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Luftballons

Von Torsten Houben


"97...98...99!", zählte der als Clown verkleidete Ballonverkäufer seine Ware ab. "Ich habe 99 Luftballons übrig."
"Die will ich alle haben Papa.", bettelte der kleine Junge, der seinen Vater schon seit Stunden über den Jahrmarkt zerrte und vor jeder Bude brüllte: "Das will ich haben Papa!"
Zu seinem Pech hatte der elegant gekleidete Herr dem Sprössling versprochen, ihm heute jeden Wunsch zu erfüllen. Zu seinem Glück war er der Manager einer großen Firma und verfügte über das notwendige Geld dazu.
"Also gut.", willigte der Reiche ein, "geben Sie meinem Sohn alle Ballons."
"Alle 99?", hakte der Clown noch einmal nach.
"Alle!", bestätigte der Mann. Der Verkäufer schnitt mit einem großen, scharfen Messer das dicke Bündel Ballonschnüre von der Verankerung am Boden ab und hatte Mühe die Ballons zu bändigen. Er machte einen großen Knoten in das Ende der Schnüre und drückte sie dem Jungen in die Hand. "Da hast du sie. Viel Spaß damit. Was willst du eigentlich mit so vielen Luftballons anfangen?"
"Das!", rief der Junge und öffnete seine kleine Faust, in die er bis zu diesem Zeitpunkt noch den Knoten der Ballonschnur festgeklemmt hatte. Wie eine kunterbunte Wolke stiegen die Luftballons in den Himmel auf und wurden ganz langsam vom Wind davongetragen. Als nächstes hörte man das Klatschen der Hand des Vaters auf der Wange des kleinen Jungen und anschließend ein herzzerreißendes Heulen. "Und für so einen Unsinn gebe ich einen Haufen Geld aus? Das machst du nicht noch mal mit mir. Wir gehen sofort nach Hause!"
Der Clown tippte dem eleganten Herrn auf die Schulter: "Sir, Sie haben noch nicht bezahlt." Er streckte ihm seine Handfläche entgegen, um das Bündel Dollarnoten in Empfang zu nehmen, welches der Mann im mit Zornesfalten auf der Stirn gab.
"Sir?", sprach ein junger Mann im weißen Overall seinen Vorgesetzten an und winkte ihn zu dem Bildschirm, auf den erst selbst schon seit einigen Minuten verwundert starrte.
"Was gibt es George?" General Baker ging hinüber zu ihm.
"Das ist etwas Seltsames auf dem Radarschirm Sir. Das müssen Sie sich ansehen." Der Mitarbeiter deutete mit einem Finger auf den großen, sich langsam bewegenden Punkt auf dem Monitor. "Das ist kein Flugzeug Sir."
"Ein Wetterballon?"
"Negativ Sir. Es scheint so, als hätte dieses Ding keine feste Form. Es ist wie eine Art Knäuel aus verschiedenen Elementen. Es besteht aus vielen, sich hin und her bewegenden Einzelteilen."
"Dann ist es ein Vogelschwarm George. Kein Grund zur Aufregung. Die Zugvögel sind früh dran in diesem Jahr." Baker wandte sich ab.
George hinter ihm schüttelte den Kopf: "Sir ich bin jetzt seit acht Jahren bei der NASA. So etwas hatte ich noch nie auf dem Schirm."
"Keine Vögel?" Baker kam zurück.
"Keine Vögel!", bestätigte George.
"Haben wir ein ernsthaftes Problem?"
"Ich weiß es nicht Sir, aber wir sollten das Objekt überprüfen lassen."
Baker ging hinüber zu dem roten Telefon, das in einer Nische an der Wand hing - sein direkter Draht zum Präsidenten. Er hob den Hörer ab und drückte hektisch ein paar Tasten mit der Geheimnummer.
"Mr. President? Hier General Baker von der NASA. Wir haben ein UFO auf dem Radar. Ja, Sir, Sie hören richtig. Es ist ein unbekanntes fliegendes Objekt. Es passt in keine der uns bekannten Kategorien. Fliegerstaffel? Natürlich Sir. Ja, Sir, wir erstatten umgehend Bericht nach dem Ende der Mission."
Schon Minuten später stieg die Luftabwehr des Landes in den Himmel auf. Leider fehlte der hundertste Pilot wegen einer Magenverstimmung, so dass nur neunundneunzig der prächtigen Düsenjäger starten konnten. Die Piloten verständigten sich gegenseitig über Funk. Jeder von ihnen konnte das UFO genau anpeilen.
Schon bald kamen die ersten der Flieger in Reichweite. Das Ding sah sehr merkwürdig aus, wie es da in den dichten Wolken schwebte. Ein Wirrwarr aus bunten, matt glänzenden Kugeln. Oder waren es....? Das konnte doch nicht möglich sein?! Der Pilot Frank Tanner bemerkte als Erster, was die Fliegerstaffel da jagte, doch er konnte niemandem davon berichten, denn seine Maschine wurde schon im nächsten Augenblick von einem seiner Kollegen versehentlich abgeschossen. Herman Miller hatte die Nerven verloren und einfach drauflos geballert, ohne dabei richtig zu zielen.
Zur gleichen Zeit löste man in den Nachbarländern Alarm aus. Man hatte es doch tatsächlich gewagt, in fremdem Luftraum zu patrouillieren und auch noch auf etwas zu schießen! Eindeutig ein feindliches Zeichen. Man wollte angreifen! Unverschämtheit! Seit Jahrzehnten gab es den Weltfrieden und nun begannen diese Verräter mit dem Herumgeballer! Die Kriegsminister der 99 Länder versammelten sich unverzüglich zu einer Weltkriegskonferenz. Man beschloss einen Rachefeldzug. Notfalls auch unter Einsatz der Atombombe. Nur gut, dass man bei der weltweiten Abrüstung "zufällig" eine davon "übersehen" hatte.
"Luftballons? Nur ein Haufen Luftballons?", Baker schüttelte sich vor Lachen, wurde aber kurz darauf sehr ernst. "Wie konnten wir uns nur so täuschen lassen? Nun ja, es ist ja alles noch mal gut ausgegangen."
Da heulten im ganzen Land die Sirenen. Luftangriff!
Neunundneunzig Jahre tobte der 4. Weltkrieg. Man dachte so lange Zeit alles wäre überstanden. Die großen Tyrannen der Menschheit, alle Diktatoren und Terroristen waren vor langer Zeit durch den 3. Weltkrieg beseitigt worden. Die sogenannte "Dritte Welt" gab es nicht mehr, denn der Hunger und das Leid der Menschen dort war besiegt worden. Alles war gut bis - ja bis ein kleiner Junge irgendwo auf einem Jahrmarkt Luftballons fliegen ließ.
Es war das Ende der Menschheitsgeschichte. Jedes der 99 Länder hatte noch eine Atombombe in Reserve. Jeder der 99 Kriegsminister gab nach einem Angriff direkten Befehl zum Vergeltungsschlag. Schnell war es ein Krieg "Jeder gegen Jeden" und niemand überlebte.
NASA-Mitarbeiter, Kriegsminister, Piloten, elegante Herren, kleine Jungen - alle waren von der Erde verschwunden - für immer. Wer hätte gedacht, dass es einmal soweit kommt - wegen 99 Luftballons.
In einer zerstörten, atomverseuchten Stadt irrte der letzte seiner Art, ein kleiner Junge umher. Er war nackt, denn seine Kleider hatten sich in der mit Chemie angereicherten Luft nahezu aufgelöst und seine Haut war von Pocken und eiternden Wunden übersäht. Dennoch entlockte etwas dem sterbenden Kind ein Lächeln. Es hatte einen leuchtend roten Luftballon entdeckt, dessen Schnur sich in den Trümmern verfangen hatte. Der Junge löste sie behutsam, hielt den Ballon noch einen Moment lang in der kleinen, wunden Hand und sah ihm dann hinterher, wie er in den grünlich gelben Himmel aufstieg.



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