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Eine gute Saat

Frank Reuter


Schon seit unzähligen Jahren, seit Generationen, ist es hier dunkel, bitterkalt und leer.
Die Straßen dieser einstmals wunderschönen Metropole führen nur noch durch Ruinen. Ein paar zerfallene Ladenschilder, ein durchgerosteter Schaukasten mit einem angekohlten Stadtplan und einige halb aus dem Boden schauende Getränkedosen zeugen von besseren Zeiten. Aber selbst diese letzten Überbleibsel einer Zivilisation - meiner Zivilisation - werden schon bald gänzlich verschwunden sein. Ein Seufzer kommt über meine Lippen und ich schaue hinauf zum Himmel - heute ist Vollmond und alle drei Monde stehen in dieser mir doch so vertrauten, waagerechten Position. Mir steigen unwillkürlich die Tränen ins Facettenauge und meine zwei Fühler erbeben vor Wehmut und Trauer. Heute ist es das letzte Mal - nie wieder wird irgendjemand diese drei Monde sehen. Und niemand wird jemals wieder einen Fuß auf diesen Planeten setzen, geschweige denn in diese Galaxie reisen können, um unsere Geschichte zu studieren. Heute wird der letzte unserer Art die Heimat verlassen. Diese traurige Ehre wurde mir zugetragen, dem Ersten. Ich habe die Evakuierung organisiert und versprochen, mein Volk in das Paradies zu führen. Vor einigen hunderttausend Jahren hatten unsere Forscher einen neuen, lebenswerten Planeten entdeckt: Eine noch ältere Raumsonde kam mit diesen guten Nachrichten zurück; voll gepackt mit Gesteinsproben, kleinen Lebewesen, seltsamen Früchten und atembarer Luft. Es war unsere Rettung, denn wir wussten schon damals, dass unsere Sonne nicht mehr lange existieren würde. Sie verbrauchte ihre letzte Kraft und strahlte in ihrem Todeskampf viel mehr Wärme aus, als jemals zuvor. Wir kamen dem Ende immer näher. Also bauten wir Raumschiffe und begannen rechtzeitig mit unserer großen Reise zu einem neuen Stern. Indes wurde es hier heißer, die Polkappen schmolzen und die Meere überfluteten das Land. Dann kam das Zeitalter der großen Dürre. Der Planet vertrocknete, glühte; unsere verlassenen Städte - Zeitzeugen in Stein und Metall - nur noch Ruinen aus Aschestaub und Sand. Erst nach weiteren, unendlich vielen Jahrtausenden, gab die Sonne ihren Kampf auf. Unser Heimatplanet kühlte ab und wir konnten ihn noch einmal betreten, um endgültig Abschied zu nehmen.
Damit beginnt der letzte und wichtigste Teil meines Aufenthalts: Die symbolische Handlung.
Ich weiß, dass ich jetzt übertragen werde. Milliarden Zuschauer werden diesen letzten Abschiedsgruß für immer in ehrenvoller Erinnerung halten. Der letzte unserer Art auf dem Planeten - dieses Bild geht in unsere Geschichte ein. Ich entfalte meine Flügel, lege die linke Hand auf mein größtes Herz und spreche: "So .... unendlich lang hast Du uns mit einem einzigartigen Geschenk beglückt: Das Leben. Wir haben es oft übersehen, waren undankbar, haben Dich beschmutzt und getreten und mehr als einmal beinahe zerstört. Aber Du hast uns `sehen` gelehrt - uns nicht für den Frevel bestraft. Im Zeitalter des klaren Blicks gebarest Du Mitglieder unseres Volkes, die im Stande waren, Deine Interessen durchzusetzen, Dir in den letzten Atemzügen der Sonne einen angenehmen Lebensabend zu ermöglichen. Wir möchten Dir danken, für alles, was Du uns gegeben hast. In einer fernen Galaxie wohnt ein junger Verwandter von Dir. Auch er will uns alles geben - aber eines werde ich Dir im Namen meines Volkes versprechen: Wir werden nicht alles nehmen, was er uns freizügig anbietet. Wir werden ihn nicht ausnutzen, sondern hegen und pflegen als wäre es der letzte Tag, den wir mit ihm verbringen."
Ich strecke meinen linken Arm nach vorn; die Faust leicht geballt.
"Und nun, nimm dieses Symbol des Lebens und verbreite es in der Ewigkeit."
In schwungvoller Bewegung beschreibt mein Arm einen Bogen; die Faust öffnet sich und dutzende Samenkörner wehen über das Land.
Meine Handlung ist damit beendet. Ich habe absichtlich zum Ende das Wort "Ewigkeit" ausgewählt - das letzte gesprochene Wort auf diesem Planeten.
Ich spüre ein leichtes Ziehen am ganzen Körper und befinde mich plötzlich an Bord unseres Raumschiffes. Mein langjähriger Sekretär und Weggefährte legt mitfühlend seinen Flügel auf meinen Kopf. Wir schauen aus dem Fenster; unser Sonnensystem scheint zu schrumpfen, während wir uns immer weiter in millionenfacher Lichtgeschwindigkeit entfernen. Gleich wird sich die Sonne zusammenziehen und ihre allerletzte Energiereserve in einer gewaltigen Explosion freisetzen, die selbst über eine unvorstellbare Entfernung von Lichtjahren noch zu sehen sein wird.
Mein Sekretär entfernt sich kurz und kommt mit zwei Weingläsern zurück: "Heute ist ein ganz besonderer Tag. Darauf sollten wir anstoßen."
Seufzend bringe ich ein Lächeln hervor:
"Ja, mein alter Freund. Darauf sollten wir anstoßen."
Er reicht mir das Weinglas.
"Auf die Zukunft?"
Ich sehe ihm in die Augen und denke an unsere langjährige Freundschaft - Trost, Hoffnung und Beständigkeit. Was haben wir nicht schon alles zusammen durchgemacht ...
Ich nicke ihm freundlich zu und weis, dass er jetzt dasselbe denkt.
"Auf die Freundschaft - und auf die Zukunft."
Unsere Gläser treffen sich und genau in diesem Moment explodiert die Sonne. Ihre ungeheure Kraft entfaltet ein wahres Inferno; schrecklich und wunderschön zugleich. Ein einzigartiges Naturschauspiel, bei dem wir Zeuge sind. Wie gebannt und mit offenen Mündern betrachten wir dieses einmalige Feuerwerk, welches nur noch höhere Kräfte zu bändigen wissen. Die Bestandteile der Planeten werden ins unendlich weite Weltall geschleudert. Und irgendwo werden sie wieder Teil eines neuen Sonnensystems, vielleicht sogar eines neuen Lebens.
Plötzlich kommt mir ein Gedanke und ich muss ihn meinem Freund mitteilen: "Stell dir vor, irgendwo da draußen, in einer der zahlreichen Galaxien, gäbe es intelligentes Leben. Wenn sie nun diese Explosion sehen würden ... glaubst du, sie wüssten, was sich hier abspielt? Was das zu bedeuten hat?"
Der Sekretär zuckte mit den Schultern.
"Ich habe keine Ahnung. Vielleicht erscheint ihnen dies nur als ein besonders heller Stern?"
"Ein neuer Stern", fügte ich hinzu.
"Ein neugeborener, wunderbarer Stern. Möge die gute Saat aufgehen."



Eingereicht am 24. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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