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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Schlüsselerlebnis

© Sabine Schmitt


Der Wecker klingelte aufdringlich. Sofie hatte ihn schon dreimal abgestellt. Jetzt war es an der Zeit aufzustehen. Sie kroch aus dem Bett, schlurfte ins Bad. Eine heiße Dusche entspannte ihren steifen Körper, während sie gleichzeitig ihre Zähne putzte. Der heiße Wasserdampf überzog in Sekundenschnelle den ganzen Raum mit einem milchigen Schleier. Sofie blickte auf die Pflanze auf dem Fensterbrett. Sie sah zufrieden aus, obwohl sie seit Lebzeiten in ihrem Pflanztopf gefangen war. Gern würde Sofie ihr die Freiheit schenken und sie im Garten einpflanzen. Doch das würde die Zimmerpflanze nicht lange überleben. Sofie erkannte Parallelen zu ihrem eigenen Dasein. Auch sie war gefangen vom Alltag, lebte zwischen Büro, Fertiggerichten und Haftpflichtversicherung. Sie träumte von Freiheit und Spontaneität, hatte aber Angst vor deren Unberechenbarkeit. Seit fast 20 Jahren arbeitete Sofie in der Gemeindeverwaltung. Auf dem Ordnungsamt war sie für Führerschein-Angelegenheiten zuständig, stellte Fischereischeine und Führungszeugnisse aus. Eine Tätigkeit, die sie schon lange nicht mehr ausfüllte. Doch sie hatte nicht den Mut, selbst etwas an ihrer Situation zu ändern. Der Prinz auf dem weißen Pferd war schon vor geraumer Zeit am Horizont verschollen. Was hatte sie in jungen Jahren nicht alles für Pläne gehabt. Schauspielerin wollte sie werden, oder mindestens Tierärztin. Geworden ist sie eine Angestellte im öffentlichen Dienst. Eine sichere Position, meinte die Mutter immer. Während sie ihr Haar fönte und sich unauffällig schminkte, drehte sie das Radio auf. "Beamte werden bald 42 Stunden arbeiten, schwerer Unfall auf der A 620, Frau bei Überfall getötet, Polizist angeschossen", lauteten die Meldungen des Tages. Schnell zog Sofie Jeans und Strickpullover an, die Standardausrüstung für den Tag im Büro. Aber auch in ihrer Freizeit bevorzugte sie unauffällige Kleidung. Sie zog einen Mantel über, schnappte die Tasche und eilte zu ihrem Wagen, der genauso unauffällig war wie sie. Sofie steckte den Schlüssel ins Schloss der Fahrertür. Die Tür ging nicht auf. Sie drehte den Schlüssel hin und her, zog ihn aus dem Schloss, steckte ihn hastig wieder rein, bis er schließlich brach. Das vordere Ende blieb dabei im Schloss stecken. Sofort wurde ihr heiß und kalt. Sie würde zu spät zur Arbeit kommen. Ihre Kundschaft würde vor verschlossener Bürotür stehen und sich beim Amtsleiter beschweren. Der würde ihr einen Rüffel erteilen. Das wäre bereits das zweite Mal für diesen Monat. Erst vergangene Woche hat er sie beim Zeitung lesen erwischt. Sie würde zu intensiv lesen, hatte er gemeint. Sofie ging schnurstracks über die Straße und rannte 200 Meter bis zur nächsten Bushaltestelle. Schon ewig war sie nicht mehr Bus gefahren. Aber das war die einzige Chance, noch einmal rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Endlich kam der Bus. Die meisten Fahrgäste waren Schüler. Es gab keinen Sitzplatz mehr. Sofie zahlte den Fahrpreis stellte sich in den Gang, eine Hand an die Haltestange. Ein Geruch von Schweiß, Kaugummi, Deo-Spray kam ihr entgegen. Sie betrachtete die Fahrgäste. "Die Oma in der dritten Reihe hatte bestimmt noch nie einen Führerschein", überlegte Sofie. "Der Dicke mit den glasigen Augen bestimmt keinen Führerschein mehr". Hausfrauen, Schüler, Minderjährige bevölkerten den Bus. Plötzlich entdeckte sie einen gut aussehenden Mann in ihrem Alter. Mit seinen dunkelblonden Locken und den blauen Augen wirkte er sympathisch. Wieso fährt er wohl mit dem Bus, aus Umweltgründen oder Idealismus. Aber vielleicht war sein Auto in der Werkstatt. Während sie darüber nachdachte und ihn dabei ständig ansah, lächelte er sie an. Sofie spürte, wie ihre Gesichtsfarbe puterrot wurde und blickte verlegen weg. An der nächsten Haltestelle spie der Bus die Schüler aus. Sofie setzte sich unmittelbar vor ihren Traummann. Sie konnte seinen Atem förmlich im Genick spüren. "Entschuldigung", sprach plötzlich eine sympathische Stimme hinter ihr. "Sie fahren heute zum ersten Mal mit dem Bus". Sofie drehte sich um und nickte. "Ja, mein Auto ist kaputt". "Ich fahre nur selten Auto", sagte er lachend "Meine Arbeitsstelle erreiche ich genauso gut mit dem Bus, dabei spare mir die Suche nach einem Parkplatz". Sie führten eine unaufdringliche Unterhaltung, plauderten über Belangloses, aber als Sofie aus dem Bus ausstieg, hatte sie seit langem wieder eine Verabredung. Sie war überglücklich, schlenderte ins Büro, nahm den Rüffel vom Chef und die missmutigen Äußerungen der Kundschaft gelassen. Sie fieberte nur noch dem Abend entgegen. Roland, so stellte er sich vor, wollte sie um 20 Uhr abholen. Die Zeit bis zum Feierabend erschien ihr ewig. Sie fuhr mit dem Bus nach Hause, tanzte den Flur entlang, öffnete den Kleiderschrank. "Was zieht man beim ersten Date an", fragte sie sich. Zuerst nahm sie ein ausgiebiges Schaumbad. Sie cremte ihren Körper ein, berührte sich an lange vernachlässigten Stellen und stellte sich vor, es wären seine Hände, die sie berührten. Sie zog die seidene Unterwäsche an, die seit langem auf einen Tag wie diesen gewartet hatte. Dann legte sie ein fast perfektes Make-up auf. Sie entschied sie für ein schlichtes schwarzes Kleid. Pünktlich gegen 20 Uhr läutete es an der Tür. Sofie öffnete, dort stand Roland mit einem schönen Strauß Blumen. Er lächelte. Sofie lächelte und bat ihn herein. Sie gab ihm einen Drink und sie setzten ihre Plauderei vom Vormittag fort. Er schien ihr so vertraut und so sensibel. Seine Haut war makellos, seine Hände gepflegt. Sie blickte in seine blauen Augen und spürte das Knistern zwischen ihren Körpern. Ihr Herz schlug schneller, sie trat auf ihn zu und küsste ihn gierig. Ein Schauer zog durch ihren Körper. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so glücklich gefühlt. Sie spürte es kaum, als er ihr das lange Messer zwischen der vierten und fünften Rippe ins Herz stieß. Am nächsten Morgen lautete die Nachricht im Radio: "Erneut kam eine junge Frau bei einem Überfall ums Leben ...



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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