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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Geronimos Augen

© Mario Tomas


Er tötete. Sie nannten ihn einen Helden. Er plünderte und brandschatzte. Sie sagten, es geschähe zum Wohle des Vaterlandes. Er mischte Blut in Ströme von Tränen. Sie schwiegen. Nur der Priester flüsterte: "Mein Sohn, Gott wird dir verzeihen." Er flehte um Erlösung. Sie schickten ihn auf die Felder der Ehre. Dort sah er die Fratze des Todes, atmete den Gestank verbrannten Lebens, hörte die Schreie der Sterbenden. Weit und breit keine Ehre, nur blutgetränkte Felder.
Keine Worte, nur ein Pakt des Schweigens.
Er tötete, plünderte und brandschatzte, mischte Blut in Ströme von Tränen und flehte um Erlösung. Sie schickten ihn in ein Sanatorium.
Er sei krank, sehr krank, flüsterten die Ärzte und stimmten ihr tägliches Lied an: "Sie leiden an PTBS, einer post-traumatischen Belastungsstörung.
Sie sind momentan psychisch invalid und stuporös, aber das bekommen wir schon wieder hin." Goran hörte die Männer in den weißen Kitteln nicht. Er war bei Geronimo.
Die heilbringenden, erlösenden Medikamente, mit denen sie ihn dreimal täglich voll stopften, versteckte er unter der Zunge, sammelte sie und hob sie in einer Streichholzschachtel, auf der ein Marienbild prangte, auf. Sein Zimmer ein vergittertes Fenster, ein Bett und ein Nachttopf. Die Wände leuchtend in gleißendem Weiß, das in den Augen brannte.
Er nahm einen Schluck Schnaps aus einer Plastikflasche. Für einige Dollar bekam er alles, was ihn dem Ende näher brachte. Die ersten Wochen hatte er es mit bunten Pillen versucht. Ecstasy, LSD, das erhoffte Vergessen in ein paar Gramm Chemie.
"Die wirken Wunder", versprach das Personal. Aber die Augen verschwanden nicht. Er trank Slibowitz bis zur Besinnungslosigkeit. Die Wärter verkauften ihm das Zeug in grünen Zweiliterflaschen. "Trink mein Junge, trink, wir haben alles, um dich glücklich zu machen", sangen sie im Chor.
Er versuchte alles, um die Augen zu vergessen, zu vertreiben, zu vergraben.
Die Augen der Toten, die dunklen Augen der Sonne, die Augen Geronimos. Aber das Licht am Ende des Tunnels war nur ein Widerschein der Hölle.
Er versuchte es mit seinem speckigen Armeegürtel. Er band ihn fest und eng um seinen Hals, stieß den Stuhl weg. Blitze zuckten durch seinen Körper, das Leder zurrte sich fest um seine Kehle, er zappelte, keuchte, japste nach Luft, sah den Tod heranfliegen und fühlte einen Hauch von Glück, von Leichtigkeit, von Ruhe. Doch Arme packten ihn an den Beinen, hoben ihn hoch, schnitten ihn los und quälten ihn mit Leben.
"Warum willst du dich umbringen", fragten die Ärzte, "du bist doch bereits tot. Ihr seid alle Stiefkinder des Schicksals. Ihr seid eine tote Generation."
Er schrie, trat um sich, kämpfte gegen die Bilder, aber er war ein schwacher Mann. Er fiel auf die Knie, betete, sprach Gottes Worte, aber der hatte ihn verlassen. Gott starb, als sein Zeigefinger am Abzug brannte, er zitternd, schwitzend, atemlos abdrückte, der Schatten taumelte und umfiel. Viele Schatten fielen. Seinen Gott sah und hörte er nie mehr.
Er lag im Bett, wälzte sich in seinem Schweiß, wollte fliehen, sich verstecken, denn die geifernde Fratze lachte ihn an, kroch näher und versprühte ihr Gift. Er trank die Flasche Schnaps auf einen Zug leer, steckte die Streichholzschachtel in den Mund, verschlucke die Pillen und die Mutter Gottes.
Aber die Fratze versperrte ihm den Fluchtweg und stieß ihre Zähne tief in seinen Schmerz und pumpte die Erinnerung in seine Gedanken. Und der Tag der brennenden Bilder entzündete von neuem einen Scheiterhaufen.
Die Sonne unerbittlich am Himmel. Seit acht Monaten kein Tropfen Regen. Das ausgedörrte Land ächzend unter der Hitze, unter der Glut, unter den Schreien.
Ein Gestank aus Schweiß, Benzin, Exkrementen und verwesendem Fleisch verpestet die Luft, dringt in die Nase und klebt auf der Haut. Goran steht vor einer Bäckerei in einem verlassenen Dorf mit flachen, weißen Häusern und beruhigt Marko, den alle wegen seiner dunklen, mandelförmigen Augen, seinem langen schwarzen Haar und seiner gebräunten Haut Geronimo nennen. Angst um seine Familie quält ihn. Seit zwei Wochen hat er nichts mehr von seiner Frau und dem neugeborenen Sohn gehört.
"Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe Gott und die Welt angerufen.
Aber die Leitungen waren immer tot. Ich halte diese Ungewissheit nicht mehr aus." "Das hat nichts zu bedeuten. Die Verbindungen sind im ganzen Land gestört.
Du wirst sehen, sie sind beide putzmunter", wirft Goran ein.
"Aber ich habe meinen Sohn noch nie zu Gesicht bekommen. Zwei Monate und vier Tage ist er jetzt schon alt. Maria hat mir bei jedem Anruf erzählt, wie er täglich größer wird, wie sein dunkles Haar wächst und er mit Bärenhunger jeden Tropfen Milch aus ihrer Brust saugt", erwidert Geronimo mit leuchtenden Augen.
"Pass nur auf, er wird Maria nicht nur jeden Tropfen Milch aus der Brust saugen, sondern dir alle Haare vom Kopf fressen, wenn er so ein Vielfraß wie du wird." "Schau, er hat Marias Augen", fährt er fort, zieht ein Bild aus der Innentasche seiner Jacke und reicht es Goran.
"Du musst sehr stolz sein. Und du hast Glück, dass er der Mutter ähnelt und nicht so einem grobschlächtigen Indianer wie dir." Sehnsüchtig schaut Geronimo auf das Foto, taucht hinein und verschlingt es mit allen Sinnen. "Er hat die Augen meines Sonnenscheins. Wenn er lacht, strömt die Sonne aus ihnen und legt sich um mein Herz. Ich vermisse sie." "Dieser verdammte Krieg wird ein Ende finden. Wir werden zu unseren Familien zurückkehren und ein normales Leben führen", muntert Goran ihn auf.
"Glaubst du wirklich daran?"
"Natürlich. Irgendwann werden wir alle den Krieg Leid sein und..." "Nein", unterbricht ihn Geronimo, "Ich rede nicht vom Krieg. Meinst du, alles wird wie vorher sein? Lachen, lieben, leben, tanzen, träumen. Meinst du, alles wird wieder so sein?" "Lachen, lieben, leben, du stellst Fragen", stottert Goran. Geronimo zieht ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischt sich den Schweiß von Stirn und Hals und Händen.
"Seitdem ich ein Gewehr in Händen halte, stinkt das Leben nach Tod. Ich werde diesen Geruch nicht mehr los." Goran setzt ein verstörtes Lachen auf, blickt ihn kurz an und starrt auf seine Stiefelspitzen. "Natürlich wird dieser Geruch verschwinden. Wenn du Maria und Milan in den Armen hältst, zählt nur noch die Zukunft, Glück, Freude, ihr." "Ich spüre die Wunden auf meiner Seele. Du bist stark und kannst alles schaffen, aber ich habe Angst vor der Vergangenheit. Wie kann ich sie besiegen, ohne mich selbst zu zerstören? Jede Nacht schlägt sie mich ans Kreuz und rammt mir Nägel, deren Köpfe Gesichter tragen, ins Fleisch.
Gesichter von Toten, von Verzweifelten. Von mir", bricht es aus Geronimo heraus.
Goran schweigt und blickt auf die andere Straßenseite, wo ein toter Hund liegt. Fliegen und Maden und Ratten balgen sich um den Kadaver, zwei ausgemergelte Katzen raufen um die Gedärme. Er schweigt, und Geronimo wischt sich den Schweiß von Stirn und Hals und Händen..
Das schrille Pfeifen von Granatwerfern durchbricht die Stille. Goran stürzt sich instinktiv auf den Boden und schützt seinen Kopf mit den Händen. Eine Granate schlägt neben ihm ein. Aus den Augenwinkeln erkennt er Geronimo, der sich ins Gesicht fasst, torkelt, taumelt und auf der Straße zusammenbricht.
Goran springt auf und kniet sich neben ihn. Splitter haben Marko den halben Kopf weggerissen, der linke Augapfel ist aus der Augenhöhle getreten und hängt an blutigen Adern herab. Seine Schreie verdunkeln die Sonne. Goran versucht, die Blutungen mit den Ärmeln seines Mantels zu stoppen, taucht sie tief in die Wunden und klaubt verzweifelt handtellergroße Schädelsplitter auf. Geronimo packt ihn am Ärmel und zieht ihn zu sich hinab. Sein Lippen zittern, und das gesunde Auge blickt Goran starr an. Es schweigt und schweigt und schweigt, es schreit und schreit und schreit. Es fleht.
Goran legt seine Jacke auf Geronimos Gesicht. Er zieht seine Pistole aus dem Schafft, sein Atem rast, sein Finger brennt, sein Herz so schwer, sein Herz so taub, er blickt zur Sonne, senkt die Mündung und drückt dreimal ab. Er bricht neben Geronimo zusammen und übergibt sich, immer wieder, bis nur noch bittere, Galle aus seinem Mund fließt. Er liegt in Blut, in Kotze, in Tränen und schreit seine Wut in die Welt.
Zwei Männer in Weiß rissen Goran aus einer in die andere Hölle, fesselten ihn an Armen und Beinen und gaben ihm eine Beruhigungsspritze. Sein Leben ein vergittertes Fenster, ein Bett und ein Nachttopf. Die Wände leuchtend in gleißendem Weiß, das in den Augen brannte, und Geronimos Auge schweigend-schreiend an seinem Scheiterhaufen.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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