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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Vermisst

© Sonja Guldi


Es gibt welche, die glauben, jeder Mensch existiere zweimal auf der Welt. Ganz wie in dem Film von Kieslowski, in dem zwei Veronikas parallel leben, die eine der anderen jedoch immer einen kleinen Schritt voraus ist und ihr somit durch ihren eigenen frühen Herztod das Leben rettet. Ich persönlich glaube nicht daran, auch wenn ich eingestehen muss, dass es ein sehr tröstlicher Gedanke ist, zweimal zu sein. Da ist man genau genommen, niemals wirklich allein.
Wie ich auf diesen Gedanken komme? Nun, ich sitze in meinem Auto, das auf dem Parkplatz eines der größten Einkaufszentren der Gegend steht, in einem der größten Länder der Erde, Tausende von Kilometern von meiner eigentlichen Heimat entfernt und weine. Weine aus Verzweiflung, Wut, Trauer, will eigentlich nach Hause, aber in solch aufgelöstem Zustand ist nicht daran zu denken, den Motor zu starten. Also warte ich darauf, dass es vorbei geht, ich mich beruhige und endlich wieder einen klaren Gedanken fassen kann. So kam ich auf Kieslowski, dessen Filme ich liebe, womit ich mir meine momentane Situation zu erklären versuche. Es ist ja nicht wirklich ein Zusammenhang da, ich bilde mir das nur ein, aus einer Sehnsucht heraus, die unbändig in mir ist, aber nie wird gestillt werden können. Wie ich da stand am Schaufenster eines Sportgeschäfts, eigentlich war ich schon dabei das Einkaufszentrum zu verlassen, und in der Scheibe ein Gesicht gespiegelt sehe. Das Gesicht eines geliebten Toten, was eigentlich nur bedeuten kann, das ich gerade dabei bin verrückt zu werden. Doch ich sehe es ganz deutlich neben meiner eigenen reflektierten Gestalt. Direkt neben mir steht ein Mann in langem grauen Mantel, völlig unmodisch, wie ihn heute kein Mensch mehr trägt, braunen Hosen und meinen eigenen dunklen Augen im Gesicht, mit der vertrauten, viel zu großen Nase, den schmalen Lippen, der runzligen Haut eines Alten und den dazugehörigen, aus der Form geratenen, Ohren eines alten Menschen. Mein Vater war erst 43 als er starb und ich 19, aber wäre er so alt geworden, würde er jetzt so aussehen. Es waren seine Augen, seine Nase, seine Ohren, selbst der Mantel war von ihm. Ich musste diesen Wahnsinn durchbrechen und drehte mich um. Er stand wirklich da. Erschrocken über meine schnelle Bewegung starrte er mich an. Meine Augen, die Nase, die Ohren...sollte ich ihn anfassen, um zu sehen, ob er echt war? Hatte ich eine Halluzination? Wenn ich meine Hand ausstrecken würde und sie faßte ins Leere? Was wenn nicht? Ich hatte meinen Vater tot im Bett liegen sehen, wie konnte er hier vor mir stehen? Gealtert, um Jahre, in denen ich ihn gebraucht hätte, in denen er nicht bei mir gewesen war. Die Tränen würgten in meiner Kehle, ich musste weg.
Endlich fand mein Puls wieder einen normalen Rhythmus. Alles noch einmal durchdacht. Was für ein Unsinn, wo war ich nur mit meinen Gefühlen. Vielleicht erste Anzeichen der Wechseljahre, das Alter dazu hatte ich. Es gab viele Männer mit langen Mänteln, die dunkle Augen und große Nasen hatten. Überall auf der Welt, bestimmt mehr als zweimal, wahrscheinlich tausendmal, noch mehr. Ich fummelte den Schlüssel aus meiner Hosentasche, da klopfte es an meine Scheibe. Es war der Mann aus dem Schaufenster. Er war mir hinterher gelaufen. Hoffentlich kein Perverser. Ich sollte einfach losfahren. Aber es waren doch meine Augen, die mich da durch die Scheibe anlächelten. Ich ließ sie herunter surren, versuchte ein Lächeln meinerseits. Er sprach nur gebrochen, in kleinen Sätzen. Ich hätte ihn Papa genannt, ob es mir gut ginge? Peinlich. Seine Stimme war schnorrig und rauh, nicht glatt und voll, wie die meines Vaters. Er hatte schmutzige Fingernägel und roch nach Tabak, das totale Gegenteil zum Eau de Cologne, dessen Duft mir auch nach Jahrzehnten noch in die Nase stieg, wenn ich nur an Dinge wie Sonntagmorgen oder Fernsehsessel dachte oder eben diesen Mantel, der an der Garderobe im Flur immer ganz vorne hing. Warum sollte ich ihm nicht erklären, wie erschrocken ich war ihn erst, wie eine Geisteserscheinung in der Scheibe zu sehen, diese Ähnlichkeit, die Sehnsucht, und dass er dann wirklich da gewesen war. Er nickte, obwohl ich mir nicht sicher war, ob er alles verstand und sagte mir seinen Namen. Walter Foreman. Das erschrak mich von Neuem. Sollte ich ihm sagen, dass mein Mädchenname Fuhrmann war? Lieber nicht. Ich bedankte mich für seine Fürsorge, er lächelte und nickte, und startete den Wagen, fädelte mich in die Ausfahrt ein und fuhr davon. Wilhelm Fuhrmann hatte mein Vater geheißen. Sie trugen doch wirklich dieselben Initialen. Und denselben Mantel. Die Augen, Nase, Ohren, ich musste jetzt damit aufhören, mir wurde schon wieder ganz flau.
Der Vorfall verfolgte mich die kommende Woche. In jedem Augenblick da meine Gedanken nicht voll beschäftigt waren, kreisten sie um diese Begegnung im Einkaufszentrum. Obwohl ich zwei Geburtstagsgeschenke zu besorgen hatte, mied ich den Ort in den nächsten Tagen und wich bei meinen Besorgungen auf lokale Geschäfte aus. Ich sagte mir immer wieder, dass mir nichts ungewöhnliches widerfahren war. Das gab es oft, Menschen, die Bekannten verblüffend ähnlich waren, die sprachen, sich bewegten, sich kleideten in einer vertrauten Art und Weise, was sie, obwohl Fremde, weitaus näher brachte als man vielleicht im einen oder anderen Fall verkraften konnte oder wollte. Doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass meine Begegnung etwas zu bedeuten hatte. In diesen wenigen Augenblicken war so viel Vergangenes wieder in mein Leben getreten, das ich längst überwunden zu haben glaubte. Ich war eine erwachsene, eine reife Frau. Ich fühlte mich Millionen Lichtjahre entfernt von dem jungen Mädchen, das ich damals war. Nur zu gut konnte ich mich an die leeren Gefühle der ersten Jahre erinnern, an Situationen wo ich plötzlich alleine war, weil ich den unglaublichen Drang verspürte mit ihm zu sprechen, ihn anzurufen, zu ihm zu fahren, mich bereits in Bewegung befindend und jäh daran erinnert zu werden, dass er einfach nicht mehr da war für mich. Doch ich hatte gelernt, ohne ich zu recht zu kommen und ich war immer der Meinung, dies sehr gut gemeistert zu haben. Um so mehr verwirrten mich die Präsenz seines Verlustes jetzt in diesem Moment, da ich ihn längst überwunden glaubte, nur noch eine traurige Erinnerung, die zu mir gehörte wie all meine Andenken. Es ärgerte mich, dass diese kurze Begegnung mein Handeln in so stark beeinflußte, dass ich meine Mutter anrief, ganz früh, um die Zeitverschiebung wett zu machen. Sie war längst eine Greisin, die bereits ihren zweiten Mann überlebt hatte und nun in einem Heim mit ihren ganzen alten Freundinnen den lieben lange Tag Rommee und Canaster spielte. Nein, sie konnte mir nicht helfen, ihr war nie so etwas ähnliches passiert. Sie hatte oft noch von meinem Vater geträumt und sah ihn noch immer ab und zu in einer ihrer unruhigen Nächte bei sich im Zimmer sitzen, doch auf der Straße oder gar in einem Einkaufszentrum war er ihr nie begegnet. Wir telefonierten mehrere Stunden. Sie erzählte mir Geschichten von meinem Vater, die ich vorher noch nie von ihr gehört hatte und bei denen ich mir auch zum Teil nicht vorstellen konnte, dass sie wirklich ihn meinte. Geschenke, die er ihr gemacht hatte, die seine Möglichkeiten doch weit überstiegen hätten. Gedichte, die er für sie rezitiert oder gar erfunden hätte, obwohl er doch überhaupt keine Freund von Literatur oder gar Poesie war und Zeit seines Lebens kaum eine private Zeile zu Papier gebracht hatte. Aber sie erzählte diese Fantasien, oder was immer es für sie war, mit solcher Hingabe und einem Lächeln in der Stimme, dass ich mir gerne vorstellte, es sei so für sie gewesen. Sie nahm mir den Wirrwarr der Gefühle, welche mich die vergangenen Tage geplagt hatten. Froh gelaunt ging ich zurück in die Küche. Neben der Kaffeemaschine lag noch die Morgenzeitung. Sie war aufgeschlagen, obwohl ich sie noch gar nicht gelesen hatte, waren die ersten Seiten aufgeblättert und hingen lose über der Spüle. Die offene Seite auf dem Tresen hatte nur ein Bild, rechts unten. Das Bild des alten Mannes mit dem Mantel, dem mir bekanntem Gesicht, meinen Augen, der großen Nase, den aus der Form geratenen Ohren. Er blickte von diesem Foto so wie er mir in der Scheibe erschienen war. Alles war milchig wie überzogen, die Augen leblos, die Haut fahl, irgendwie zusammengestückelt. Ich brauchte lange, um zu verstehen, dass es ein Foto war, das im Computer bearbeitet worden war. Das Bild eines Toten. Eines Unbekannten. Die Polizei bat um Mithilfe bei der Identifizierung der Leiche eines Mannes, die vor wenigen Tagen in einem Waldstück gefunden worden war. Es gab keinen Hinweis auf die Todesursache und keinen auf die Identität. Nur ich kannte den Namen zu diesem Gesicht. Langsam griff ich zum Hörer.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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