihm ab und kassierte einen fetten Kinnhaken. Als er wieder zu sich kam, sah Tobi als Erstes das Grün einer Polizeiuniform. Ein Beamter stand vor ihm und sprach ihn leise an, der andere stand ein paar Meter abseits. Er unterhielt sich mit dem Mann, der ihn gefunden hatte. Er hatte ebenfalls eine Uniform an, allerdings eine Dunkelblaue, die das Emblem eines bekannten Wachdienstes auf der Brust eingestickt hatte.
"Hören sie mich?", sprach ihn der Polizist an.
"Was machen sie hier? Haben sie getrunken?" Um seine Vermutung zu bestätigen, bückte sich der Polizist zu ihm herunter und schnüffelte mit der Nase vor seinem Gesicht herum. Er schien überrascht, dass er keine Fahne roch.
"Ich muss mit ihnen reden!", stammelte Tobi leise. Der andere Polizist kam dazu und legte ihm eine Wolldecke über.
"Besoffen?", fragte der eine Polizist den anderen.
"Nein, ich riech nichts."
"Vielleicht irgendetwas anderes."
"Ich muss ihnen etwas zeigen. Es ist wirklich dringend!", krächzte Tobi und begann in seiner Jacke zu kramen. Die beiden Polizisten gingen einen Schritt zurück, die Hand an ihren Waffen. Tobi zog die DVD hervor und hielt sie den Beamten entgegen.
"Hier sehen sie sich das an."
Die Fahrt zum Präsidium verbrachte Tobi eingemummelt in der Decke auf dem Rücksitz des Streifenwagens. Nachdem sie angekommen waren, führten sie ihn in einen fensterlosen Raum. Außer einem Holztisch und zwei Stühlen war das Zimmer leer. Tobi nahm auf einem der Stühle Platz. Jemand brachte ihm einen Pappbecher mit heißem Automatenkaffee, ein Handtuch und eine grüne Jogginghose mit dem passenden T-Shirt dazu. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, zog er Hose und Shirt an und wartete Kaffee trinkend was geschehen würde. Ein Polizist in einem dunklen Anzug kam in den Raum und setzte sich ihm gegenüber auf den Stuhl. Der Mann stellte sich als Hauptkommissar Meiners vor, bot ihm eine Zigarette an und ließ Tobi reden. Er erzählte ihm die ganze Geschichte, von der seltsamen DVD bis zu seiner Überlebenskampf im kalten Wasser des Baggersees. Der Beamte machte sich ein paar Notizen, ansonsten hörte er schweigend zu, was Tobi zu erzählen hatte. Fast 20 Minuten redete er ununterbrochen. Am Ende lächelte der Kommissar, bot ihm noch eine Zigarette an und ließ ihm noch einen Kaffee bringen. Dann entschuldigte er sich für einen Moment und verließ den Raum. Etwa eine halbe Stunde saß Tobi allein am Tisch, trank den viel zu starken Kaffee und versuchte seine Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken. Ein Phantombild werden sie machen wollen, dachte Tobi und versuchte sich das Gesicht des Killers ins Gedächtnis zurückzurufen. Doch er konnte sich einfach nicht richtig erinnern. Ein verschwommenes Bild geisterte durch seinen Kopf. Keine klaren Konturen, nur eine Ahnung, dass da jemand war.
"Wo bist du?", murmelte Tobi. Die Tür ging auf, der Polizist kam wieder herein, mit ihm ein schlanker, hochgewachsener Mann, der sein letztes Haar auffällig über die kahlen Stellen seines Kopfes gekämmt hatte. Der Polizist hatte einen weiteren Stuhl in der Hand. Er stellte ihnen neben seinen, dann setzten sich beide hin.
"Wir haben uns die DVD angesehen Herr Schroer!", begann der Polizist.
"Schrecklich, nicht wahr." Die beiden Männer schwiegen und wechselten einen kurzen Blick.
"Es war nichts auf dieser DVD!", antwortete der zweite Mann nach einer Weile.
"Was? Wie meinen sie das?"
"Sie war leer! Auf der DVD ist nichts zu sehen."
"Blödsinn!", herrschte Tobi den Mann an.
"Wer sind sie überhaupt?" Der Polizist stand auf, ging um den Tisch und blieb neben Tobi stehen.
"Herr Schroer. Es gibt keinen Streifenwagen 1.15 in unserer Staffel, und nirgendwo wird ein Wagen vermisst, geschweige denn die Besatzung." Tobi starrte den Polizisten an, so als wolle er sich vergewissern, dass diese Worte gerade tatsächlich aus seinem Mund gekommen waren. Dann begann er zu lachen, erst leise, dann laut, um eine Sekunde später, schlagartig zu verstummen.
"Wollen sie mich auf den Arm nehmen Herr Kommissar?"
"Warum sollte ich das tun? Wir haben übrigens tatsächlich einen Wagen am Ufer des Sees gefunden. Es war aber kein Streifenwagen und es lagen Polizisten im Kofferraum." In Tobi keimte Wut auf. Er hatte die Hölle durchgemacht und jetzt wollten die Typen ihn hier kräftig verarschen. Er wollte aufstehen, doch der Polizist drückte ihn mit der Hand zurück auf den Stuhl.
"Es ist ihr Wagen Herr Schroer, den wir am Ufer des Baggersees gefunden haben."
"Ha, ha! Ich lach mich tot. Mein Wagen? Sie sind ja krank!"
"Nein Herr Schroer, sie sind krank!", sagte nun der andere Mann völlig ruhig und sachlich.
"Mein Gott! Sagen sie mir endlich, wer sie sind!"
"Das ist Dr. de Lura. Chefarzt der Ruhrklinik in Herne!", stellte ihn der Polizist nun endlich vor. Der Doktor tippte sich mit seinem Finger an einen imaginären Hut. Tobi schaute ihn nur prüfend an, verwirrt und völlig ahnungslos.
"Was soll denn der ganze Zirkus hier? Ich präsentiere ihnen einen Killer auf dem Tablett und sie, was machen sie? Sie schleppen irgendeinen Doktor an und wollen mir einreden, dass alles nicht wahr ist, was ich durchgemacht habe. Da sagen sie noch ernsthaft, dass ich krank bin?"
"Wir haben sie überprüft, sie sind...", sagte der Polizist, wurde aber durch eine Handbewegung des Doktors abrupt unterbrochen. Zum ersten Mal stand der Arzt von seinem Stuhl auf und ging ein paar Schritte auf Tobi zu.
"Tobi. Ich darf sie doch so nennen?" Er nickte kurz, dann fuhr der Doktor vor.
"Ich glaube ihnen, dass sie diesen Mann gesehen haben. Er war da, darin besteht kein Zweifel. Aber dieser Mann, er ist nicht der, der er vorgibt zu sein. Er ist ein Phantom, ein ungebetener Gast in ihrer Vorstellung, der ihnen etwas vorspielt. Ich möchte ihnen dabei helfen, diesen Menschen aus ihrem Kopf zu verjagen." Tobis Blick hatte sich verfinstert. Alles um ihn herum stürzte zusammen. Man war gerade dabei, ihn für schizophren zu erklären. Er war sicher, das Ziel einer dunklen Verschwörung geworden zu sein. Sie wollten diesen Killer schützen.
"Nein, sie wollen... Was ich ihnen nicht ... Nein." Tobi stotterte, zitterte mit den Händen und schüttelte unaufhörlich mit dem Kopf. Der Doktor trat auf ihn zu, doch Tobi sprang auf und wich zurück.
"Sie kriegen mich nicht. Sie stecken unter einer Decke... Was wollen sie? Nein, fassen sie mich nicht an!" Er streckte die Arme nach vorne, ballte die Fäuste und wollte sich wehren. Der Polizist kam von der Seite, packte ihn überraschend und riss ihm die Arme hinter den Rücken. Tobi schrie auf. In dem Augenblick zog der Doktor eine Spritze aus der Tasche seiner Jacke und stürmte blitzschnell nach vorn. Mit einer gekonnten Bewegung stach er die Nadel in seinen Oberarm und spritzte die Flüssigkeit in Tobis Körper. Sekunden später verschwamm alles um ihn herum. Die Decke begann sich zu drehen und das Mobiliar schien sich zu verflüssigen. Dann sackte Tobi zusammen. Der Polizist fing ihn auf und legte ihn behutsam zu Boden.
Als Tobi wieder zu sich kam, konnte er sich nicht bewegen. Erst nach ein paar Sekunden realisierte er, dass er festgebunden auf einer Liege eines Krankenwagens lag. Von draußen hörte er die Geräusche des Verkehrs, und eins ums andere Mal rumpelte der Wagen durch ein Schlagloch. Das Betäubungsmittel hinterließ einen leichten Schleier vor seinen Augen. Sein Mund war nahezu ausgetrocknet. Er sehnte sich nach einem Schluck Wasser, aber niemand war bei ihm. Als der Wagen anhielt, war Tobi wieder in einen leichten Dämmerschlaf gefallen und er hatte keine Ahnung, wie lange sie gefahren waren. Die Türen der Ambulanz wurden aufgerissen, zwei junge Männer schnappten sich die Liege und zogen sie aus dem Wagen.
"Wo sind wir hier?"
"Ruhrklinik!", antwortete einer knapp. Sie stellten die Bahre samt Tobi auf ein Rollgestell und schoben ihn über einen schmalen Weg zum Eingang der Klinik.
"Hallo Tobi!", hörte er plötzlich eine Stimme aus dem Hintergrund. Eine Stimme, die er nur zu gut kannte, und deren Klang er niemals vergessen würde.
"Warten sie kurz!", schrie Tobi hysterisch die Pfleger an. Tatsächlich stoppten sie und warteten. Ein Mann trat an die Bahre und legte seine Hand auf Tobis Arm.
"Du wirst mich nicht los mein lieber. Wir gehören zusammen, du und ich. Ich bleibe bei dir." Tobi starrte in das Gesicht des Killers, der direkt neben ihm stand. In der Hand hielt er eine DVD, mit der er sich Luft ins grinsende Gesicht fächerte.
"Sehen sie! Da ist er! So sehen sie doch." Die Pfleger sahen sich an, fingen an zu kichern und äfften Tobi nach.
"Hören sie!", sagte einer. "Da ist niemand. Sie sehen Gespenster."
"Ui, ich bin ein Gespenst!", sagte der Killer und fing an laut zu lachen. Die Pfleger gingen weiter, trugen die Liege in die Klinik. Tobi starrte in den Himmel. Neben ihm hörte er das Lachen des Killers, der die ganze Zeit an seiner Seite blieb. Tobi schloss die Augen, und er schwor sich, sie erst wieder zu öffnen, wenn er dieses schreckliche Lachen nicht mehr hörte.



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