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Das Dunkel

Von Anne Chlosta


Es ist dunkel hier, fast schwarz. Nicht ganz, denn von ganz weit weg kann er einen Lichtschimmer erkennen, ein schwaches Aufleuchten, als würde ein Glühwürmchen seine letzten Kräfte aufbringen, um wenigstens ein bisschen Helligkeit in die Schwärze zu bringen. Ein sterbendes Glühwürmchen. Er sitzt nicht gut, da wo er sitzt. Am liebsten würde er sich woanders hinsetzen, aber das geht ja nicht. Wegen der Fesseln. Sie stören ihn, aber er ist zu schwach, oder sie zu fest, um sie abzustreifen. Vielleicht morgen. Dann könnte er einen zweiten Versuch starten. Oder auch nicht, denn eigentlich sieht er keinen Sinn darin. Das Essen wird sowieso gebracht werden, egal, ob er sich befreien kann oder nicht. Weglaufen, entkommen aus seinem Gefängnis, ist unmöglich, das weiß er. Am Anfang, noch ohne Fesseln, hat er die Wände abgetastet. Sie sind hoch, hoch und kalt. Und glatt. Keine Chance, sie zu überwinden. Da kann er auch gleich sitzen bleiben.
Kalt ist es ja nicht, eher angenehm warm und trocken. Ein leichter Geruch von Fäule liegt in der Luft, den riecht er schon gar nicht mehr. Nur am Anfang, als alles noch neu war, da hat er ihn gestört. Er hat das Gefühl gehabt, ersticken zu müssen, wegen der Fäule, aber er atmet immer noch. Es ist lange her, seit er zum letzten Mal Licht gesehen hat. Richtiges Licht, Sonnenlicht, an einem schönen Sommertag wenn der Himmel blau und die Luft duftend ist. Aber was soll man machen, er kann sich nicht beschweren, schließlich sitzt er hier nicht ohne Grund. Zwar hatte er nicht damit gerechnet, dass sie ihn gleich einsperren würden, aber eigentlich hätte er es wissen müssen. Die Menschen mögen Kreaturen wie ihn nicht. Er ist anders als sie, aber auf eine andere Art, nicht auf die Art anders, von der sie ausgehen. Das wissen sie noch nicht, nicht einmal nach all den Tests und Experimenten, die er über sich hat ergehen lassen müssen. Sie haben sein Blut, sein Sperma, seinen Speichel, wissen Bescheid über seine Reflexe, Reaktionen jeder Art, es gibt keine Stelle seines Körpers, die ihnen unbekannt wäre. Und doch wissen sie noch nicht alles.
In sein Inneres können sie nicht dringen, das ist unmöglich, schließlich sind es Menschen. Wenn sie jemand von ihm, von seiner Sorte, bei sich hätten, dann wäre es eine ganz andere Geschichte. Sie können Menschen täuschen, aber gegenseitig haben sie keine Geheimnisse voreinander. Wie auch, wenn man die Gedanken des anderen lesen kann, dann wird es sehr schwer, etwas zu verbergen. Das kann er natürlich auch, er hat es schon früh lernen müssen, wie man eine Mauer um seine geheimsten Gedanken baut, sie vor allzu neugierigen Blicken schützt. Er war ein großes vielversprechendes Talent, damals. Ach ja, er seufzt, damals... das waren noch Zeiten. Da wusste er ja noch nicht einmal, dass es Menschen gibt. Heute wünscht er, er hätte sie nie kennen gelernt. Aber jetzt ist es zu spät. Er kennt sie und sie kennen ihn, sonst säße er nicht hier, in dem dunklen Verlies. Und trotzdem muss er grinsen, denn sie sind so dumm, sie haben ja keine Ahnung, welchen Fang sie gemacht haben, als er ihnen in die Hände fiel. Zu dumm, dass er gerade mit seinen Gedanken weit weg war, so weit weg, dass er sich erst wehren konnte, als es längst zu spät war. Manchmal haben die telepathischen Fähigkeiten eben auch ihre Nachteile. Das wäre einem erfahreneren Mann nie passiert, aber er ist nun einmal nicht so erfahren wie die anderen seiner Art. Ja ja, die Jugend...
Da öffnet sich die Tür seines Kerkers und ein schmaler Lichtstreifen fällt auf den dreckverkrusteten Boden. Vor dem gleißenden Hintergrund zeichnet sich die Silhouette eines hochgewachsenen Mannes ab, dessen langes Haar in einem immerwährenden Luftzug zu wehen scheint. Sildon springt auf, bevor er registriert, dass sich seine Fesseln anscheinend in Luft aufgelöst haben. Ist seine Gefangenschaft zuende? Er hat den Mann nur ein einziges Mal gesehen, ganz am Anfang, als er gefesselt und betäubt hereingetragen wurde. An viel kann er sich nicht erinnern, alles ist verschwommen, aber den Mann hat er gesehen. Er hat seine Augen nicht vergessen, denn sie ähnelten seinen so sehr. Ebenso rot, mit einem schwarzen Ring um die Iris. Er hat in seinem Delirium gedacht, der Mann sei einer von ihnen, aber als er den Kittel, den weißen Arztkittel, gesehen hat, wusste er, wie falsch er lag. Der Mann war ihr Anführer, er gab die Befehle und teilte aus. Seinen Namen hatte er damals auch gehört. Malion. Irgendwo hat er diesen Namen schon einmal gehört, aber er kam nicht darauf, auch jetzt nicht. "Sildon?", eine tiefe sonore Stimme im Dunkel. Er erstarrt. Woher weiß der andere seinen Namen? Er hat ihn nie nennen müssen, niemand kann ihn kennen. Es sei denn.. ein entgeistertes Keuchen dringt aus seiner Brust, bevor er es zurückhalten kann. "Komm mit mir", sagt der andere, ohne darauf zu reagieren. Prompt dreht er sich um und verschwindet, während Sildon nicht weiß, wohin mit seinem Keuchen, seinen Vermutungen. Schnell rafft er sich auf und rennt aus der Tür, ohne sich noch einmal umzudrehen. Egal, wohin es geht, er möchte nie wieder zurück in diesen Kerker.
Malion ist verschwunden. Er kann ihn nirgendwo entdecken, zu beiden Seiten nur enge Gänge, nasse Wände, an denen die Feuchtigkeit wie ein schleimiger Film herabtrieft. Es stinkt. Nicht faul, das kennt er ja schon, es ist etwas anderes. Aber mit diesen Problemen kann Sildon sich jetzt nicht befassen, er muss sich auf die Suche nach dem anderen machen. Wohin kann Malion so plötzlich verschwunden sein? Einen Moment lang steht Sildon völlig regungslos, er schickt seine Sinne aus, um eine Spur des anderen zu ertasten. Aber es ist zwecklos, die Wände scheinen jedes Signal, dass Malion aussenden könnte, zu blockieren. Da kommt ihm ein entsetzlicher Gedanke: Was, wenn dies nur ein erneuter Test, ein Experiment war, um herauszufinden, was es mit seiner Abstammung auf sich hat? Ist er zu weit gegangen, wissen sie jetzt, wer oder besser gesagt, was er ist? Angst wallt wie eine Flut in Sildon auf, er will fliehen und weiß doch nicht, wohin. Er befindet sich mitten unter den Menschen, in ihrer mächtigsten Festung, ein Entkommen ist unmöglich, das weiß er. Trotzdem beginnt er zu laufen, wendet sich instinktiv nach links und rennt. Seine Schritte hallen seltsam hohl wider, obwohl die Wände so feucht sind, klingt es, als sei er in einem seit Jahrzehnten ausgetrockneten Kellergewölbe. Plötzlich, vor ihm, ein Schatten. Wie aus dem Boden gewachsen steht Malion vor ihm. Seine Haare wehen noch immer, erst jetzt, im anderen Licht, kann Sildon erkennen, dass sie so schimmern wie seine eigenen. Er schaut in Malions Augen, sieht die Röte, den schwarzen Ring, die rote Iris. "Bruder?", er will es nicht sagen, aber die Worte kommen unwillkürlich aus seinem Mund, er kann sie nicht zurückhalten. Und eigentlich will er es auch nicht, er möchte endlich die Wahrheit wissen, eine Antwort vom anderen hören. Da hört er die Stimme in seinem eigenen Kopf: "Sildon, ich kenne dich. Ich habe dich immer gekannt, jeden deiner Schritte verfolgt. Ich habe dich nicht vergessen, in deinem Verlies, auch wenn es den Anschein gehabt haben mag. Folge mir." Sildon weiß nicht, was er sagen soll. Diese seltsamen Worte haben keine seiner Fragen beantwortet, im Gegenteil, nun brennen neue auf seiner Zunge. Aber Malion hat sich schon wieder umgedreht, er läuft mit großen Schritten davon. Das will Sildon sich nicht bieten lassen, er hat schließlich ein Recht darauf zu wissen, was hier gespielt wird. Da zischt es ungeduldig in seinem Kopf: "Das können wir hier nicht klären, meinst du, es fällt keinem auf, dass der Gefangene verschwunden ist, samt ihrem Versuchsleiter? Beeil dich gefälligst!" Das war deutlich, denkt Sildon, während er, immer noch unzufrieden, hinter dem anderen hereilt. Schwachsinnig, wozu rennen sie sich hier die Beine aus dem Leib, sie haben doch andere Mittel und Wege. Er zumindest.
Wenn er nur wüsste, wie sie aus der Festung herauskommen, dann wären sie schneller draußen als man "Versuchsleiter" sagen könnte. Er sagt es Malion, telepathisch, und siehe da, der andere bleibt stehen. "Könntest du das?", fragt er zweifelnd. "Aber sicher, ich muss nur den Weg kennen. Wenn du ihn mir zeigst, dann..." "Ist gut", unterbricht Malion ihn hastig, "wir müssen uns wirklich beeilen, ich kann sie schon hören." Konzentriert schließt er die Augen und versinkt für einen Moment in sich selbst. Dann legt er Sildon eine Hand auf die Stirn, sie fühlt sie seltsam kühl an. Als er die Hand wegnimmt, kennt Sildon die Festung genauso gut wie er selbst. Jetzt können sie aufbrechen. "Dann mal los!", sagt Sildon aufmunternd, bevor er Malions Hand, diese kühle Hand, in seine eigene nimmt. Sie schließen die Augen. Sildon konzentriert sich nur auf die Wände, die sie beide umgeben, auf das massive Gestein. Er formt seine Gedanken zu Steinen, verändert sie, ihre Substanz, ihre Härte. Er macht sie porös, weicht sie auf und sie weichen, lassen die beiden durch. Es geht schneller als Sildon gedacht hat, seine Kräfte scheinen nicht so abgenommen zu haben wie er befürchtet hatte. Kaum eine Minute dauert die Reise und schon sind sie draußen. Aber sie stehen nicht vor den Festungsmauern, dann hätten sie keine Chance, die Bogenschützen schießen ihre Pfeile schon von den Zinnen. Sildon lässt Malions Hand nicht los, wartet nicht darauf, dass sie von den surrenden Geschossen getroffen werden, sondern richtet seine Gedanken auf die Luft, den Wind, der ihre Haare zerzaust. Seine Gedanken werden zu Wind, sie tragen Sildon und Malion fort, weit weg von der hohen Festung. Erst, als sie Dutzende von Kilometern zwischen sich und die Menschen gebracht haben, lässt Sildon seinen Gedankenwind abflauen.
Malion ist außer Atem, er fällt zu Boden und atmet tief ein. Auch Sildon ist ein wenig mitgenommen, so eine Kraftanstrengung erlebt man auch nicht jeden Tag. "Ist alles in Ordnung?", erkundigt er sich überflüssigerweise, obwohl er weiß, dass es einiges mehr bedarf, um einem ihrer Art ernsthaft Schaden zuzufügen. Aber er muss ja etwas sagen. Malion sieht ihn mit einem ganz seltsamen Blick in seinen rotschwarzen Augen an, so seltsam, dass er sich für einen Moment wünscht, nie etwas gesagt zu haben. Dann lächelt der andere, ein unerwartetes kleines Lächeln. "Ich hätte es dir nicht zugetraut, das gebe ich zu. Aber du bist stärker, als wir erwartet hatten. Viel stärker." Sildon erstarrt. Wir? Wen meint der andere mit diesem "wir"? Die Menschen, denen sie gerade entkommen sind? Ist es eine Falle? Die Stimme in seinem Kopf lacht höhnisch: "Du merkst aber auch alles!" Vor seinen entsetzten Augen verschwimmt Malions Gestalt, löst sich auf, wird zu etwas anderem. Ein Mensch, fährt es ihm durch den Kopf, aber es ist zu spät. Der andere wird größer, immer größer, bis seine schwarzen Umrisse sogar das Licht der Sonne ausblenden. Es ist kein Mensch, es ist etwas viel Schlimmeres. Einer seiner eigenen Art, der einen Verbund geschlossen hat mit Mächten, so dunkel, dass sie nichts Gutes mehr verbergen. Er ist in die Falle gegangen, wie ein ahnungsloses Reh, hat nichts bemerkt. Nicht einmal den Namen hat er erkannt, obwohl er ihm doch bekannt vorgekommen war. Er hat sich wie ein Idiot benommen, wie ein schwachsinniger Idiot. Diesmal wird er nicht entkommen können, denn schon spürt er die mentalen Fesseln, mit denen der andere ihn bindet. Er wird ihm nicht mehr entkommen. Es ist zu spät.




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Eingereicht am 16. Mai 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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