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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Men in Red

© Ilona Bernardy


Wenn ich mich auf ein Wiedersehen gefreut hätte, dann auf das mit Tim Kalthoff. Ihn haben meine Gedanken all die Jahre immer wieder begleitet und sie sind ihm leise wohlwollend nachgeweht, was immer aus ihm geworden sein mochte. Aber es blieb eben auch immer bei dem Gedanken. Es wäre ja ein leichtes (gewesen), seinen Verbleib aufzuspüren.
Tim also. Rothaarig. Wild. Unberechenbar. Superhirn. Klein. Auffällig. Verhaltensauffällig auch. Zwei Jahre jünger. Hatte zwei Klassen übersprungen. Und obwohl ich mich mit ihm in gar keiner besonderen Weise beschäftigt hatte, hatte ich instinktiv ihn erfasst (genau wie den eckigen, marxistisch-leninistisch orientierten Bernd Hempler, der schon mal den ganzen Jahrgang in Unruhe und Murren versetzte mit plötzlichem Aufstehen mitten im Unterricht und der energischen Einforderung einer "Schweigeminute für Nicaragua"...).
Meines Erkennens war ich mir allerdings überhaupt nicht bewusst. Und es dauerte lange Jahre, bis dieser Moment kam, der mir die Augen öffnete. Einstweilen stand ich zunächst maßlos und ahnungslos verblüfft vor Tim, als er, gerade zwölfjährig, mir im Kunstunterricht direkt, unvermittelt, unverblümt und ohne jegliche Spur von Verlegenheit seine Zuneigung verkündete und fragte: "Willst Du mit mir gehen?" Ich habe ihn sicher angestarrt wie eine Erscheinung. Mir imponierte seine Direktheit, seine blauen Augen ohne eine Spur von Zögern oder Angst oder Zweifel. Nein, ich bin nicht mit ihm gegangen. Und, gestehe ich es nur, ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich mein "Nein" formulierte. Aber ich weiß, dass weder sein Antrag noch meine Absage uns beschädigt hätten.
Rothaarige Männer haben seit dieser Initialzündung auf mich viele Jahre lang einen eigentümlichen Reiz ausgeübt. Sie überzeugten mich nicht durch ihre Schönheit, Wärme, Charakter oder Klugheit, ich blieb eher an ihnen hängen um des Anteils willen, den ich als eher verstörend empfinde. Für mich entfaltet dieses irritierende Element oft einen besonderen Charme, weil es meine Aufmerksamkeit herausfordert. Auf der Außenseite diese strotzend aggressive Farbkraft und oft störrisch ungebändigte Fülle. Dazu der widerspruchsvoll blasse Teint, eine oft unsagbar empfindsame Hülle zur Außenwelt, die bunten Tupfen, die sie oft regelrecht zeichnen. Die oft verwirrend blauen, hellen, wassergrünen Augen, die vielfach von borstig hellen Wimpern und nahezu farb- und konturlosen Brauen umrahmt kahl und verloren in ihren Gesichtern stehen, immer wieder ein wenig starrend. Aber sie sind auffällige Typen, auch weil es so wenige von ihnen gibt. Und vielleicht weil sie so auffallend sind, sind viele von ihnen innerlich von aggressiver Kraft und Durchsetzungswillen, gepaart eben mit jener großen Verletzlichkeit, die so sehr in der Struktur ihrer Haut sich zeigt.
Am Rothaarigen mich entlanghangelnd habe ich jetzt fast Tim aus den Augen verloren, aber nur beinahe: Uns standen noch fünf Jahre gemeinsamen Schulbesuches bevor - ich immer auf der findenden Suche, unermüdlich damit beschäftigt, das Konto (Lebens-)Erfahrung möglichst rasch, bunt und vielfältig zu füllen, um ganz schnell erwachsen zu werden - mit viel Unverdaulichem dabei. Und er in einer lauteren, explosiveren Tonart in gewisser Weise sehr ähnlich unterwegs. Unter dem allen lag unsere Sympathie für einander - durch nichts begründet, durch nichts genährt, aber viel stärker präsent, als es mir bewusst geworden wäre.
Gut, wir liebten beide die laute Musik von Deep Purple und ich erinnere mich an Tim, nicht an den zornigen, widerständigen, auffälligen, den um jeden Preis mit den Älteren mithalten wollenden, sondern an den, der er jenseits dieses Egotrips auch noch war. Klug. Einfühlsam. Nachdenklich. Warm. Geduldig. Ruhig. An den, mit dem ich mich eines Tages unversehens in einer Freistunde im leeren Klassenraum wiederfand. Wir hockten einträchtig, wie ich es heute vielleicht nur mit meinem Freund Rick vermag, nebeneinander auf der Fensterbank und sangen gemeinsam Purple-Songs. Was uns zu den schönsten Reunion-Phantasien antrieb. Und dann hatte er diese unwahrscheinliche Fähigkeit, eine direkte Nähe herzustellen, die er übergangslos anwandte - in einer Spekulation über mich in der Zukunft als Frau mit Doppelleben, gekrönt von der direkten, vielleicht auch rhetorischen Frage - wenn ich es recht bedenke, sagte er es eher nachdenklich vor sich hin, die Frage sei, ob ich Vertrauen zu ihm haben könnte. Ich habe ihm nicht geantwortet. Weil, die Antwort war doch klar! Und was sollte der blöde Konjunktiv! Aber ich fühlte mich ungern mit meinem Vertrauen in ihn ertappt. Chaotische Zeiten ohnedies - heute in diesen verliebt, morgen in jenen, übermorgen schon wieder in jemanden anderes, im Strudel der Gefühle und Hormone hilflos unterwegs, so viele Möglichkeiten, so viel Musik, so viele Träume, so viel zu lernen, fühlen, sortieren, so viel Blues zu überleben und zu ertragen, so viel Sehnsucht ohne einen Zielpunkt. Und alles einigermaßen brav abgetarnt. Die Sache mit dem prospektierten Doppelleben war gar nicht so dumm - nur dass Tim damit viel eher den Status quo beschrieb als mein späteres Erwachsenenleben.
Ach ja, dann gab es diese Fetenzeit mit wechselndem Rumgeknutsche und Fummelei und so. Da hatte auch Tim mal eine veranstaltet. Waren nicht so besonders viele Mädels da, und ich blieb auf irgendwem hängen, jedenfalls nicht auf Tim. Na, die Fummelfeten verloren ihren Reiz, die Jagdgründe waren ja auch sehr schnell leergefischt, die Reviere verlagerten sich und es traten andere Rothaarige in mein Leben.
Zum Beispiel Markus, der erste Mann, den ich ebenso offensiv angemacht habe, wie Tim kurz zuvor mich (ich hoffe nur, meine Absage an Tim war ähnlich verbindlich wie die von Markus an mich). Das war weder damals angesagt, einen Mann so direkt anzugehen, noch ist es das heute. Jedenfalls waren mir an Markus als erstes die roten Haare aufgefallen - gleicher Ton, etwas länger als die von Tim, gleicher Teint und Markus war schon 17. Hat lange gedauert, bis ich mit seinem Nein im Reinen war.
Dann gab es da noch den Christian Schaf, auch ein rothaariges Jungmännergeschöpf, dieses Mal mit hohem Schwärmfaktor für meine Person. Der Mann war bei irgendwelchen Maltesern und lauerte jedes Jahr erfolgreich darauf, dass ich vor Abschluss der mitternächtlichen Christmesse weihrauchtrunken einer Ohnmacht nahe aus der Kirche geführt werden musste. Leider kam er selbst nie dazu, mich persönlich zu retten, weil mein Vater und mein großer Bruder das immer schon erledigt hatten. Mit halb gebrochenen Augen konnte ich immer noch feststellen, wie sehr das den Christian ärgerte - ja, ich glaube sogar, es war einer dieser halb bewusstlosen Momente, in dem ich seiner Begeisterung für mich gewahr wurde.
Zurück zu Tim. Wir lasen im Englisch-Leistungskurs Tennessee Williams' Stück "The Glas Menagerie", ein Stück, das vier von uns so sehr fesselte, dass wir uns aus freien Stücken zu einer spontanen Theater-AG von eigenen Gnaden zusammen fanden und den zweiten Akt in der Originalsprache einstudierten und schließlich auch aufführten -Michaela, Martin, Tim und ich als Laura. Wir trafen uns zum Lernen und Proben und hatten dabei einen unbändigen Spaß miteinander. Natürlich eine Höllenaufregung und Neugierde - Bühne, Requisite, Kostüm, Regie; alles eben selber machen.
Fast hätte ich es vergessen, es gab da noch einen Rothaarigen, eine Klasse höher, Matthias, mit dem ich viele Monate den Heimweg teilte und dem ich tiefe Einblicke in die sehnsüchtige Seele, hungrige Körperlichkeit und die zarte Verletzlichkeit des Herzens eines erwachenden jungen Mannes verdanke; tief und ganz und gar unverstellt. Er war ein ungewöhnlich hübscher Junge mit stark akzentuierten Augenbrauen und außerordentlich dunklen Augen, die seinem Gesicht in Kombination mit einem unwiderstehlich offenen Lächeln einen einzigartigen Reiz verliehen.
Zurück zu unseren Proben. Wir waren wie gesagt mit Begeisterung bei der Sache. Ich erinnere mich an wunderbare Probennachmittage in Tims Elternhaus. An die verheerende Generalprobe und die in der Folge exzellent gelingende Inszenierung, das Lampenfieber und alles.
Wir führten also den 2. Akt auf und unser Lehrer, Herr Nieberg, zeigte sich angetan und überrascht von der Qualität dieser Do-it-yourself-Inszenierung. Leider verdarb Tim ein wenig die Atmosphäre, indem er im Anschluss versuchte, mit dem Hut sammelnd durch die Reihen zu gehen. Und ich glaube, das ist ganz charakteristisch für ihn, soviel gute Ansätze und tolle Fähigkeiten und dann ein kleiner Akzent verfehlt, ein Misston, der dazu führt, dass sich die Menschen auf einmal nur noch daran erinnern und Tims Qualitäten darüber leicht und gerne vergessen. Schade eigentlich.
Im Nachklang zu unserer Arbeit hatte Tim ein kleines Wahrnehmungsproblem ausgebildet - er kriegte Laura und mich nicht mehr richtig auseinander. Dabei war ich immer noch Lena und hatte nur Spaß daran gehabt, die scheue, überängstliche Laura zu geben. Tims Betreiben, die Theater AG noch einmal wieder aufleben zu lassen und besonders den 3. Akt einzustudieren, setzte sich bei uns anderen nicht durch. Vielleicht, weil seine primäre Motivation sehr augenscheinlich darin lag, dass er Laura hätte küssen dürfen. Nein, wir lösten uns in Wohlgefallen auf. Und nicht nur Martin - auch mir widerstrebten damals schon dramaturgisch wie persönlich Wiederaufgüsse.
Dann kam der Moment, der Tims illusionären Schleier, den er über mein Wesen gehängt hatte, für immer zerriss. Im Rahmen einer Kursfahrt in der Unterprima musste Tim erkennen, dass Lena die Laura vielleicht gut spielen konnte, selber aber eher einen aggressiven Frauentyp in der Nähe eines Vamps verkörperte. Das hat ihn ziemlich geschafft.
Allerdings wurde auf dieser Kursfahrt noch etwas glasklar, gleichsam als Wiedergutmachung für Tim, und als große Überraschung für mich selbst, die in meinem Bewusstsein eine Tür aufstieß, von der ich nicht wusste, dass es sie gab und was für ein herrliches Geschenk dahinter lag. Auch wenn wir beide so taten, als wäre die Sache so gar nicht von Bedeutung.
Dabei wurde nicht nur uns beiden offenbar, wie sehr ich ihn erkannt hatte; es wurde absolut öffentlich, obwohl ich sicher bin, dass es für keinen außer uns beiden eine Rolle gespielt hat. Ich meine, dass ich mich von ihm erkannt fühlte, ließ ich ja schon durchblicken. Aber ich hatte keine Ahnung, wie gut ich ihn kannte. Das kam nun zum Vorschein.
Und trug sich folgendermaßen zu: In einem letztlich gelingenden Versuch, die ihm entleitende Truppe junger Erwachsener doch noch zu einen, spielte Herr Nieberg eines Abend mit uns Koffer packen. Ich spare mir mal die ganzen gruppendynamischen Nebenkriegsschauplätze. Jedenfalls wird einer hinausgeschickt, die anderen packen ihm einen virtuellen Koffer, der Mitspieler kommt herein und muss nun raten, wer ihm was in seinen Koffer getan hat.
Ich hielt mich ziemlich passiv, fand das alles eine Kinderei - und gerade das war es nun wirklich nicht. Die Reihe kam auch an mich, ich ging hinaus, die anderen packten meinen Koffer und ich wurde wieder hereingerufen. Wenn überhaupt, riet ich höchstens zufällig (oder weil ich es gehört hatte), wer mir was in den Koffer gepackt hatte. Da ging es mir wie den anderen auch.
Aber da waren ein paar Sachen, die ich mit so traumwandlerischer Sicherheit ganz fix ihrem Absender zuordnen konnte, dass die Trefferquote nicht weniger als 100% betrug - und er hatte viel in meinen Koffer gepackt. Wer? Der Tim natürlich! Nur sein letzter Wunsch machte mir Schwierigkeiten - und ist ausgerechnet der einzige, den ich mir bis heute gemerkt habe: ein größeres Handtuch. Da musste ich tatsächlich dreimal ansetzen bis es mir ganz klar und mit enormer Belustigung auf- und einfiel, wie eindeutig nur e r mir das Handtuch eingepackt haben konnte. Verständnislose Blicke - und ich kringelte mich vor Freude über diesen wunderbar doppelzüngigen Wunsch. (Tim hatte mich auf dem Flur nur mit Handtuch umschlungen ertappt gehabt. Übrigens habe ich das Handtuch immer noch!)
Ich war ein wenig ärgerlich, dass ich andere, die ich lieber erkannt hätte, nicht herausgefunden hatte, aber ich war wie vom Blitz getroffen, bewegt und innerlich umgehauen von Tims Innenschau und der Erkenntnis, wie offen diese vor mir lag. Herr Nieberg sagte: "Na, Lena, den Tim, den haben Sie aber ziemlich gut raus!" Ich antwortete mit einem coolen "Ja, ja, scheint so", und Tim ließ sich obenhin vernehmen, als würde er sich darüber lustig machen und als würde es ihm gar nichts bedeuten "Hach, da fühle ich mich aber durchschaut!" Ja, das war wahr, er strahlte bis hinter die Ohren, ich konnte sein inneres Wohlbehagen regelrecht körperlich spüren und ich teilte es in klammheimlicher verbundener Freude. Er lächelte so wunderbar satt und zufrieden, dass sein Lächeln ein Echo in meiner Seele fand.
Wenn ich etwas bedauere, dann, dass ich Tim nicht ansprach, als ich ihn sieben Jahre nach dem Abitur zufällig in unserem Ort traf. Der Moment ging vorbei, das Bild ist noch immer in meinem Kopf und meine Abbitte liegt gleich daneben. Der Tod meines Vaters hatte mich zurückgerufen und ich schleppte mich am Arm meines damaligen Geliebten durch die Stadt, als ich Tim auf den Stufen unseres einstigen Stammcafés sah. Es war mir nicht möglich, ihn anzusprechen, es reichte so eben für einen stummen Gruß. Meine Gedanken: Mein Gott, jetzt sieht der mich hier so; was denkt der nur von mir. Er hat sich ja gar nicht verändert. Ich würde so gerne mit ihm reden. Aber wie und was - und wohin so lange mit meinem wachsamen Begleiter.
Nicht viel später wurden meine eigenen Haare rot - die Chemie machte es möglich, viele Jahre lang, insgesamt beinahe zwei Jahrzehnte. Als ich mich von dem Rot trennte um herauszufinden, um wie viel attraktiver meine Naturfarbe für mich war, überlegte ich lange, was mich wohl so lange veranlasst hatte, rote Haare zu tragen. Die Mode war es nicht, der Wunsch nach etwas mehr Aggressivität mag eine Rolle gespielt haben. In Wirklichkeit aber waren es rote Haare in unbewusster Erinnerung an Tim - ja, vielleicht am ehesten Tims wegen.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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