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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die Elefantin schwimmt

© Mithra Grünberg


Sie landeten in Antalya um 0:30 Ortszeit und wie eine Herde Schafe trabten sie zum Ausgang, nachdem ein schlurfendes Förderband ihre Koffer ausgespuckt hatte. Im Bus, der sie zu ihrem Hotel bringen sollte, sorgte Kurt dafür, dass sie zwei Sitze schräg hinter dem Fahrer für sich allein hatte, doch obwohl sie die Zwischenlehnen hoch klappte, war es absurd unbequem. Ganz offensichtlich waren weder Flugzeuge noch Busse für eine Frau wie sie gemacht. Auf der Fahrt zum Hotel fing es an zu regnen und der Bus schlitterte, wahrscheinlich hatten die Reifen kaum Profil, über die Fahrbahn. Sie dachte vage daran, was wäre, wenn sie einen Unfall hätten, wenn alle Urlaubsgäste, die Leute, die sie im Flugzeug beobachtet hatte, inklusive ihr, bei einem dramatischen Autounfall ums Leben kämen. Aber diese Vorstellung löste keine Reaktion in ihr aus, vielleicht war das auch zu abstrakt. Busse beförderten täglich Menschen vom Flughafen in die Hotels, warum sollte ausgerechnet bei ihnen etwas passieren? An der Rezeption gab es ein ziemliches Durcheinander, bis jeder sein Formular ausgefüllt hatte und wie so oft wunderte sie sich darüber, dass man diese Dinge so schlecht organisierte. Beim Finanzamt ging es ganz anders zu, alles hatte seine Ordnung, jeder Sachbearbeiter tat das, was in seinem Aufgabenbereich lag und so schlecht wie der Ruf dieser Behörde war sie bei weitem nicht, nein, ganz und gar nicht, aber die Leute brauchten ja immer ein Feindbild und da war das Finanzamt gerade gut genug. Kurt und sie warteten geduldig, bis sie dran waren, dann füllte er für sie den Anmeldebogen aus. Er war stolz darauf, dass er sowohl seine als auch ihre Reisepassnummer auswendig konnte, dabei waren Zahlen sein Metier, was war schon dabei. Er warf ihr nach dem Ausfüllen einen triumphierenden Blick zu, aber sie ignorierte es, vielleicht aus Müdigkeit, vielleicht weil sie es zu oft honoriert hatte, irgendwann musste mal Schluss sein mit den Mätzchen, schließlich waren sie seit fünfzehn Jahren verheiratet. Der Aufzug beförderte sie in den dritten Stock und während Loreley ihren Trolley über die absolut identischen Flure mit dem fleckigen Teppich zog, wusste sie, dass sie dieses Hotel hasste. Fünf Sterne, das war ja wohl ein Witz. Endlich hatten sie ihr Zimmer gefunden, ein schmaler Flur, dann ein Doppelbett, der Fernseher links, rechts ein Spiegel mit Ablage. Der Duschvorhang im Bad hatte schon bessere Tage gesehen. Kurt stellte ihren Trolley auf eine kleine Bank, rechts neben der Tür, dann legte er sich aufs Bett und schaltete den Fernseher ein. Zum Glück gab es einige deutsche Sender, insgesamt fünf. Während Kurt durch die Programme schaltete, packte sie ihren Koffer aus und dann auch seinen, als sie fertig war, sah er sie an und sagte: "Das hätte ich schon selbst gemacht, Lore." Sie nickte und erwiderte nichts. Manchmal tat sie ihm hier und da einen Gefallen, nur so, weil er ihr Mann war. Sie ging zuerst ins Bad, und als er anschließend im Bad verschwand, zog sie hastig ihr Hemd und ihre Hose aus und streifte ihr Nachthemd über, das sie bereits zurecht gelegt hatte. Natürlich wusste ihr Mann, wie sie nackt aussah, aber sie wollte ihm diesen Anblick nicht zu oft zumuten, möglicherweise würde er sie doch eines Tages verlassen, weil er diese Massen schwabbeliges Fleisch nicht mehr ertragen konnte. Sie schliefen sofort ein, ohne zu lesen oder den Fernseher noch einmal einzuschalten und als sie am nächsten Morgen aus einem traumlosen, tiefen Schlaf erwachte, war sie für einen Moment völlig orientierungslos. Es war nicht nur so, dass sie nicht wusste, wo sie sich befand, sondern vielmehr, als hätte sich durch den Ortswechsel auch ihre Identität aufgelöst und sie musste erst ihren dicken Arm sehen, dieses rosige Handgelenk, hinter dem sich die Haut spannte, wie bei einem zu prall gefüllten Ballon, als sie zur Armbanduhr auf dem Nachtisch griff, um vollständig sie selbst zu sein, Loreley Peters, die "Elefantin". Es war neun Uhr. Kurt schlief noch und sie ging benommen ins Bad, wusch sich und zog sich an, dann weckte sie ihn. Ihr Magen knurrte, weil sie im Flugzeug nur diese winzige Portion gegessen hatte und sie befürchtete, dass er es hören konnte, aber wahrscheinlich war das absurd. Man hörte den eigenen Magen auch nicht knurren, man spürte ihn eher und ihrer fühlte sich an wie ein Vakuum. Als sie in den Speisesaal kamen, waren schon fast alle Tische besetzt. Sie saß gern etwas abseits, damit ihr nicht alle Leute beim Essen zusehen konnten, aber der einzige Tisch, der noch frei war, lag in der Mitte des Raums und wurde von Kellner, die eifrig Tische abräumten und Kaffee servierten umspült, wie ein Fels in der Brandung. Widerwillig nahm sie an dem freien Tisch Platz und wartete geduldig, bis einer der Kellner sie in gebrochenem Deutsch fragte, was sie trinken wollten. Kurt orderte für sie beide Kaffee und es erforderte ihre ganze Konzentration und Willenskraft, nicht sofort zum Büfett zu gehen, denn im Saal roch es nahezu unerträglich nach gebratenen Eiern, nach Toast und aus dem Augenwinkel konnte sie Plunderteilchen sehen, die mit Puderzucker bestäubt dalagen, wie eine Berglandschaft im Schnee. Kurt rieb sich den Nacken, sah sich einen Moment ebenso verwirrt um, wie sie sich nach dem Aufwachen gefühlt hatte und rieb sich dann die Hände. "Okay, gucken wir mal, was es so gibt." Loreley erhob sich mühsam und folgte ihm zum Büfett. Zuerst aß sie drei Toast mit verschiedenen Sorten Marmelade, die trotz der knalligen Farben, grün, rot, gelb, alle gleich schmeckten, süß und synthetisch. Dann ließ sie sich zwei Eier mit Speck braten und verspeiste dazu ein Stück dunkles Brot, das sie an etwas erinnerte, was man zum Bauen von Häusern verwendete, möglicherweise Ziegelstein. Um das herunter zu spülen, trank sie einige Gläser von dem Orangensaft, der aus einem Saftspender in der hintersten Ecke des Raums kam, dazu musste sie den Speisesaal durchqueren und sie wusste genau, wie sie alle anstarrten, aber im Moment war ihr das egal, es gab nichts, wodurch sie sich stören ließ, wenn sie aß. Unter einer silbernen Glocke entdeckte sie Pfannkuchen, sonnengelb und federleicht und diese Entdeckung feierte sie, indem sie drei Stück mit Sirup aß und dann noch zwei mit Marmelade, der roten, Erdbeere möglicherweise. Kurt kaute langsam an seinem Brot mit Wurst. Er sah sie während des gesamten Frühstücks nur einmal kurz an, als er ihr Kaffee einschenkte und ihr Guten Appetit wünschte. Danach saßen sie sich gegenüber, jeder mit seinem Essen beschäftigt, in einem vertrauten Schweigen, das nicht nachdenklich oder arg war, lediglich Prioritäten setzte. Wer konnte schon vernünftig kauen, und sich dabei unterhalten? Zum Abschluss ging sie zu dem Tablett mit den Plunderteilchen und zu ihrer Enttäuschung musste sie feststellen, dass das perfekte Bild zerstört war, hier und da fehlte eine Bergkrone und blutrote Marmelade hatte Flüsse in die Landschaft gerissen, wo vorher nur eisige Idylle herrschte. Sie entschied sich für zwei, eins mit fein gemahlenen Haselnüssen bestreut und einem Marmeldenklecks, der wie ein Miniatur Ozean in dem Teig schwamm, das andere mit einer Puddingfüllung und kehrte zum Tisch zurück. Kurt hatte mittlerweile sein Brot aufgegessen und warf die Serviette wie einen Fehdehandschuh auf den Teller. Sie bot ihm aus purer Höflichkeit eins ihrer Teilchen an, war aber froh, als er kopfschüttelnd ablehnte. Sie aß beide auf, obwohl sie ziemlich trocken waren, das zweite tunkte sie ab und zu in ihren restlichen Kaffee. Dann wischte sie sich kurz den Mund mit ihrer Serviette und sah ihn an. "Das war ja schon mal was." Sie sprach so selten mit ihm, dass er regelrecht erschrocken wirkte, dann lächelte er und dieser Blick erinnerte sie vage an die Zeit, als sie das erste Mal miteinander ausgegangen waren. Kurt hatte damals oft gelächelt. Vielleicht aus Unsicherheit, vielleicht auch nicht, vielleicht war er auch glücklich gewesen. "Habe ich dir doch gesagt, Lore, fünfmal am Tag Essen. Und alles inklusive, Kaffee, Bier, Raki, alles." Sie wollte ihn fragen, was Raki sei, aber dann ließ sie es, wahrscheinlich war es auch ein Getränk, mit Sicherheit irgendetwas mit Alkohol. Im Gegensatz zu Kurt machte sie sich nichts aus alkoholischen Getränken, am liebsten trank sie Cola oder Milchshakes. Zu ihrem letzten Geburtstag hatte er ihr ein Küchengerät geschenkt, einen Mixer, damit sie die Shakes selbst machen konnte, aber wer hatte für so etwas schon Zeit? Sie jedenfalls nicht, wenn sie um fünf Uhr vom Finanzamt kam, dann war sie oft so erschöpft, dass sie manchmal sogar vor dem Fernseher einschlief. Einmal hatte er sie dabei erwischt, das heißt, sie hatte ihn nicht kommen gehört. Kurt war leise in die Küche gegangen und hatte sich eine Pizza in die Mikrowelle geschoben. Er hätte es gern gesehen, wenn sie häuslicher gewesen wäre, wenn sie besser hätte kochen können. Aber niemand hatte ihr jemals beigebracht, wie das ging, bis auf die paar albernen Rezepte, die eigentlich gar keine Rezepte waren, die ihre Mutter ihr mal gezeigt hatte, kurz vor ihrer Hochzeit. Wiener Schnitzel mit Gemüse, Kohlroulade mit Kartoffeln und ein Eintopf, den sie nur im äußersten Notfall jemandem anbieten würde. Kurt und sie lebten von Fertiggerichten, meist Pasta oder Pizza und das war praktisch, manchmal kauften sie drei Wochen im Voraus ein und lebten dann aus der Tiefkühltruhe. Sie las gern Artikel über gesunde Ernährung und Diäten, sofern sie mal im Wartezimmer eines Arztes landete. Aber das geschah selten, denn für ihr Gewicht war sie erschreckend gesund. Als sie aus dem Speisesaal kamen und den Hof überquerten, fing es gerade wieder an zu regnen. Gut, was sollte man im Januar auch anderes erwarten, hätten sie in der Hauptsaison gebucht, wäre die Reise mindestens doppelt so teuer gewesen und sie vertrug im Gegensatz zu Kurt keine Hitze. Um zu den Fahrstühlen zu gelangen, mussten sie an der Rezeption vorbei und ein winziger Kerl mit Schnauzbart stellte sich ihnen aufgeregt in den Weg. Das war ziemlich mutig von ihm. Ihr kam in den Sinn, dass sie ihn wie eine Elefantenkuh tatsächlich hätte nieder walzen können, aus Versehen, selbstverständlich. "Abfahrt in einer halben Stunde, meine liebe Gäste." Er sprach sehr gut deutsch, auch wenn ihr der Sinn dessen, was er gesagt hatte, verschlossen blieb. "Bus steht schon vor die Tür." Kurt sah sie ebenso verständnislos an wie sie. Es stellte sich heraus, dass in der Reise eine Übernachtung in Pamukkale beinhaltet war und dass es pro Person hundert Euro mehr kostete, wenn man in Antalya blieb. Weil sie nicht wussten, was Pamukkale sein sollte, zeigte der kleine Mann mit dem Schnurrbart stolz auf den Postkartenständer und Lore sah etwas, das sie vage an die Puderzuckerlandschaft vom Frühstücksbüfett erinnerte, alles weiß. Insgesamt klang dieses Angebot absurd, entsprach aber den Tatsachen, wie sie dem Kleingedruckten der Anzeige entnehmen konnte, die der Mann an der Rezeption ihnen gelangweilt ausdruckte und unter die Nase hielt. Sie sah Kurt wütend an, schließlich sollte er als Steuerberater wissen, dass man das Kleingedruckte zuerst las. Aber er hatte Loreley schließlich nicht gefragt, sondern einfach gebucht, übers Internet, und kam abends nach Hause, als hätte er Rom erobert. "Gut, dann gehen wir wohl besser packen." Loreley fand die Sprache eher wieder als er. Sollte er doch sehen, was er davon hatte, vielleicht verging ihm dann das Reisen ganz, was sie nicht weiter gestört hätte, kostete alles nur Geld und so dick hatten sie es nicht, jedenfalls nicht in dieser Beziehung. Zumindest würde er sie in Zukunft wieder fragen, ob sie Lust dazu hätte, so wie er es früher getan hatte, das war ja wohl das mindeste. Sie sprach kein Wort mit ihm und ließ ihn seinen Koffer selbst packen, was er nicht so gut konnte wie sie und er hatte Mühe, ihn zu schließen, bei all dem Quatsch, den er für eine Woche mitgenommen hatte. Sie stiegen in den Bus und da sie die letzten Gäste waren, mussten sie weit hinten sitzen, eingezwängt nebeneinander. Er saß am Fenster und sah die ganze Fahrt hinaus, sie streckte die Beine in Richtung Gang um mehr Platz zu haben. Kurt hatte die Zwischenlehne hoch geklappt und sie nahm auch ein gutes Stück seines Sitzplatzes ein, was auch für ihn unbequem sein musste, er war ja auch nicht gerade schlank, wenngleich nicht so fett wie sie, aber Muskeln gab es an seinem Körper keine, alles war weich wie Teig. Er sagte nichts und Lore tat so als würde sie dösen, während sie aus halb geschlossenen Augen die anderen Fahrgäste beobachtete. Vorwiegend Rentner und zwei Mädchen, die kichernd aufgeschaut hatten, als sie den Bus betrat. Lore konnte sie jetzt nicht mehr gut sehen, sie saßen ganz vorn, direkt hinter dem Busfahrer, lediglich der Arm des Mädchens, das außen saß, ragte heraus, braungebrannt, lang und schlank. Sie kicherten immer noch, Lore konnte es leise im Halbschlaf hören, aber sicher ging es dabei nicht mehr um sie. Der kleine Mann mit dem Schnurrbart begann eine komplizierte Rede, die nach jedem zweiten Satz mit "meine liebe Gäste" begann und mit "in diesem Sinne" endete. Nach einer Ewigkeit hielt der Bus an und sie stiegen aus. Es regnete immer noch und Kurt hastete ins Restaurant, sah sich nach ihr um: "Komm schon, du wirst ja ganz nass, wirst dir noch den Tod holen." Sie erwiderte nichts. Erwartete er tatsächlich von ihr, dass sie sich lächerlich machte, indem sie wegen ein paar Wassertropfen ihren schwerfälligen Körper in Bewegung setzte und die Fleischmassen über sie waberten, von oben nach unten und zurück und die Mädchen (vielleicht auch alle anderen) anfingen zu lachen? Ihr Mann kannte sie nicht, ganz offensichtlich nicht. Trotz all der Jahre, die sie gemeinsam ein Bett, eine Wohnung, ein Leben teilten. Lore erwiderte nichts, folgte ihm schwerfällig. Das Restaurant war mit großflächigen Bildern von Strandlandschaften und idyllischen Ruinen zwischen satten, grünen Wiesen dekoriert, alles etwas ausgeblichen und fadenscheinig, wie ein Tagtraum. Es ging eine Treppe hoch und in der Mitte des Raums stand eine lange Tafel. Lore setzte sich an die untere Ecke, Kurt daneben. Es gab Reis und Reisnudeln, Köfte und Kebabfleisch, einen Salatteller, den sie vorsichtshalber nicht anrührte. Lore aß reichlich und fühlte sich danach etwas besser, wenn sie auch bereute, dass sie das Büfett und auch den Nachmittagskuchen im Hotel verpassen würde. Sie fuhren wieder ein Stück, dann hielt der Bus auf einem Parkplatz. Über ihnen lag etwas, das im weitesten Sinn Ähnlichkeit mit dem hatte, was sie auf der Postkarte gesehen hatte, nur sah es schmutziger und kleiner aus. Um Schnee konnte es sich nicht handeln, denn es war deutlich über Null Grad. Der Regen hatte gerade aufgehört. Sie wäre am liebsten im Bus geblieben und hätte weiter gedöst, das Essen lag ihr doch etwas schwer im Magen, vielleicht hätte sie nicht diese in Honig getränkten spinnwebartigen Teilchen essen sollen. "Na, dann schauen wir uns das mal an." Kurt rieb sich in die Hände, aber seine Stimme klang lahm. Erst ging es langsam, aber stetig nach oben, dann konnten sie von dort herunterschauen, auf eine Landschaft, die terrassenartig, dreckig und eierschalenfarben unter ihnen lag. Lore weigerte sich, aber Kurt zog mit den anderen die Schuhe aus, offensichtlich handelte es sich um heiße Quellen. Lore sah Kurt und den anderen aus ihrem Reisebus zu, wie sie mit weißen, haarigen Beinen, die Hosenbeine hochgekrempelt, durch die Rinnsale wateten. Das war etwas für Verrückte, jedenfalls nichts für sie, auch wenn das Wasser warm war, das war doch lächerlich. Sie dachte daran, dass sie zu Hause ein elektronisches Fußbad mit Sprudelfunktion und Massagedüsen hatte. Zumindest musste man dafür nicht vier Stunden im Bus sitzen. Dieser ganze Ausflug war so unsinnig, wie nur irgendetwas. Sie sah Kurt zu, wie er vorsichtig durch das Wasser watete, ihr zuwinkte, aber eher fragend, als würde er auch keinen Sinn darin erkennen können. Er kam schon nach kurzer Zeit zurück. Sie gingen in das nahe gelegene Restaurant, dort war es zugig, aber wenigstens trocken, denn es regnete schon wieder. Die beiden jungen Mädchen aus dem Reisebus schienen sich auch nicht für dieses Naturwunder zu interessieren, sie saßen am Nebentisch, rauchten und flirteten mit dem Kellner, einem jungen Burschen mit schiefem Lächeln und schmierigem Haar. Lore aß zwei Stück Kuchen und trank dazu Milchkaffee, Kurt bestellte nur Kaffee. Er fragte nach Raki, aber der Kellner schüttelte den Kopf, als hätte er ihn nicht verstanden, oder vielleicht war der Raki auch alle, so genau war das nicht zu sagen. Lore war froh, dass es keinen Schnaps gab, Kurt wurde manchmal laut, wenn er getrunken hatte und das wäre ihr peinlich gewesen, hier mit den anderen Leuten in einem fremden Land. Endlich konnten sie wieder in den Reisebus. Auf der Fahrt ins Hotel wäre Lore fast eingeschlafen, sie saß diesmal am Fenster und sah durch die glitzernd nasse Scheibe auf graue Hügel und noch grauere Ruinen dazwischen, irgendeine antike Stadt, vielleicht von den Griechen, so genau hörte sie nicht zu, während der winzige Mann mit dem Schnurrbart weiter zu seinen lieben Gästen sprach. Im Hotel stellte sich heraus, dass ausgerechnet ihr Zimmer noch nicht fertig war, was immer das zu bedeuten hatte, schließlich war die normale check-out Zeit überall auf der Welt 12 Uhr, soviel wusste sogar sie, also verstand sie das nicht, schließlich war es mittlerweile später Nachmittag. Aber es machte keinen Sinn, sich aufzuregen, das war nicht ihre Art. Kurt protestierte halbherzig, doch der Mann an der Rezeption schüttelte immer wieder den Kopf, dann kam der Reiseleiter und redete hitzig auf türkisch mit dem Mann, aber es half nichts, sie mussten warten. Heftig mit den Händen rudernd entschuldigte sich der kleine Bärtige immer wieder, bis es Lore zu dumm wurde. "Und wo sollen wir solange hin, meinen sie, ich setze mich jetzt in diese zugige Eingangshalle und hole mir den Tod?" Kurt runzelte die Stirn und nickte, so als würde ihm diese Gefahr auch zum ersten Mal bewusst werden. "Ja, wir haben nicht all das Geld bezahlt, um dann krank zu werden, weiß Gott nicht." Also schickte man sie in die hauseigene Therme, stellte dort zwei Stühle auf und drückte ihnen ein zartes Teeglas in die Hand. Lore kam sich albern vor, wie sie da saß, so komplett angezogen und einigen Leuten zusah, die träge in dem heißen Wasser planschten. Das Hotel hatte einen deutlich höheren Standard, als das Hotel, in dem sie ursprünglich eingecheckt hatten, aber sie hätte viel dafür gegeben, wenn sie das alles schon hinter sich gehabt hätte, am liebsten den ganzen Urlaub. Kurt war ebenso schweigsam wie sie, schlürfte langsam seinen Tee und sah den zwei jungen Mädchen in ihren knappen Bikinis hinterher, die gerade aus der Umkleidekabine kamen. Er dachte natürlich, dass sie seine Blicke nicht sah, aber Lore sah alles und ohne es zu bewerten, wunderte sie sich manchmal darüber, warum er ausgerechnet sie geheiratet hatte. Dampf stieg aus den heißen Quellen auf und sie fasste einen verrückten Plan. Sie hätte sich niemals vor all diesen Leuten in ihrem Badeanzug gezeigt, eine Sonderanfertigung und es dauerte eine Ewigkeit, bis sie ihn angezogen hatte und trotzdem war sie noch nie damit geschwommen, hatte sich nur zweimal im Spiegel betrachtet, einmal im Geschäft in der Umkleidegarderobe, dann noch einmal zu Hause, als Kurt nicht da war, im langen Spiegel im Flur. Sie würde ihren Badeanzug einweihen, hier in diesen heißen Quellen, die angeblich gegen alles halfen, Hautausschlag und Rheuma, nur nicht gegen Fettsucht, aber das war egal. Diese Aussicht machte sie ganz kribblig, wie ein Schulkind, das etwas Verbotenes plante, dabei war sie nun schon vierzig und wusste immer noch nicht, was sie sich unter erwachsen sein eigentlich vorstellen sollte, vielleicht diese ewige Müdigkeit, das musste es sein, das kannte sie erst seit einigen Jahren. Als sie ihren Tee ausgetrunken hatten, konnten sie endlich in ihr Zimmer, es war etwas eleganter und geräumiger als das, in ihrem alten Hotel. Diesmal packte Lore nicht aus, es lohnte sich ja wohl wirklich nicht. Dann gab es ein reichliches Abendessen, ein Büffet und Lore aß dicke, sämige Pasten in gedeckten, herbstlichen Farben, beige, cayennepfefferrot, moosgrün, die alle nach Knoblauch schmeckten, mit duftendem Fladenbrot, das in riesigen Bergen auf den Tischen stand. Es gab Kalbfleisch, Fisch, Hühnchen in einer safrangelben Sauce, sie nahm von allem, ließ aber noch Platz für den Nachtisch, Kuchen und Desserts so weit das Auge reichte. Insgesamt waren sie zweieinhalb Stunden im Speisesaal und Lore stellte irgendwann mit Bedauern fest, dass sie satt war. Es war immer wieder das gleiche, irgendwann blieb der Appetit weg, sie musste einfach aufhören, obwohl sie eigentlich noch Hunger hatte, ein unbestimmtes Gefühl, das sich nicht legen wollte, egal wie viel sie aß. Zum Essen trank sie ein Glas Rotwein, der ihr sofort zu Kopf stieg und Kurt bekam endlich seinen Raki. Er prostete ihr zu und trank gleich drei hintereinander, zum Essen und zusätzlich ein kleines Bier. Auf dem Weg zu den Aufzügen wankte er ein bisschen, aber sie tat so, als würde sie es nicht bemerken. Kurt schlief schon ein, während sie noch im Badezimmer war, er hatte sich die Hose ausgezogen und sich aufs Bett gelegt und sie weckte ihn nicht, sondern deckte ihn nur notdürftig zu, er wurde immer so ungehalten, wenn man ihn wachrüttelte, wozu auch, immerhin war er ja wohl müde, das war ja ein anstrengender Tag. Lore löschte das Licht und dann schlich sie sich aus dem Zimmer. Es war 22 Uhr und die Therme hatte seit zwei Stunden geschlossen. Wenn sie Pech hatte, dann war die Tür tatsächlich zu, verriegelt, aber nein, sie hatte Glück. Sie schaute kurz nach rechts und links, wie ein Warenhausdieb, der gerade damit auf sich aufmerksam macht, dann zog sie die Tür hinter sich zu. Es war dunkler als am Nachmittag, aber das Licht war nur runtergeschaltet, nicht ganz gelöscht, was der zweite Glücksfall war, möglicherweise würde sie einem Reinigungstrupp in die Arme laufen, aber dann würde sie so tun, als hätte sie sich verirrt, was war schon dabei, schließlich war sie im Ausland, überhaupt war das kein Grund sich Sorgen zu machen, immerhin hatten sie für den Urlaub gezahlt, teures Geld obendrein und das alles für ein paar warme Füße. Nun, sie wollte mehr. Umständlich zog sie sich aus und streifte dann den Badeanzug über, ein fast unmögliches Unterfangen, entweder war er zu klein, oder sie hatte zugenommen, das wusste sie nicht genau, da ihre Waage im Bad nicht funktionierte, sie hätte sie längst wegschmeißen sollen. Endlich hatte Lore es geschafft und sie machte sich diesmal nicht die Mühe, in einen Spiegel zu schauen. Ihre Füße schlappten geräuschvoll in der Stille über den nackten Boden, hallten ein bisschen nach, während sie sich auf den Weg zum Becken machte. Es gab ein paar Marmorstufen, die in das Bassin führten und sie hatte plötzlich panische Angst, dass sie vielleicht auf den glitschigen Stufen ausrutschen könnte, aber eigentlich war es auch egal, dann würde sie sich eben den Kopf aufschlagen und in ihrem albernen Badeanzug sterben, was spielte das schon für eine Rolle. Lore glitt in das warme Wasser und tat ein paar kräftige Brustzüge, schwamm in die Mitte des Schwimmbeckens, drehte sich dann auf den Rücken und sah hoch zu der türkisfarbenen Mosaikdecke. Sie atmete tief die leicht schwefligen Dämpfe ein und hörte ihr eigenes Blut in den Ohren rauschen, ihre Zehnägel schauten neckisch aus dem Wasser. Sie atmete und spürte die Schwerelosigkeit, die Last, die von ihrem Körper genommen wurde. Ein Gefühl, als würde sie fliegen, oder noch besser. Sie dachte daran, wie die Kollegen vom Finanzamt hinter ihrem Rücken tuschelten und kicherten, ebenso wie die Mädchen im Bus. Wie sie diesen Spitznamen erfunden hatten: Elefantin und wie sie nie etwas dagegen gesagt hatte, weil es ja die Wahrheit war, sie war fett, schon immer gewesen, ihr ganzes Leben lang und sie würde noch dicker werden, sich immer mehr aufblähen, vielleicht so sehr, dass sie sich eines Tages nicht mehr bewegen konnte. Und hier trieb sie nun in diesem lauwarmen Wasser und sie musste an ein Bild denken, dass sie einmal in einer Zeitschrift gesehen hatte, von einem Elefanten in einem See, der ausgestreckt im Wasser lag, als würde er schlafen, oder wäre tot. Und dann dachte sie daran, dass sie nun mal genau so war, aber nicht tot. Ein großes, unförmiges Tier mit einem trägen Körper und einem unbändigen Hunger. Es war gut. Und ihre Tränen vermischten sich mit dem salzigen Wasser während sie langsam auf dem Wasser trieb.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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