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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ein Tag, der uns Begreifen lehrte

© Susan Witzig


Es war ein nahezu perfekter Ort. Ein Ort zum Träumen und sich treiben lassen. Treiben in eine Fantasie, die nur mir gehörte. In der ich sein konnte, wie ich wirklich war. Ein kleines, stupsnasiges Mädchen von sechs Jahren mit einem ganzen Haufen voll Flausen im Kopf. Der Schalk sprühte aus meinen strahlend graublauen Augen. Mein Gesicht war mit Sommersprossen übersät und wenn ich lachte, zeigten sich auf beiden Wangen Grübchen. Für alle Untaten war ich jeder Zeit bereit, was mir aber auch immer sehr viel Ärger einbrachte. Und dieses aufgeweckte Kind namens Susi gab es selten allein, meist war ich in Begleitung meiner besten Freundin Jacqueline. Wir beide träumten sehr gern in den Tag hinein. Erfanden große Abenteuer, die wir gemeinsam meisterten.
Jacqueline, sieben Jahre alt, machte immer den Eindruck vor Wasser zu fliehen. Auf ihrem eher dunkelhäutigen Gesicht fanden sich zu jeder Tageszeit vereinzelt Schmutzspuren. Die wundervollen langen, pechschwarzen Haare hingen in Strähnen ungekämmt herunter.
Wir liefen gern stundenlang barfuss über frisches Gras. Atmeteten tief die Luft der Freiheit ein. Genossen jeden Moment unserer Zweisamkeit. Nur wir beide konnten uns ohne viel Worte verstehen. Es gab Tage, an denen wir stumm in der Gegend herumliefen und an anderen wollte das Geplapper nicht enden. Dann sprühten wir vor Einfällen und überschlugen uns vor Begeisterung. Diese Freundschaft bedurfte kaum Worten, andererseits konnten wir uns alles und zu jeder Zeit erzählen.
Wir waren Freundinnen in einer Kleinstadt, in der sich jeder um jeden kümmerte. Waren wir unterwegs, waren tausend Augen auf uns gerichtet. Stellten wir etwas an, konnten wir sicher sein, dass unsere Eltern es wussten bevor wir abends zu Hause waren. Dann folgte das große Donnerwetter und endete oft mit Hausarrest.
In so einer Stadt ist es schier unmöglich einmal unbeobachtet zu spielen. Jacqueline und ich hatten nun aber so einen Ort gefunden. Diesen wunderbaren Fleck auf erden, an den wir uns zurückziehen konnten um unserer Leidenschaft zu frönen. Einem Ort, an dem wir wir selbst sein konnten und kein Erwachsener uns störte.
Dort gab es eine herrlich grüne Wiese, übersät mit bunten Blumen je nach Jahreszeit. In ihrer Mitte stand der wohl älteste Baum auf Erden. Eine knorrige Eiche, die uns täglich die tollsten Geschichten erzählte.
Meist saßen wir in den starken Ästen und lauschten dem Wind, der mal sanft und mal heftig durch die stolze Krone strich. Das satte Grün der Blätter umgab uns wie ein Vorhang, der uns vor den Blicken verbarg. Dorthin zogen wir uns immer öfter zurück.
Die Wiese selbst war noch von Koppeln umgeben, die immer abwechselnd von zwei Pferden begrast wurden. Im Frühjahr kamen die Tiere raus und wenn sie im Herbst wieder in den Stall geführt wurden, wussten wir, dass die Nächte wieder eisig wurden.
Es waren zwei starke, ebenholzfarbene, junge Hengste. Sie waren sehr verspielt und wir sahen ihnen gerne zu. Manchmal, wenn die Pferde ganz ruhig über die Koppel streiften und gemütlich fraßen, setzten wir uns vorsichtig auf ihre Rücken. Dann lagen wir oft stundenlang mit dem Kopf auf den Kuppen und erzählten uns Geschichten. Meist handelten die vom Fliegen. So rücklings auf den Pferden liegend sahen wir nichts als den horizontlosen Himmel und wir begriffen ein wenig von der Freiheit in den Wolken. Wir ließen uns in die Lüfte tragen und schickten unsere Gedanken und Wünsche mit den vorbeiziehenden Vögeln um die ganze Welt.
Mit diesem geheimnisvollen Ort verband ich die schönsten Kindheitserinnerungen. Ich war mehr als glücklich, wenn wir an ihm verweilten. Kaum einer wusste davon! Keiner kam dorthin! Und dieser Platz sollte uns eines Tages einfach genommen werden? Nein, natürlich war er noch da, aber er war nie wieder so schön.
An diesem schicksalhaften Tag, es war ein Sonntag, kamen meine Freundin und ich gleich nach dem Mittag hierher. Wir konnten es kaum erwarten und schlangen gierig das Essen herunter. Was uns gleich wieder eine Rüge einbrachte. Aber nichts konnte uns die Vorfreude nehmen. Es war ein sonniger Frühlingstag. Die Sonne triumphierte endlich über den Winter. Die Wiese war überzogen mit weißen Schneeglöckchen. Es roch noch nach dem Schnee, der bis vor zwei Tagen, als Zeichen des letzten Aufbegehrens, die Erde bedeckte. Aber nun schien der Sieger festzustehen und der Frühling breitete sich im ganzen Land aus. Genau wie die Knospen, die sich nach der Sonne reckten, zog es uns nach draußen.
Unsere Pferde waren noch nicht rausgebracht worden. Also rannten wir schnurstracks über die Wiese zu unserem Baum. Glücklich wieder hier sein zu können, versuchten wir diesen stattlichen Stamm mit unseren kurzen Armen zu umschließen. Wir lachten aus vollen Kehlen, als wir feststellten, dass unsere Spannweite nicht mal für die Hälfte reichen würde. In Windeseile kletterten wir behände in die Krone. Jeder Handgriff saß, jeder Fuß fand seinen Platz. So etwas konnten wir im Schlaf.
Wir saßen eine ganze Weile in dem Wipfel unserer altehrwürdigen Eiche und erzählten uns Geschichten. Einer versuchte den anderen zu übertrumpfen. Es gab nichts was uns glücklicher machen konnte.
Jacqueline berichtete von ihrem Ritt auf dem Rücken eines Einhorns. Der Trip ging durch einen Märchenwald mit Feen und Kobolden. Als ich im Begriff war mich mit einem Feuer speienden Drachen anzufreunden, hörten wir plötzlich ein tiefes Grollen ganz nah an unseren Ohren. Für ein paar Sekunden starrten wir uns vor Schreck an. Um uns hatte sich die Welt verdunkelt, aber da dann nur ab und zu noch ein Grummeln die Stille durchbrach, gaben wir uns alles vergessend wieder unserer Fantasie hin. Diese wurde durch die reellen Ereignisse nur noch verstärkt. Wir redeten uns in Rage. Es war wie ein nicht enden wollender Rausch der Sinne. Wir waren high!
Über uns war ein Meer von drohenden Wolken. Sie sperrten die Sonne nun fast gänzlich aus und türmten sich auf als galt es eine Schlacht zu bestreiten. Es grollte und tobte nun nicht mehr nur vereinzelt über uns. Als wir dieses endlich realisierten, schmiegten wir uns eng an unseren starken Baum. Die Blätter der Eiche umgaben uns wie die Hände einer Mutter ihr Baby schützend. Wir fühlten uns geborgen und wähnten uns in Sicherheit, wo keine war. Um uns dröhnte es und blitzte nun auch. In mir stieg eine Ahnung hoch und ich erinnerte mich an die Worte meiner Uroma: "Vermeide stets freistehende Bäume, wenn es gewittert!" Diese Worte schwirrten immer und immer wieder in meinem Kopf herum.
Inzwischen tobte über uns ein Krieg. Blitz und Donner trugen ihre Zwistigkeiten in unmittelbarer Nähe unserer Zuflucht aus. Es regnete zwar noch nicht, aber der Wind fegte durch unsere schützende Baumkrone.
Wir hatten Angst, unbeschreibliche Angst. Diese Angst, bei der man erstarrte und wie angewurzelt da blieb, wo man nicht sein sollte.
Jacqueline ergriff bebend meine Hand und ich sah in ihre schwarzen panikgeweiteten Augen. Sie weinte vor Angst. Jetzt bemerkte ich die Tränen auch auf meinem Gesicht. Wir zitterten beide am ganzen Körper und konnten uns kaum noch halten.
Plötzlich gewann meine Uroma die Oberhand über meine Angst. Ich rief zu Jacqueline: "Wir müssen hier weg, an den Rand der Wiese, wo kein Baum ist!" Sie bedeutete mir in dem Trubel, dass sie nicht verstand. Ich schrie gegen den tosenden Sturm an. Und auch wenn sie nur Fetzen aufschnappte, begriff sie, was ich wollte. Nach einem längeren Zögern, das jäh durch einen Blitz in nächster Nähe unterbrochen wurde, ließen wir uns förmlich von unserem Baum fallen. Wir rannten, was unsere Füße hergaben. Rannten zum Rand der Wiese, weg von dem Baum. Weg von unserem Baum. Als rannten wir um unser Leben. In den nächsten Sekunden sollte es auch so sein.
Einen Augenblick, nachdem wir von unserem Baum runter sind, durchzog ein mörderisches Krachen die Luft, dass uns der Atem stockte. Ein gleißendes Licht erhellte den gesamten Ort. Eher unwirklich, wie Neonlicht im Krankenhaus.
Noch im Spurt drehten wir uns um. Alles schien wie in Zeitlupe. Unsere Füße trugen uns nicht mehr. Das grelle Licht war einem gelben, flackernden Schein gewichen. Unsere prachtvolle alte Eiche war gebrochen und brannte lichterloh. Eine eisige Hand griff nach meinem Herzen und ein riesiges Hühnerbein steckte in meiner Kehle und hinderte mich am Atmen. Der jäh einsetzende Regen konnte es nicht mehr verhindern. So stattlich diese Eiche einst war, so stattlich war nun das Feuer, das sie vernichtete. Jahrhunderte altes Leben wurde in Minuten ausgelöscht. Wir standen im strömenden Regen und starrten auf unsere einstige Zufluchtstätte.
Das Ausmaß des Geschehenen begriffen wir erst am nächsten Tag. Die alarmierte Feuerwehr konnte nur noch eine Ausbreitung des Feuers verhindern. An der Vernichtung konnten sie nichts mehr ändern.
Dort wo mal ein mächtiger Baum stand war nur noch Asche und ein gespaltener Stumpf. Der Blitz war mitten durchgefahren. Da wo wir gesessen hatten war Verwüstung und Tod. Unsere Knie versagten und in tiefer Trauer sanken wir zu Füßen der Reste unseres geliebten Baumes nieder. Unbeschreibliche Trauer, die einem die Kehle zuschnürt, als würde man einen lieben Menschen verlieren.
An diesem Tag waren wir nicht mehr sechs oder sieben Jahre alt. Wir sahen in diesem Moment die Welt nicht mit Kinderaugen. In uns reifte die Erkenntnis, dass das Leben vergänglich ist und nichts ewig wehrt. Selbst eine Jahrhundert alte Eiche nicht. Auch begriffen wir langsam, aber mit Bestimmtheit, dass meine Uroma uns das Leben gerettet hatte. Nichts war mehr wie es mal war!



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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