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Das Wunderbuch

Kathrin Schultz

 

Das Wunder, von dem ich hier berichten möchte, begann exakt mit der Begegnung dieser Zigeunerin, die mir eines schönen Tages an einer Straßenecke auflauerte mit den Worten: „Hier! Vielleicht habe ich ja genau das, was Sie in Ihrer misslichen Lage brauchen?“ Ihre verrauchte Stimme ließ mir, obwohl ich Scheißgott nicht hasenfüßig bin, das Blut in den Adern gefrieren. Perplex sah ich vom Gehweg - den ich bisher noch akribisch nach tierischen Tretminen abgesucht hatte, um später nicht schon wieder eine halbe Stunde meines Lebens mit der Säuberungsaktion meiner Quadratlatschen zu vergeuden – auf, denn woher, zum Deibel, wusste diese ulkige Nudel überhaupt, dass es mir dieser Tage tatsächlich nicht gerade gut ging? Obermies sogar, um genau zu sein. Wie seltsam! An jedem anderen Tag hätte ich diese Bettler-Kreaturen wohl wie gewöhnlich weit von mir weggestoßen - aus irgendeinem unerfindlichen Grund jedoch ging ich zu dieser magischen Stunde auf ihr Gesprächsangebot ein. „Eine Fibel über positive Affirmationen für einen gesunden Körper?“ fragte ich bärbeißig, nachdem ich das Buch, das sie mir da aufdringlich unter den Gesichtszinken hielt, erst einmal genauer in Augenschein genommen hatte. Es war kein neues Exemplar, sondern sah schon arg zerfleddert aus. „Hätten Sie vielleicht die Güte, mir zu verraten, was ich mit diesem Mist soll?“ Ausgerechnet ich: Eine Frau in den besten Jahren, die im Laufe der Zeit eine ausgeprägte Abneigung gegenüber Esoterik und ähnlichem Schnackschnick entwickelt hatte!? Die Medizinfrau aber, als wäre sie von meinen Vorbehalten genauestens unterrichtet gewesen, lächelte nur geheimnisvoll. „Sie werden schon sehen!“ Und was soll ich sagen? Sie sollte Recht behalten! Dieses Buch sollte der Schlüssel sein, der mein Leben von Grund auf umkrempelte würde... Aber das konnte ich damals natürlich noch nicht ahnen, weil die Kräuterhexe aber weder meine Bankverbindung noch sonstige Aufwandsentschädigungen für ihre Gabe verlangte, nahm ich den Schundroman schließlich doch noch an mich. Hauptsächlich wohl nur aus einem Grund: Ich verspürte keinerlei Lust auf langwierige Diskussionen. Und dieses Persönchen sah nicht gerade so aus, als würde es sich so einfach abschütteln lassen!?

Falsch gedacht, denn kaum hatte ich zugegriffen, löste sich die bizarre Gestalt auch schon wie in Luft auf. Doch mir sollte es recht sein. Lustlos stopfte ich die besagte Lektüre in mein Einkaufsnetz und schlurfte nach Hause - ziemlich lange lag sie dann unbeachtet in irgendeiner möligen Ecke. In der Tat war ich nur mehr als einmal kurz davor, diesen ausgemachten Eso-Schund in die Tonne zu kloppen! Aber irgend etwas – eine höhere Macht, würde ich heute sagen – hat mich davor bewahrt. Bis! Ja, bis das Unfassbare passierte... Um jedoch nicht von Vornherein als unglaubwürdig abgestempelt zu werden, erscheint es mir sinnvoller, dem geneigten Leser / der geneigten Leserin meine Geschichte von Anfang auszubreiten:

 

Es war nämlich so, dass es mir zu dieser Zeit, wie schon gesagt, echt beschissen ging, denn aus der Firma, in der ich mich drei Jahre lang schief und krumm geschuftet hatte, war ich gerade achtkantig gefeuert worden. Nicht, dass dies weiter schlimm gewesen wäre, denn die Tätigkeit, die ich da zu verrichten hatte - ich arbeitete anno dazumal in einem versifften Call-Center – erfüllte mich so null und kotzte mich von Tag zu Tag mehr an... Blöderweise nur war ich auch in der Liebe nicht gerade ein Glückskind: Erst Tags zuvor hatte sich mein Latin-Lover von heute auf morgen verkrümelt. Dieses vermaledeite Windei! Mein Selbstwertgefühl lag verständlicherweise tief im Keller. Im Kohlenkeller! Gleich neben all den stinkenden Leichen, die ich da sorgsam versteckt halte... Jedenfalls folgte ich in meiner damaligen Situation tagelang hemmungslos dem Impuls, mich in meiner Wohnung zu verbarrikadieren. Und am liebsten hätte ich meinen Wohnungsschlüssel heruntergeschluckt und nie wieder ausgeschieden! Ich wollte niemanden weder hören noch sehen. Nicht einmal mein Töchterchen Lara! Die Süße... Zwar ließ mein Kindchen nicht ganz so gut abschütteln wie die übrigen Menschen meines Umfeldes, immerhin bin ich ihre alleinerziehende Mutter - aber wenn ich gekonnt hätte wie gewollt!

Aber es kam noch schlimmer, denn nach und nach verschärfte sich die ganze Misere  sogar so weit, dass endgültig alles zusammenbrach: Ich! Mitten auf der Straße! Dort nämlich sackte ich wie ein Häuflein Elend zusammen. Dabei war ich nicht mal im Jumm! Verstauchte mir bei meinem unfreiwilligen Kniefall aber zu allem Ausfluss sogar noch den Mittelhandknochen, sodass ich in der Folge dazu verdammt war, mit diesem Fleischkrater, der bis vor kurzem noch meine Hand gewesen war, untätig auf der häuslichen Couch dahinzuvegetieren. Und das mir! Einer nachweislich hyperaktiven Persönlichkeit, der Müßiggang so überhaupt gar nicht liegt!

Kurz und gut: Als dann eines gewissen Abends auch noch meine geliebte Seifenoper ausfiel - wegen irgendeiner dieser überflüssigen Nachrichtensendungen - warf ich meinen TV kurzerhand aus dem Fenster. Was, zur Hölle, interessierte es mich denn, wenn ein Erdbeben in Timbuktu oder Zeus-weiß-wo drei, vier oder sechs armselige Opfer gefordert hat? Ich wollte fernsehen! Und zwar sofort! Immerhin war die Glotze noch die einzige Zerstreuung, die mir damals vergönnt war!

Das teure Gerät – ich hatte mich beim Ratenkauf, der noch keine drei Monate zurücklag, entscheiden müssen: Flachbandbildschirm oder ausstehende Miete? Selbstredend war mir die Wahl mehr als leicht gefallen... - zerschepperte im Hinterhof in tausend Stücke. „Aber Mutschi!“ lamentierte Lara. Durch den Höllenkrach alarmiert, war sie schleunigst herbeigeeilt. Aber anstatt sich um meinen porösen Gemütszustand zu sorgen, hatte sie nur eines im Sinn: „Wie kannst du mir das antun? Eine Schande! Meine KlassenkameradInnen werden mich fertigmachen, denn ein Kind ohne Quatschkasten – das geht doch nicht! Wie soll ich denn ohne diesen lebenswichtigen Gebrauchsgegenstand bei den anderen mitreden können?“ „Und was geht mich das an? Kauf dir doch selber einen!“ Meine Tochter Lara ist sechs und für ihr Alter schon ein ganz schönes Früchtchen. Seit ihrer kürzlich vollzogenen Einschuldung steigert sich ihre Aufmüpfigkeit stündlich. „Schweig!“ befahl ich also deshalb so autoritär wie möglich und schickte meinen Wonneproppen sonst wohin - Hauptsache, mit aus den Augen. Ich wollte allein sein! „Also geh gefälligst spielen, klaro!? Am besten draußen. Am anderen Ende der Stadt vielleicht?“ Mein armes Würmchen hatte zu dieser Tage wohl ein wenig unter meinen Launen zu leiden. Aber was konnte ich denn dafür? Selbst eine Supermutti hat mal einen madigen Tag! Und dieser Tag war wirklich mehr als verkorkst!

Bevor ich jedoch auf die später zu bereuende Schnapsidee kommen konnte, noch weitere Einrichtungsgegenstände zu Kleinholz zu verarbeiten – Lara jedenfalls ergriff, nachdem sie den Ernst der Lage erkannt hatte, schnellstmöglich die Flucht - Gar nicht so dumm, die Kleene! - fiel es mir wie durch einen unerklärlichen Zufall wieder in die Hände: Das Buch! Rückblickend erscheint es mir wie ein Wink des Schicksals: Plötzlich erinnerte ich mich wieder der Worte dieser zerknitterten Zigeunerin! „Sie werden schon sehen.“ hatte die behauptet. Nun denn!? Was hatte ich denn schon zu verlieren? Nichts! Denn ich hatte ja auch nichts mehr. Nicht einmal mehr einen Fernseher! Also ran an die Buletten! - Beziehungsweise ran ans Buch.

Eine ganze Weile noch blättere ich nach wie vor argwöhnisch in dem abgegriffenen Wälzer herum, aber dann...! Ich kann euch sagen: Ich hatte getrunken. Eigentlich hatte ich mir ja fest vorgenommen - auf dringendes Anraten meiner Familienhelferin hin - dem Allohol vorläufig fern zu bleiben. Aber an Abenden wie diesem, an denen frau sich so unausgeglichen und uneins fühlt mit der Welt!? Ein paar Tröpfchen Wein würden da, so hoffte ich inständig, meine geschundenen Synapsen schon wieder ins rechte Gleichgewicht rücken...

Die erste Buddel des Abends öffnete ich wohl noch aus Einsamkeit – aber bei der zweiten befand ich mich bereits jenseits dieser Welt! In einer Art Rausch! Denn, oh Wunder, meine Skepsis wich von Buchseite zu Buchseite! Und die Euphorie, die mich mit festem Griff packte, führte sogar dazu, dass ich innerhalb kürzester Zeit gar nicht mehr aufhören konnte zu lesen! Ich weiß, all diese Schilderungen müssen merkwürdig klingen, aber es ist die Wahrheit: Die Weisheiten dieses Wunderbuches zogen mich augenblicklich in ihren Bann! Mir wurde ein Stoß gegeben - ein Stoß der Erleuchtung! Und endlich war ich in der glücklichen Lage, zu erkennen: Alles, was da stand, war einfach wahr! (Und ist es bis heute.) Wieso nur hatte ich so unendlich lange Zeit – mein halbes Leben! - auf all diese so naheliegenden Antworten warten müssen!?

An die dritte Wein-Pulle des Abends erinnere ich mich heute nur noch dunkel. Irgendwann muss ich wohl vor Erschöpfung weggepennt sein...

...um am nächsten Morgen unsanft – und eindeutlich zu früh – vom geschäftigen Läuten meines Weckers wieder hochgerissen zu werden. Ein gottverdammter Montag zwängte sich erbarmungslos durch die Ritzen meiner Jalousie, aber all mein Jammern half nichts: Wie die meisten ArbeitnehmerInnen musste auch ich meinen Arsch bewegen. Aufstehen war angesagt! Auch wenn mich - im Gegensatz zu all den anderen bemitleidenswerten Geschöpfen der harten Arbeitswelt - kein lästiger Werktag erwartete, sondern „lediglich“ ein Termin beim Amt. Schlimmer geht’s nimmer! Zumal ich den unter keinen Umständen verpassen durfte, sonst hätte ich mir noch mehr Ärger eingebrockt, als ich damals ohnehin schon am Hacken hatte.

Ergo versuchte ich verdrossen, in die Puschen zu kommen – keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass diese mir schon immer knapp zwei Nummern zu klein waren. Ich gebe es ja zu: Ich lebe auf großem Fuß. Wenn schon, denn schon! Die bewusstseinserweiternden Erfahrungen des vorangegangenen Abends jedenfalls waren ob meiner unsäglichen Verdrossenheit vorerst gänzlich vergessen. Was eigentlich aber auch kein Wunder war, denn mit einem so schlimmen Katerchen hatte ich wirklich noch nie zu kämpfen! Weshalb ich - wehleidiges Mimöschen, das ich mitunter nun mal bin – prophylaktisch flugs eine Valium einwerfen wollte, auf dem Weg in die Küche aber... stolperte ich direkt über jenes verflixte Büchlein! Es musste mir während meines Nickerchens aus den Händen und zu Boden gerutscht sein und lag jetzt fahrlässig da, achtlos neben zwei Paar schmutziger Socken... „Verfickte Scheiße!“ brüllte ich zu Tode erschrocken, denn ich taumelte gefährlich. Und nur in allerletzter Minute gelang es mir, mich am Türrahmen festkrallen. Unisono aber traf mich eine innere Stimme wie ein Schlag, indem sie zu mir sagte: „Ich liebe meine wunderbaren Arme und die Fähigkeit, damit die Erfahrungen meines Lebens zu umfassen! Ich bin jederzeit stark, fähig und begabt!“ GONG! Das waren doch exactamente die Worte aus diesem Buch!? Von hier auf gleich war alles wieder da: Natürlicht! Ich war stark! Schließlich hatte ich mich soeben mit eigener Kraft aus einer kreuzgefährlichen Situation errettet! Das war der Beweis: Dieses weise Buch sprach die Wahrheit! Und zwar nichts als die Wahrheit, splitterfasernackt wie ich... Noch! Denn schon fasste ich Mut: Umgehend ließ ich den Türrahmen wieder los und verstaute das zerlesene Prachtstück zunächst einmal in meiner Aktenmappe, um später, in der U-Bahn, in aller Seelenruhe darin weiterzulesen. Aber vorweg hieß es, mich zu sputen! Also ließ ich das los, was hinter meinem Rücken lag – meine Matratze - und schwankte, immer noch unter akuter Gleichgewichtsstörung leidend, in meinen Waschraum.

Dort angekommen, betrachtete ich mein Abbild im Spiegel und erstarrte zur Salzsäule vor Schreck. Das sollte wirklich und wahrhaftig ICH sein!? Solche Augenringe hat doch kein Mensch! Und diese Haare erst! Widersinnig standen mir die Borsteln in alle erdenklichen Richtungen ab, sodass selbst mit Haarspray nichts mehr zu retten war. Mich zu dieser antichristlichen Stunde mit Liebe zu betrachten - so wie das Buch es verlangte – wollte mir irgendwie gar nicht gelingen. Zumindest solange, bis mir glücklicherweise eine weitere Weisheit aus eben jenem in die Großhirnrinde schoß: „Ich liebe meine wunderschöne Kopfhaut! Voller Hingabe massiere ich sie täglich, damit mein Haar üppig wachsen kann. Erst dann fühl ich mich rundherum gut!“ Gesagt, getan! Und kaum hatte ich gleichzeitig meinen Spruch brav in Richtung Spieglein Spieglein an der Wand rezitiert, ging es mir um Längen besser! Beschwingt stellte ich mir vor, wie es denn wäre, noch am selben Tag komplett aus dem Arbeitsleben auszusteigen!? So für so circa fünfundfünfzig Jahre lang? Das war‘s! Genau das würde ich nachher der Frau vom Amt kackfrech ins Gesicht brüllen! Um dann für immer aus ihrem erbärmlichen Dasein zu verduften...

Vollgestopft mit neuem Tatendrang wollte ich mich, um nun endgültig auch noch den letzten Rest meiner Müdigkeit zu vertreiben, ausgiebig strecken – doch sogleich fauchte meine Wirbelsäule rekordverdächtig. Als ich jedoch schon schmerzgekrümmt zusammensinken wollte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Natürlich liebte ich auch meine Wirbelsäule! Alle Wirbel waren innig miteinander verbunden und das machte mich stark. Und so überaus flexibel! Wahrhaftig: Ich konnte mich, wenn ich nur wollte, dem Himmelsgewölbe entgegenstrecken! Meine Wirbel fauchten zwar beim Versuch dessen noch immer, das aber war lediglich dem Umstand geschuldet, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt einfach nicht feinfühlig genug mit meinem Rückrat umgegangen war. Auch dies würde sich umgehend ändern! Nie wieder, so nahm ich mir vor, würde ich mich dazu überreden lassen, Lara Huckepack mit mir herumzuschleppen - so sehr mein Schokotaler auch winseln würde. Schluss mit lustig! Fortan würde es nur noch um mich gehen! Noch mehr als sonst... Und über diesen fulminanten Geistesblitz außer mir vor Freude, rief ich aus: „Ich bin die göttliche Ausdrucksform des Lebens!“ Nur ganz kurz - eine klitzekleine Millisekunde vielleicht – schwante mir, ich könnte möglicherweise im Begriff sein, langsam aber sicher durchzudrehen. Aber Quatsch mit Soße! Ich kam ihm nur immer näher, dem eigentlichen Sinn des Lebens! Wie um dies zu bekräftigen, murmelte ich mehrmals halblaut die Zauberformel vor mich hin: „Ich habe Elan! Elan! Elan!“ Und alsbald zirkulierte ein noch stärkeres Glücksgefühl durch meine Körperlichkeit und freudvolle neue Ideen konnten sich nun frei in meinem Inneren entfalten. Es gab nur einen Haken: Das flaue Gefühl in meinem Magen wollte nicht so recht weichen. Ich musste dringend etwas futtern! Ergo schlenderte ich voller Appetit – das erste Mal seit Wochen! – in die Küche und biss wenige Augenblicke später voller Verzückung mitten hinein ins Leben, konkret: Ich knabberte an einer labberigen Weißbrotscheibe. Die Backware schmeckte zwar äußerst eklig – etwas anderes hatte ich leider, bis auf eine Dose abgelaufene Truthahnwurst, nicht mehr auf Lager - dennoch biss ich voller Entrückung hinein in dieses Brot, denn ich wusste: Ich liebte auch meine wundervollen Zähne! Und war mehr als dankbar für ihren getreuen Dienst!

Im Handumdrehen ging es mir besser. Und um diesen Zustand so lange wie möglich beizubehalten, kaute ich genüsslich weiter und dankte auch und immer wieder aufs Neue meiner wundervollen Milz, ohne die dieses Vergnügen ebenfalls nicht möglich gewesen wäre. Angst um meine Figur hatte ich dabei zur Abwechslung mal nicht, denn ich hatte – besser spät als nie - verinnerlicht, meine Erstausstrahlung zu lieben! Sie passte vollkommen zu mir. Vor allem aber meine gutproportioniert Taille! Die irgendwie, und das fiel mir fürwahr erst jetzt auf, genau den richtigen Umfang hatte! Was bedeuteten da also schon die drei Pfund, die ich zuviel auf den Rippchen mit mir durchs Leben trug? Pillepalle! Mein Körper war absolut perfekt! Und mein abgezehrter Selbstwert kletterte mit jedem Nachschlag – ich war gerade dabei, nun auch noch die Süße des Lebens zu erfahren – immer weiter aus seiner Untiefe hervor. Ich begriff: Ich bestehe aus dem vollkommensten Material des Universums! Diese absolute Grazilität meines Körpers, die in jeder Zelle und in jedem Organ steckt... Ich streichle mich gern.

Und in praxi tätschelte ich - wie ferngesteuert - meine Wange, auch wenn ich mir dabei anfangs zugegebenermaßen leicht lächerlich vorkam. Aber was tut frau nicht alles um das, was blockiert, zu überwinden!? Und während ich begann, mit Daseinsfreude die Erfahrungen meines Lebens zu verdauen – will sagen: Die Brotscheibe löste sich Stück für Stück in meinem Kuhmagen auf – betete ich mir mit fester Stimme vor: „Meine Hautpelle ist der Mantel, der den Tempel beschützt, in dem ich wohne. Und aus lauter Freude tanze ich ein vitales Freudenballett, denn ich habe alles was ich brauche: Mich!“ Immer weiter steigerte ich mich in diese allumfassende Ekstase hinein. „Denn selbst mein Po, der Sitz meiner Macht, wird day by day ausdrucksschöner. Ich verneige mich vor dem Altar meiner Selbst!“ Eine Tat, die nicht folgenlos bleiben sollte, denn bei der letzten Etappe dieser Selbstrede verneigte ich mich tatsächlich, nur: Irgendwie wurde mir schwarz vor Augen...!?

 

Als ich nach einer halben Ewigkeit wieder zu Bewusstsein gelangte, konnte ich fürs Erste nichts weiter tun, als mich mit wackeligen Puddingbeinen zurück aufs Bett zu schleppen. War es denn möglich, dass ich es doch ein wenig übertrieben hatte? Erschöpft ließ ich mein soeben noch hochgelobtes Zentrum der Macht ein wenig ruhen und fühlte mich irgendwie nicht mehr ganz so gut.

Doch in diesem Augenblick kehrte es in meinem Blickwinkel zurück: Das Buch! Friedvoll lugte es aus meiner Tasche hervor. Und kaum hatte ich es wieder zwanghaft zur Hand genommen, spürte ich auch sofort wieder all die positiven Energien, die seinerseits auf mich übersprangen! Ich hatte meine Lektion gelernt: Ich musste nur glauben! So einfach war das!

Für ein paar Minuten saß ich völlig benommen einfach nur da, stierte apathisch auf dir mir gegenüberliegende Wand und sinnierte parallel über die herrliche Wohnstätte meines Körpers. Er diente mir so gut! Mein Körper war ein einziges Wunder!

 

Irgendwann dann, mit Blick auf die Uhr, war es an der Zeit, eine Zigarette zu rauchen, denn ohne Zigarette und Morgenkaffee gehe ich nie aus dem Haus. Doch während ich mir noch eine drehte, flüsterte ich schon wieder weiter beschwörend vor mich hin: „Es ist eine Freude, meine Finger zu betrachten! Ich lege meine Finger an den Puls des Lebens.“ Mein Aussetzer vorhin hatte mir zwar schon sehr zu denken gegeben, aber die abschließende Überprüfung ergab: Mittlerweile schlug mein geliebtes Herzilein wieder völlig im Takt. Hatte ich denn wirklich etwas anderes erwartet!? Nicht wirklich.

Zeitgleich stellte ich meine Zigarette fertig. Durch das Zittern meiner Finger war sie zwar etwas missglückt und glich eher einem Joint denn einem normalen Sargnagel, aber was ist in dieser Welt schon normal? Und weil meine Lara-Püppi noch selig schlief und demnach durch mein Rauch-Gebaren nicht auf blöde Gedanken kommen konnte, nahm ich schnell einen tiefen Zug - voll und frei nahm ich das Leben in mir auf und ließ es wieder hinausströmen! Im selben Moment schlürfte ich zwei Schlucke Espresso extra stark – und langsam kehrten sie zurück, meine Lebensgeister. Und mit einem Mal konnte ich wieder spüren, fühlen und verstehen! ...leider gehörten damit meine Kopfschmerzen auch wieder zu meinem Repertoire, denn das einstige Vorhaben, eine Valium einzuwerfen, hatte ich über all diese ergreifenden Ereignisse  der letzten Atemzüge längst wieder verdrängt - ich Schussel, ich. Jetzt aber!

Nachdem ich drei Pillen eingeschmissen hatte, bewegte ich mich in die Richtung, die für mich am besten war: Ich wankte auf die Toilette. Wie üblich nach übermäßigem Koffein-Genuss. Vorsichtig inspizierten meine Zehen die Zukunft – zuerst meinen Teppich und dann die Fliesen – doch wie von selbst fanden sie den besten Weg, den schnellsten! Denn es war wirklich mehr als dringend... Geschafft! Und damit ließ ich alles los – alle Gedanken, alle Exkremente - die versperren konnten oder verstopften. Leicht und freudig floss alles aus mir heraus! Und kurz darauf war mein Bewusstsein wieder gereinigt und gesund und schnell dankte ich auch noch meiner wunderbaren Leber und meinen wundervollen Mastdarm für ihre vorbildliche Funktionstüchtigkeit. Was täte ich ohne sie!?

 

Plötzlich jedoch, mitten in all dieser Seligkeit, vernahm ich einen langgezogenen Schrei. Er kam vom Hof. „HOOOLGEER!“ brüllte Frau Meier-Müller-Schulze, die im fünften Stock über mir haust. „Du gottverdammter Lausebengel, eins versprech ich dir: Wenn ich dich zu fassen kriege, dann kannst du aber dein blaues Wunder erleben! NU PAGADI!“ Sah ganz danach aus, als wenn das reizende Holgerchen mal wieder etwas ausgefressen hatte? Das kam öfter vor und früher wäre ich über diese Störung meiner Ruhe wohl äußerst genervt gewesen, an diesem Tag jedoch wusste ich: Dies war nur der Schrei nach Liebe, der hinter den Worten eines JEDEN Menschen verborgen liegt! Die fleischliche Frau Müller nämlich liebte ihren Sohn einfach nur! Auch wenn sie das so vielleicht nicht immer ausdrücken konnte... Meine Wenigkeit zumindest freute sich wie verrückt darüber, das Leben überhaupt hören zu können! Erst wenige Stunden zuvor noch hätte ich diese wunderbare Fähigkeit meiner ebenfalls wunderbaren Ohren noch nicht einmal gebührend zu schätzen gewusst!

Um Frau Müllers zeternde Stimme noch deutlicher genießen zu können, öffnete ich umgehend das Fenster, sperrangelweit – und war einfach nur glücklich. Einfach so! Denn mit einem Mal bestand das Blut in meinen Adern aus reiner Freude. Und diese Freude des Lebens floss frei durch meinen ganzen Körper!

So brachte ich die nötige Energie auf, meine Beißerchen zu entflecken – natürlich nicht, ohne mich auch bei ihnen noch drei Dutzend mal zu bedanken – und mich endlich fix und fertig anzuziehen, um wenig später (trotz gleichbleibender körperlicher Gebrechen) vergnügt zur Arbeit zu hüpfen. Ein erfüllter Tag, der da vor mir lag. Wie alle, die noch folgten! Bis heute!

 

Ganz zu Beginn – Aug in Aug mit dieser Zigeunerin - war das Buch, um das es hier geht, noch ein ungeliebtes Geschenk. Vielleicht aber – hoffentlich! – ist durch meine Schilderung klarer geworden, war es mir unterdessen bedeutet. Seine Sätze helfen mir durch manchen Engpass des Leben. Ein Meisterwerk! Ich liebe meinen Körper, mein Leben, mich! Diese Zauberformel ist der Schlüssel zu allem! Und seither strahle ich Liebe in alle Richtungen aus und mein ganzes Leben ist eine reine Freude! Sicherlich – mitunter gibt es auch jetzt noch Abende, an denen ich mich beschissen fühle. So wie heute zum Beispiel, denn aus meinem Vorhaben, gewollt einen auf langzeitarbeitslos zu machen, ist leider nichts geworden, weil die Dame vom Amt sich trotz Bestechungsgeld nicht auf einen Deal mit mir einlassen wollte. Diese unverständige Trulla besaß doch sogar noch die Frechheit, mir mit Streichung meiner Bezüge zu drohen! Und weil ohne Moos nix los, blieb mir in letzter Instanz nichts weiter übrig, als klein beizugeben. Seither springe ich von Aushilfsjob zu Aushilfsjob – und einer ist bekloppter als der andere. Aber obwohl sich auch in der Liebe bisher noch nichts Wesentliches getan hat - all dies ist nur eine Frage der Zeit! Denn eines habe ich mir hoch und heilig geschworen: Ich werde nicht mehr tatenlos zusehen, wie meine Unzufriedenheit mich auffrisst! Sondern ich werde handeln! Und zwar auf der Stelle!

Zum Bleistift könnte ich nachher gleich mal versuchen, irgendwie irgendwo diese Zigeunerin ausfinden zu machen!? Um ihr die Füße zu küssen für ihre gute Tat, die mir mein neues, hinreißendes Lebensgefühl überhaupt erst möglich gemacht hat! In Gedanken habe ich dies natürlich schon tausendundeinmal getan, aber es ist gar nicht so leicht, dieses alte Hutzelweibchen zu erwischen! Seltsamerweise ist es seit unserer letzten Begegnung wie vom Erdboden verschluckt... Aber wenn ich diese Wunderheilerin eines schönen Tages doch noch ausfindig mache - vielleicht hat sie ja sogar Lust, mit mir mal einen Yogi-Tee zu trinken? Bei Räucherstäbchen und sinnlicher Hasch-Mucke könnten wir dann gemeinsam einen Leserbrief an diese wunderbare Autorin verfassen!

Wie auch immer: Ich werde diesen Tag nutzen. So oder so! Und hoffe, IHR tut das gleiche! Liebe sei mit Euch bei alledem!!!!!

 

(PS: Nur so zum krönenden Abschluss: Die kursivgedruckten Sätze meines Textes sind ORIGINALGETREU aus dem oben genannten Buch entnommen - nicht, dass noch der völlig falsche Eindruck entsteht, solch geniale Einfälle könnten aus meiner eigenen Feder entspringen! Bewahre! Ich kann ja nicht einmal schreiben. Dafür aber ziemlich gut Geschichten erzählen. Und was für welche!)




Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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