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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ein seltsamer Traum

© Peter Berg


Bevor Paul an jenem Tag erwachte, hatte er einen seltsamen Traum. Er träumte, er säße in einer Art Kantine, in der hunderte von kostümierten Leuten wild durcheinander quasselten. Paul überlegte noch, ob dies wohl die Folgen seines jüngsten Karneval-Schocks wären, als sich ein langhaariger, bärtiger Typ in einem weißen Gewand breit grinsend zu ihm setzte. "Und?", fragte Paul. "Wen stellst du dar?" Worauf sich der langhaarige, bärtige Typ erhob, seine Arme ausbreitete und mit verschleiertem Blick schräg nach oben schielte. "Ich weiß nicht", murmelte Paul. "Ein bekiffter Hippie beim Pas de deux?" Doch der Typ ließ bloß seufzend die Arme und sich zurück auf den Stuhl fallen. "Nein!", stöhnte er und hielt Paul seine durchbohrten Handflächen hin. "Ich bin Jesus, Mann!" Paul war alles andere als religiös, aber er dachte, wenn er schon mal von einer Begegnung mit Jesus träumte, dann könnte er ihm auch gleich die Frage stellen, die ihm seit seiner Kindheit nicht aus dem Kopf ging, nämlich: "Wie kann man nur so blöd sein und..." Jesus brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen, räusperte sich und sprach: "Paul, du hast dir lange gewünscht, noch ein letztes Mal mit deiner Mutter zu sprechen..." Das stimmte soweit. Paul hatte in den letzten vier Jahren oft gedacht und wenn er betrunken genug war auch schon mal laut ausgesprochen, dass er einiges, ja seinen rechten Arm dafür geben würde, um wenigstens noch eine Stunde mit seiner verstorbenen Mutter reden zu dürfen. "Also..." Jesus hob ein gewaltiges Stundenglas auf den Tisch. Paul sah, wie der schwarze Sand in die untere Kammer der Uhr zu rieseln begann. Jesus lachte auf, hieb ihm freundschaftlich auf den Rücken, erhob sich und ging, und während Paul noch überlegte, ob er diesem langhaarigen, bärtigen Typen seine dämliche Sanduhr einfach nachwerfen sollte, tippte ihm jemand auf die Schulter. Paul fuhr herum. Seine Mutter sah genau so aus, wie an dem Tag, an dem er sie das letzte Mal gesehen hatte. Er stand auf und umarmte sie, was er seit seiner Kindheit nicht getan hatte. Sie setzten und unterhielten sich. Das heißt, eigentlich redete nur Paul. Es gab so viel, für das er sich entschuldigen oder bedanken wollte, und das brachte sie zum Lachen. Seine Mutter lachte, und die Kralle, die sich seit ihrem Tod um sein Herz gelegt hatte, schien ihren Griff zu lösen. Da tippte ihm wieder jemand auf die Schulter. "Jesus!", gluckste Paul. "Ich kann jetzt nicht mit dir spielen! Ich bin mitten in einer wichtigen Sitzung!" Jesus sah ihn fast mitfühlend an, beugte sich vor und flüsterte: "Sie ist weg." Womit er, wie Paul verwirrt feststellen musste, wenigstens einmal vollkommen Recht hatte. Jesus nahm das abgelaufene Stundenglas, versuchte einen Segen, winkte nach der Hälfte ab und ging, kurz bevor Paul die Augen aufschlug und ihm die Ärztin im Krankenhaus versicherte, wie froh er sein konnte, seinen Autounfall überstanden zu haben und dass man auch mit einem Arm ein erfülltes Leben führen kann.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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