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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Das erste Mal

© Anton Sperling


Das Jahr 2005 fing für Stefan Mangold nicht gut an. Schon wieder zwang ihn eine hartnäckige fiebrige Erkältung zu mehrtägiger Bettruhe. Früher hatte er selten gesundheitliche Probleme gehabt. Dies änderte sich erst im letzten Jahr. Warum, war ihm nicht ganz klar. Jedenfalls markierte 2004 einen tiefen Einschnitt in seinem bisherigen, glücklich verlaufenden Leben. Dass nun mit dem Jahreswechsel eine gänzlich neue Epoche für ihn begann, war Mangold nicht bewusst. Noch nicht. Sein Körper wusste es bereits. Seine Seele hatte es sogar noch früher gewusst. Sein Bewusstsein hingegen wurzelte noch fest, ungemein fest in dem gerade erst vergangenen Lebensabschnitt.
Bestimmend für diese untergegangene Periode waren eine Reihe großartiger Erfolge: Der glänzende Abschluss seines betriebswirtschaftlichen Studiums, die Heirat, der ekstatische Zeugungsvorgang mit seiner hinreißend schönen Frau Sabine, aus dem seine Tochter Marie resultierte, die Mangold seit diesem magischen Moment abgöttisch liebte. Schließlich seine stringent verlaufende Karriere, die in der Position des Hauptabteilungsleiters eines großen mittelständischen Unternehmens ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Höhepunkte gab es für Stefan Mangold ohnehin nicht wenige. Abgesehen von einem erneut erfolgreich verlaufenden Akt der Fortpflanzung mit seiner Ehefrau, die ihm seinen erhofften Stammhalter Matthias schenkte, durfte er noch so einige erhabene Momente mit seiner attraktiven Assistentin, Brigitte, teilen. Dass seine Abteilung über diese besondere zwischenmenschliche Beziehung detailliert informiert war, war Mangold entgangen. Dass er die Zielvorgaben seiner Vorgesetzen nicht hinreichend erfüllte, verdrängte er. War er sich vielleicht seiner Stellung in der Unternehmenshierarchie und damit in Bezug auf Brigitte zu sicher? Ihn brauchte das jetzt nicht mehr zu interessieren, zumal seine in jeder Hinsicht engste persönliche Mitarbeiterin ihre besonderen Dienste längst seinem designierten Nachfolger angeboten hatte. Zu diesem Zeitpunkt wusste Stefan Mangold indes noch nicht, dass er überhaupt ersetzt werden sollte.
Der Tag seiner Verabschiedung, als er neben freundlichen Worten und den besten Wünschen für die Zukunft einen Scheck überreicht bekam, auf dem eine schöne runde Summe mit fünf Nullen verzeichnet war, erschien Mangold ziemlich surrealistisch. Sabine hatte von all diesen Ereignissen keine Kenntnis; ihr Ehemann, den sie uneingeschränkt liebte und in jeder Hinsicht vertraute, hielt es für besser, sie nicht mit seinem Wissen über Brigitte und seinem Abschied aus der Firma zu belasten. Stefan Mangold hatte keinen Zweifel, dass er in Kürze eine neue, sicherlich noch interessantere und lukrativere Anstellung nebst Assistentin finden würde. Dieser Plan ging jedoch bislang noch nicht auf, so dass er weiterhin jeden Werktag zur für seine Familie vertrauten Uhrzeit das Haus verließ und am Abend wie üblich zurückkehrte. Dieses Schauspiel endete allerdings in dem unerfreulichen Augenblick, als die Abfindung aufgebraucht und der Dispositionskredit beinahe vollständig aufgezehrt war.
Die Reaktion seines Organismus folgte prompt: fiebrige Erkältung und Verdrängung der unerfreulichen Lage. Langsam dämmerte es dem Patienten, dass dringend eine neue Einnahmequelle gefunden werden musste. Die überdurchschnittlich hohe Lebensqualität der Familie Mangold hatte in den letzten Monaten schließlich keine negative Veränderung erfahren. Der Ballettunterricht für Marie, Matthias' Mitgliedschaft im örtlichen Fußballverein, Sabines zahlreiche Besuche in noblen Kosmetiksalons, zwei ansehnliche Autos, Stefans Bordellaufenthalte; alle diese Annehmlichkeiten des Lebens wurden weiterhin freudig in Anspruch genommen. Jetzt mit der Wahrheit herauszurücken, dessen Dimension dem ehemaligen Hauptabteilungsleiter immer noch nicht gänzlich klar war, erschien unmöglich. Dennoch setzte er sich, nachdem die Erkältung weitgehend auskuriert war, seiner inneren Stimme folgend an einem kalten Januartag in Bewegung, um einen für ihn bisher gänzlich fremden Ort aufzusuchen.
Die graue Fassade des würfelförmigen Gebäudes, eine architektonische Todsünde der 1970er Jahre, wirkte an diesem Morgen noch trister, kälter und unangenehmer als an den vielen Tagen, an denen Mangold auf dem Weg zur Arbeit in seiner dunkelblauen BMW-Limousine daran vorbeigebraust war. Damals hatte sich sein Stolz auf seine hohe berufliche Position mit der tief empfunden Abneigung gegenüber den Menschen verbunden, die jenen Ort in regelmäßigen Abständen unfreiwillig frequentieren durften. Der noch nicht vollständig artikulierte Gedanke, dass Stefan Mangold nun unzweifelhaft zu dieser auserwählten Liga gehörte, kündigte sich erst zaghaft in seinem Gehirn an, nachdem ihn eine reifere, sehr frustriert anmutende Dame mit kurzen grauen Haaren, dicker Brille und altmodischer Kleidung - Gott hatte es offenbar nicht gut mit ihr gemeint - mit den Regeln und Verfahrensweisen in dieser ganz eigenen Welt vertraut machte. Einer Parallelwelt sozusagen. Sich hinter ihrem verglasten Bunker sicher fühlend, begann sie mit ihrem zweifellos schon unzählige Male gesprochenen Text. "Wie heißen Sie?", fragte sie mit rauchiger Stimme. "Stefan Mangold." "Sind Sie heute zum ersten Mal hier?" "Ja, aber ..." "Es gibt hier kein aber. Befolgen Sie einfach meine Anweisungen, dann geht alles seinen rechten vorgeschriebenen Weg." Mangold errötete und hatte sichtbar Mühe, seine Verärgerung unter Kontrolle zu halten. Er erwiderte: "Hören Sie mal. Ich bin kein Laufbursche, klar? Ich erwarte zumindest ein wenig Respekt. Als ehemalige Topführungskraft ..." Die Reaktion seiner Gesprächspartnerin folgte sofort: " Ehemalige Topführungskraft! Mann, was glauben Sie eigentlich, was und wo Sie hier sind? Sie haben hier nichts zu befehlen, sie haben Anweisungen zu befolgen, damit Sie Geld von uns erhalten." Sichtlich zufrieden mit ihrer Retourkutsche grinste die Dame Mangold an. "Ich habe aber noch einige Fragen..." "Was habe ich Ihnen gerade gesagt? Es gibt hier bei mir kein aber und keine Fragen. Dafür ist Ihr Vermittler zuständig, nicht ich! Ich stelle
ier nur Ihr Navigationssystem. Und ich stelle Ihnen jetzt eine sehr wichtige Frage: Was war genau Ihr Beruf?" "Hauptabteilungsleiter in einem großen mittelständigen Unternehmen", antwortete Mangold nicht ohne Stolz. "Die Größe spielt keine Rolle. Ich halte also fest: Führungskraft im kaufmännischen Bereich. Haben Sie studiert?" "Selbstverständlich", sagte er. "Hier ist grundsätzlich nichts selbstverständlich.", säuselte sie süffisant, "Aber ich habe mir schon gedacht, dass Sie ein Studierter sind." "Wieso, ich..." Bevor Mangold seinen Satz beenden konnte, fiel ihm die Dame ins Wort: "Wartebereich 23, 2. Stock. Nehmen Sie am besten den Aufzug. Die Kollegen dort werden Ihnen weiterhelfen... so gut sie können." Da die Konversation von ihrer Seite ohne jeden Zweifel beendet und eine Fortsetzung aus seiner Sicht sinnlos war, beugte sich Mangold dieser unheimlichen Kraft und ging wie befohlen zum Fahrstuhl.
"Blöde Kuh", murmelte er leise vor sich hin, "Du bist bestimmt schon viel zu lange nicht mehr richtig flachgelegt worden. Wen wundert's? Dich müsste ein Mann ja mit der Beißzange anfassen. Den Typen will ich sehen, der es schafft, bei dir einen hochzukriegen." Ein heller Ton unterbrach Mangolds Reflexionen, der Aufzug erreichte das gewünschte Ziel. Angesichts zahlreicher Menschen, die die Gänge bevölkerten und seinen Weg kreuzten, entschied er sich, seine analytischen Betrachtungen vorläufig ruhen zu lassen. Er folgte einigen nicht ganz eindeutigen Wegweisern, wie sich nach und nach herausstellte, und fand sich nach längerem Suchen in dem für ihn auserkorenen Wartebereich 23 ein. Mangold klopfte an der Tür mit dem Schildchen "Anmeldung" und trat, ohne die übliche Aufforderung "Herein" abzuwarten, in einen sehr nüchtern ausgestatteten, überhitzten und wohl seit der Jahrhundertwende nicht mehr gelüfteten Raum ein. Ein junger Schnösel mit Blue Jeans und modischem Hemd musterte ihn kurz und fragte: "Wie heißen Sie?" "Stefan Mangold" "Wo ist Ihr Anmeldebogen?" "Welcher Anmeldebogen?" "Na der Anmeldebogen, der im Gang überall ausliegt.", antwortete der junge Mann in einer Mischung von Verwunderung und Verärgerung, "Haben Sie den vollständig ausgefüllt?" "Nein", sagte Mangold leicht irritiert, "Ich dachte wir erledigen das gemeinsam." " Da haben Sie aber komplett falsch gedacht. Das ist Ihr Job. Ich nehme Ihre Angaben nur auf und kontrolliere sie."
Diesmal bemühte sich Mangold, keine Miene zu verziehen, machte auf dem Absatz kehrt und ging in den überfüllten Gang zurück. Es blieb allerdings bei den Bemühen. Sobald er anfing, die einzelnen Fragen des vierseitigen, eng bedruckten Bogens auszufüllen, füllte ihn ebenfalls etwas immer stärker aus: Wut, vermischt mit Ärger und Verzweiflung. "Diese verdammten Bürokraten.", fauchte er, "Erwarten die hier tatsächlich, dass ich einen totalen Striptease hinlege? Kann man denen überhaupt entkommen? Sie haben mich früher schon mit ihren ganzen Arbeits-, Steuer- und Umweltgesetzen gepiesackt und jetzt tun sie es wieder. Ist das etwa der Lohn für ein langes und überaus erfolgreiches Berufsleben? Auf wessen Schultern stehen die denn? Sie werden von mir und Männern meines Schlages durchgefüttert. Aber statt ein wenig Dankbarkeit und Respekt zu zeigen, wird man hier nur blöd angemacht. Was habe ich nur verbrochen, dass ich heute überhaupt hier sein und mich demütigen lassen muss?"
Noch während der Manager a. D. intensiv eine Antwort auf diese Frage suchte, stupste ihn ein jüngerer Mann mit Vollbart und dezenter Bierfahne an und sagte in wohlwollendem Ton: "Hey, Kollege. Bevor du den Scheiß ausfüllst, musst du eine Nummer ziehen." "Was für eine Nummer?", fragte Mangold irritiert. "Was für eine Nummer? Willst mich wohl verarschen, was? ... Ach so! Verstehe! Bist heute zum ersten Mal in diesem Puff und deshalb noch nicht trocken hinter den Ohren." Mangold starrte seinen Geschlechtsgenossen mit einem nicht sehr intelligenten Gesichtsausdruck an, schüttelte den Kopf und schrie halblaut: "Ich verstehe gar nichts. Was wollen Sie überhaupt von mir? Und in welchem Ton sprechen Sie mit mir? Kennen wir uns?" "Ganz ruhig, Alter. Nicht aufregen, hat hier sowieso keinen Sinn. So geht es fast jedem, der das erste Mal hierher kommt und das Leben von einer ganz neuen Seite kennen lernt. Schade, dass du mich nicht kennst. Ich kenne dich dafür umso besser. Bist du nicht der Mangold, dieser arrogante Flachwichser, der mich und viele meiner Kollegen aus Gewinngeilheit an die Luft gesetzt hat?" Stefan Mangold erstarrte, schwieg, versuchte in diesem Moment einen klaren Gedanken zu fassen. Vergeblich. "Ich heiße übrigens Horst, Horst Naumann. Wie ist deine Vorname?" "Stefan", hauchte Mangold unsicher. "Was sagst du? Sprich doch mal lauter, Kumpel, ich hör' nichts." "Ich heiße Stefan." "Freut mich, jetzt stehen wir ja beide auf der gleichen Stufe. Nicht wahr, Stefan?" Naumann grinste. "Sieht wohl so aus", erwiderte Mangold in sarkastischem Unterton. "Hör' mal, Horst. Die Sache wegen deiner Kündigung. Ich will versuchen sie dir zu erklären. Es tut mir Leid, dass ..." "Schon gut, Kollege. Ich hab's überwunden.", beruhigte ihn Horst, "Schwamm drüber, ist eh' nicht mehr zu ändern. Hast es bestimmt auch nicht leicht, wenn auch du inzwischen zum Nummerziehen hergekommen bist. Ah ja! Das hab ich dir ja vorhin schon gesagt. Du musst am Automaten eine Wartenummer ziehen. Erst wenn die da oben auf dem Display erscheint, dar stoß einen dieser geheiligten Räume betreten." "Ach so funktioniert das hier.", sagte Stefan. "Genau!", erwiderte Horst, "Bist echt ein schlaues Kerlchen. Ups! Jetzt bin ich dran. Also mach's gut. Vielleicht sieht man sich ja mal wieder."
Mit zügigen Schritten entfernte sich Mangolds neue Bekanntschaft, die ihm - wie er sich selbst eingestehen musste - einen Hauch von Menschlichkeit in dieser unwirklichen und kalten Umgebung vermittelt hatte. Er zog eine auf einem kurzen Papierstreifen aufgedruckte Nummer und fing, ohne sie genauer anzusehen, sogleich an, den Anmeldebogen auszufüllen. Als der designierte Antragsteller sich durch den Buchstabendschungel durchgekämpft hatte, sah er seine Nummer an und musste schmunzeln. "669. Wie nett. Diese Nummer würde ich jetzt gern in die Tat umsetzen. Aber was rede ich denn da? Gerade wurde ich transformiert. Von einem erfolgreichen Menschen in eine aufregende, die Fantasie beflügelnde Nummer. Ob ich in nicht allzu ferner Zukunft wieder retransformiert werde? Oder muss ich Horst Naumann auf seinem Weg folgen? Es wird sich zeigen." Nach über einer Stunde erschien endlich die Nummer 669 glutrot mit akustischer Untermalung auf dem Display, das an der Decke befestigt war. Mangold blickte kurz empor, seufzte, senkte sofort wieder den Kopf und ging in den ihm schon bekannten Raum zurück. Anschließend durfte er noch die Zimmer seines Vermittlers und der Leistungsabteilung in Augenschein nehmen. Nach drei Stunden war sein erster Ausflug in einen für ihn neu anmutende Welt vorüber. Nun wusste er ganz genau, was die Stunde geschlagen hatte. Seine Familie erfuhr es noch am selben Tag. Ob sie in drei Monaten, wenn der Ehemann und Vater erneut die lokale Arbeitsagentur aufsuchen muss, immer noch zusammen in ihrem Haus wohnen werden, wusste Mangold noch nicht. Aber er hoffte es.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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