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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Lokführer

© Bernard Pekrul


Der Schnellzug nach Hamburg war ungewöhnlich leer an jenem Aprilmorgen. Horst Markward saß allein in einem Abteil des Waggons der ersten Klasse und schaute aus dem Fenster. Es war noch ziemlich kühl draußen und ein Nebelschleier umhüllte die ersten Knospen und Blüten der erwachenden Natur, aber Horst sah nur sein Spiegelbild, dessen Züge seine Gedanken an die letzten Wochen auf eigenwillige Weise wiederzuspiegeln schienen. Gefühlskalt sei er, hatte seine letzte Freundin Barbara gesagt, bevor sie ihn verließ. "Sie sollten kürzer treten. Ihr Herz bereitet mir Sorgen", hatte sein Hausarzt letzte Woche gesagt. Was wissen die schon, ärgerte sich Horst, und die Konturen seines Spiegelbildes verdunkelten sich, wer Erfolg haben will kann sich nicht immer diesen Gefühlsduseleien hingeben. Er blickte in die Augen seines Spiegelbildes, die streng und eisern zurückstarrten.
Die Minuten verstrichen, und Horsts Gedanken schwangen im Einklang mit dem unruhigen Ruckeln und Rauschen des Zuges.
Ungewöhnlich warm ist es hier drin, wunderte er sich nach einer Weile und lockerte seine Krawatte. Draußen war es dunkler geworden, Wolken hatten sich gebildet, und es hatte begonnen zu regnen.
Die Wärme entwickelte sich rasch zu einer unerträglich werdenden Hitze. Horst wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Sein Spiegelbild im Fenster verblasste, und kurze Zeit später war es vollkommen verschwunden.
Der Zug rauschte an einem kleinen Bahnhof vorbei, und Horst konnte gerade noch das Schild lesen: Tristingen. "Tristingen?" Er konnte sich nicht erinnern, je dieses Schild gesehen oder von diesem Ort gehört zu haben. Horst starrte aus dem Fenster. Die Landschaft begann sich zu verändern: Das grasige Flachland verwandelte sich immer mehr in einen wild wuchernden Laubwald, bläuliche und gelbliche Nebelschwaden hingen zwischen den Ästen und Blättern, und es herrschte eine Stille, die sich Horst nie hätte vorstellen können. Da er sich sicher war, dass es auf seiner gewohnten Strecke nach Hamburg nie einen Wald gegeben hatte, verließ er von Angst und Zweifel getrieben so schnell er konnte das Abteil.
Im Gang war es etwas kühler, aber der ganze Waggon befand sich nun in einem bläulichen Dämmerlicht, das ihm eine Atmosphäre verlieh, die Raum und Zeit aufzulösen schien; und Horst war vollkommen allein. Außerhalb des Zuges waren nur noch dunkelblaue Nebelschwaden zu sehen, die vor seinen Augen am Fenster vorbei glitten wie leichte Wellen auf dem Wasser.
Horst erinnerte sich, dass sich der Waggon der ersten Klasse gleich hinter der Lok befand. Entschlossen ging er zu der Tür, die den Waggon mit der Lok verband, in der Hoffnung, nicht nur den Lokführer dort vorzufinden, sondern auch seine Situation aufklären zu können.
Die Tür zur Lok war nicht verschlossen. Horst öffnete sie und schritt hindurch. Auf der anderen Seite war es kaum heller, aber er konnte die Konturen einer Person wahrnehmen, die auf einem Stuhl vor einem Pult mit diversen Schaltern, Knöpfen und Messgeräten saß.
Während Horst langsam auf die Person zuging, drehte diese sich um, schaute ihn freundlich lächelnd an und sagte: "Hallo, Horst".
Horst war perplex. Vor ihm saß ein etwa 10-jähriger Junge mit rötlichen Haaren und Sommersprossen.
"Wer bist du? Woher kennst du mich? Was geschieht hier?" quoll es aus Horst heraus.
"Psst!" Der Junge hielt den Finger vor seinen Mund. "Komm mal mit", der Junge stand auf, nahm Horsts Hand und ging mit ihm durch die Waggontür wieder in den Waggon der ersten Klasse.
"Was bedeutet das alles?" Horst verstand überhaupt nichts mehr. "Wo sind wir?"
"Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen" antwortete der Junge lediglich, und führte ihn in den nächsten Waggon, der sich nicht vom vorherigen unterschied.
Am Ende des Waggons konnte Horst die Gestalt eines kleinen Jungen erkennen, der nicht älter als 4 oder 5 Jahre alt sein konnte. Sie näherten sich ihm, und Horst bemerkte, dass dem Jungen Tränen über die Wangen liefen. Er spürte eine gewisse Vertrautheit mit ihm, konnte dieses Gefühl aber nicht so recht unterbringen.
"Wer ist das?"
"Das bist du, Horst, im Alter von 4 Jahren".
"Ich?" Horst war zunächst sprachlos und betrachtete das Kind. So hatte er tatsächlich in diesem Alter ausgesehen. Er erinnerte sich an alte Photos, die er sich früher gelegentlich angeschaut hatte.
Warum weint er?", fragte Horst.
"Kannst du dich nicht erinnern? In diesem Alter warst du sehr traurig, weil dich deine Eltern viel alleingelassen hatten. An jenem Tag warst du besonders traurig, weil deine Mutter vergessen hatte, dich vom Kindergarten abzuholen und du stundenlang allein durch die Stadt geirrt bist". Horst berührt das kleine Kind sanft an der Schulter und konnte die Traurigkeit, eine längst vergessene Traurigkeit, spüren.
Erschrocken zog er die Hand zurück. Der rothaarige Junge nahm ihn wieder an die Hand und zog ihn weiter in den nächsten Waggon während Horst noch etwas gelähmt dem kleinen traurigen Jungen nachschaute.
Der nächste Waggon wirkte genauso düster und leer wie die vorherigen, aber Horst erkannte sofort, dass sich auch hier eine Person befand. Als sie sich ihr näherten konnte Horst sie dieses Mal sofort identifizieren. So hatte er mit 16 oder 17 Jahren ausgesehen. Auch dieser junge Mann wirkte sehr traurig.
"Kannst du dich erinnern?" fragte der Junge. Horst dachte nach, stellte aber überrascht fest, dass er sich an dieses Alter kaum erinnern konnte. "Nein", antwortete er verunsichert.
"Dies ist der Moment, als dich deine erste große Liebe verließ. Michaela, deine Klassenkameradin". Horst kamen vage Erinnerungen, schob sie aber sogleich beiseite.
"Warum geschieht dies alles? Ich verstehe das nicht".
"Du wirst es bald verstehen. Komm mit", antwortete der Junge und nahm Horst wieder an die Hand.
Sie gingen durch die nächste Waggontür. In diesem Waggon war es etwas kühler, und Horst fing an zu frösteln. Eine weitere Person wurde sichtbar.
Horst ahnte schon, um wen es sich handeln würde. Der Mann, der dieses Mal in der Mitte des Waggons am Fenster saß, muss etwa Mitte zwanzig gewesen sein.
Eifrig und ruhelos wälzte er in einem dicken Buch mit dem Titel "Wirtschaftswissenschaften II".
"An ihn kann ich mich erinnern", sagte Horst sofort, "ich war Student und sehr ehrgeizig. Ich wollte etwas erreichen im Leben".
"Hier wirkst du nicht mehr traurig", sagte der Junge.
"Warum sollte ich? Ich war ein guter Student, mit Auszeichnung".
"Du wirkst aber auch nicht glücklich".
"Ich habe Erfolg. Das reicht mir".
Beide schwiegen zunächst.
"Möchtest du auch noch in den letzten Waggon?", fragte der Junge ein wenig später.
"Was wird mich dort erwarten?"
"Deine Zukunft".
Horst dachte kurz nach und antwortete schließlich: "Gut, lass uns hineingehen".
Der Junge nahm ihn wieder an die Hand und sie gingen durch die Waggontür in den letzten Waggon. In diesem Waggon war es sehr kalt. Horst sah nichts als dunkelblaue Nebelschwaden vor seinen Augen, die ihn mit eisigen Fäden umkreisten, immer enger, bis sie ihn schließlich durchdrangen, durch die Kleidung, durch die Haut bis hin zu seinem Herz, das vor Kälte erstarrte.
"Führ mich hier raus, bitte", flehte er den Jungen an.
"Es ist deine Zukunft", antwortete der Junge. Horst stand frierend da, sprachlos, voller Angst.
Schließlich schaute er in die Richtung, aus der die Stimme des Jungen kam. "Wer bist du?"
"Ich bin der Lokführer. Das weißt du doch".
"Was soll ich nur tun?"
Er spürte, wie ihn der Junge sanft am Arm berührte.
"Sei einfach du selbst. Akzeptiere deine Traurigkeit" sagte der Junge.
Horst stand nur da und schwieg, vor Angst und Kälte zitternd. Seine Hände suchten erfolglos nach dem Jungen. Er war verschwunden.
Horst war sich zunächst nicht sicher, aber es schien wärmer und heller zu werden. Licht breitete sich um ihn aus, und er blinzelte mit den Augen, die noch auf die dunkle und düstere Umgebung des Zuges eingestellt waren.
Aus der Ferne nahm er eine Stimme war: "Herr Markward, können Sie mich hören?"
Horst kam zu sich, ein wenig benommen, noch unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, und schaute sich um: Er lag in einem Bett, umgeben von Monitoren, Kabeln und Schläuchen. Geräte piepten. Vor ihm stand ein Mann in weißem Kittel.
"Können Sie mich hören?", wiederholte der Mann.
Horst nickte.
"Mein Name ist Dr. Petersen. Sie hatten einen leichten Herzinfarkt, und zwar heute Morgen im Schnellzug nach Hamburg. Der Schaffner hatte Sie gefunden, ohnmächtig, und sofort einen Krankenwagen gerufen".
"Wo bin ich?"
"Sie sind hier im Sankt-Josef-Krankenhaus, nicht weit von Hamburg. Sie hatten Glück, Herr Markward, Sie werden wieder gesund. Allerdings brauchen Sie zunächst viel Ruhe. Hatten Sie Stress in letzter Zeit, oder arbeiten Sie viel?"
"Ja… beides".
"Sie werden kürzer treten müssen, Herr Markward, ich kann Ihnen nur eins raten: Denken Sie über Ihre Zukunft nach.
Horst richtete sich ein wenig auf.
"Das werde ich, Herr Doktor, ganz bestimmt, das werde ich".
Die Sonne schien nun durch das Fenster. Horst konnte sein Spiegelbild im Fenster sehen. Die Konturen wirkten weich und hell. Eine Träne lief Horst die Wange hinunter. Eine Träne der Traurigkeit, eine Träne der Hoffnung.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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