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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Verluste

© Anke Hermeling


Vier Wochen lang hatten sie sich jetzt nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich musste jeder von ihnen erst einmal alleine mit dem tiefen Schmerz umzugehen versuchen. Doch Tim wollte und konnte es nicht mehr ertragen. Tagelang hatte er nun schon als leblose Hülle sein Dasein verbracht. Das konnte doch nicht so weiter gehen. Sicher, er brauchte noch viel Zeit, um das Geschehene zu verarbeiten. Ein Teil von ihm würde wohl ewig weiter trauern. Aber er wollte diesen Weg nicht alleine gehen. Er musste sie einfach wiedersehen und mit ihr sprechen. Mit ihr darüber sprechen.
Heute Morgen hatte er endlich seinen ganzen Mut zusammen genommen und ihre Nummer in die Tastatur des Telefons eingetippt. Eine leere, tonlose Stimme antwortete ihm am anderen Ende. Seine Worte blieben ihm fast im Hals stecken und er spürte, wie auch Jana heftig schlucken musste, um die Tränen in Schach zu halten. Mit Mühe und Not schaffte er es, sich mit ihr für den Abend in der Stadt zu verabreden.
Jana legte den Hörer auf die Gabel. Sie wusste nicht, ob sie jetzt schon die Kraft hatte, ihn wiederzutreffen. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen, seit es geschehen war. Beiden waren erst einmal auf Abstand gegangen, das war einfach das Beste. Natürlich hatte sie ihn vermisst, aber sie hatte auch Angst ihm jetzt wieder gegenüber zu stehen. Was sollte sie ihm denn sagen?
Sie konnten unmöglich da weiter machen, wo sie vor einem Monat aufgehört hatten, auch wenn sie sich das insgeheim so sehr wünschte. Warum war nur auf einmal alles so verflixt kompliziert und schwer. Wenigstens wollte er sie in der Stadt treffen, auf neutralem Gebiet. In der Wohnung seiner Eltern, in der er kurzfristig untergekommen war, hätte sie sich noch unsicherer gefühlt. Bestimmt gaben seine Eltern ihr die Schuld an allem. Wahrscheinlich hatten sie damit sogar recht.
Sie ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Viel Mühe gab sie sich bei der Auswahl ihrer Kleidung nicht. Es erschien ihr einfach nicht mehr so wichtig, was sie trug. In ihrem Kopf gab es im Moment keinen Platz für solch unwichtige Fragen. Ein alter Pullover und Jeans mussten reichen. Zufällig fiel ihr Blick in den großen Spiegel an der Wand. Schlafmangel und Appetitlosigkeit der letzten Tage hatten deutlich ihre Spuren hinterlassen.
Rot unterlaufene Augen, dick umrandet von schwarzen Ringen schauten zurück, sie war fast schon unmenschlich bleich, ihre Lippen schimmerten in einem Blasrosa, die Haare hingen in fettigen Strähnen wild durcheinander und kraftlos herab. In den letzten Tagen hatte sie ihrem Körper nicht viel Beachtung geschenkt. Sie hasste ihn, wollte ihn nicht länger spüren müssen.
Aber sie wollte auch nicht das Tim sie so sah und machte sich auf den Weg ins Bad. Dabei kam sie am Kinderzimmer vorbei. Sie hielt kurz inne, griff mit der rechten Hand zur Klinke, legte die linke gegen die Tür und presste ihr Ohr dagegen. Sie brachte es nicht über sich, die Tür auch nur einen Spalt weit zu öffnen. Im Zimmer war es vollkommen still, kein Laut zu hören.
Langsam rutschte sie an dem Holz hinab, kauerte sich auf den kalten Fliesen zusammen und brach in Tränen aus. „Warum?“, schluchzte sie leise, die Arme eng um ihre Knie geschlungen.
Einige Stunden später machte sich Tim auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt. Den ganzen Tag hatte er überlegt, was er sagen wollte. Es lag ihm so viel auf der Seele, das er gerne loswerden würde. Aber so viel Mühe er sich auch mit den Formulierungen gab, alles erschien ihm unsinnig.
Langsam ging Tim durch die Straßen. Er kannte sie auswendig, war die Wege schon tausendmal entlang gegangen. Doch diesmal war es anders. Vor vier Wochen hatte sich alles verändert. Damals war er noch glücklich, konnte es kaum erwarten, sein neues Leben zu beginnen. Ein Leben zu dritt, als kleine, gewöhnliche, aber für ihn doch ganz besondere Familie. Er hatte schon so viele Pläne gemacht. Doch vom einen zum anderen Augenblick war alles vorbei.
Plötzlich brach sein ganzes Leben zusammen. Statt zu dritt war er jetzt ganz allein.
Die Häuser schauten bedrohlich vom Straßenrand auf ihn herab, malten in der Dämmerung gespenstische Schatten auf den Weg. Seine Schritten hallten monoton vom Asphalt wieder. Am liebsten wäre er einfach umgekehrt und davon gelaufen. Er wollte flüchten. Vor Jana, vor dem was passiert war, vor seinem eigenen Schmerz. Aber seine Beine führten ihn unbeirrt in immer der gleichen Richtung fort. Er wusste, dass er nicht weg rennen konnte. Es würde ihn ja doch immer wieder einholen.
Als er um die Ecke bog, konnte er sie schon sehen. Sie stand da, gegen eine Laterne gelehnt und schaute teilnahmslos auf den Boden. Sie sah schlimm aus, mitgenommen. Hätte Tim einen Spiegel bei sich gehabt, hätte er über sich wohl das Gleiche gesagt. Auch er hatte seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen, die Müdigkeit war sein ständiger Begleiter geworden, ebenso wie der Schmerz. Langsam machte er die letzten Schritte auf sie zu. Sie sah nicht auf, als er schließlich vor ihr stand.
„Du wolltest mit mir sprechen...“ Jana sah hinüber auf die andere Straßenseite. Schon seltsam, wie sich in nur wenigen Wochen die Welt so sehr verändern konnte. Für sie war im Moment alles grau. Die triste Wolkendecke am Himmel, die eintönige Häuserfront gegenüber, der fahle, kalte Asphalt. „Ich...“, setzte Tim an. Aber er wusste nicht wo er anfangen sollte, wie er die vielen Gedanken in seinem Kopf in Worte fassen konnte. Es war einfach so viel passiert. Er versuchte es erneut: „Ich – Es tut mir leid.“ Sie schaute ihn kurz an, senkte ihren Blick dann wieder auf den Boden. „Ich meine, ich weiß wie du dich fühlen musst.“ „Du weißt gar nichts!“, fuhr sie ihn an, legte all ihre unterdrückten Gefühle in ihre Stimme. „Du bist nicht jeden Morgen mit dieser Scheiß Übelkeit aufgewacht, du hattest nicht unter stechenden Rückenschmerzen und geschwollenen Beinen zu leiden, du bist nicht aufgequollen wie ein fettes Nilpferd.“ Er trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, hatte die Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben.
„Und vor allem: Du hast nicht gefühlt, wie ein kleines Leben in dir heranwächst....Ich konnte es spüren, es war da! Jeden Tag habe ich gemerkt, wie es ein kleines bisschen stärker wurde. Es wollte leben, verstehst du, es musste leben! Ich habe ihm die Chance genommen.“ „Aber du konntest doch nichts dafür!“ Er wusste nicht was er sonst erwidern sollte.
Wäre das doch alles nicht passiert. Sie konnten jetzt eine glückliche kleine Familie sein. Er sah die kleine blaue Holzwiege vor sich, die er an seinen freien Wochenenden zusammengebaut hatte. Sie stand schon im fast fertigen Kinderzimmer mit den kleinen Teddybären auf der Tapete. Aber sie blieb leer.
Schnell löschte er das Bild wieder. Es tat einfach zu weh darüber nachzudenken. Stattdessen sah er hinüber zu Jana. In ihren Augen entdeckte er Wut und Enttäuschung und diesen unendlich tiefen Schmerz, den er selbst so gut kannte. Stille Tränen liefen langsam über ihre Wangen. „Kann ich irgendwas für dich tun?“ Sie schüttelte langsam den Kopf. Er hob seinen Arm, um sie zu berühren, konnte aber die tiefe Kluft zwischen ihnen nicht überbrücken. Für eine kurze Zeit war es vollkommen still.
„Ich kann es immer noch nicht fassen“, sagte er. „Ja, ich weiß. Ich hab noch nie so ein tiefes inneres Glück empfunden, wie damals.“ Damals, sie sagte es so, als ob es schon Jahre her wäre.
„Aber jetzt...Alles ist so leer, so unendlich sinnlos. Ich meine, was tue ich eigentlich noch hier.“ „Ich weiß, was du meinst. Jeden Morgen stehe ich auf, schaue in den Spiegel und frage mich warum. Warum bin ich noch am Leben, während er erst gar nicht auf die Welt kommen durfte? Ich fahre zur Arbeit und sehe mir selbst dabei zu, wie ich da sitze und einfach funktioniere. Es ist, als ob ich ferngesteuert werde, denn ich selbst habe kaum noch die Kraft, mich auf den Beinen zu halten.“ „Ja“, sie konnte ihn so gut verstehen. Ihr ging es im Moment ähnlich. Wenn sie morgens aufwachte war ihr einziges Ziel, irgendwie den Tag zu überstehen.
„Weißt du, ich war einfach so wütend auf dich. Als er in mir gestor... ich meine, als das alles passiert ist, brauchte ich jemanden, dem ich die Schuld geben konnte. Ich habe einfach meinen ganzen Zorn auf dich projiziert und dann habe ich mir selbst die Schuld gegeben. Schließlich war es mein Körper, der ihn getötet hat. Ich habe die ganze Zeit so krampfhaft nach der Ursache gesucht, weil ich glaubte...“, sie seufzte, „Ich war so hilflos, ich dachte, wenn ich jemanden finde, der das alles verschuldet hat, könnte ich es besser verstehen.“ „Ich weiß“, sagte er leise. Auch er hatte mehrfach versucht ihr oder sich selbst die Schuld für den Tod ihres ungeborenen Sohnes zu geben. Aber irgendwann hatte er aufgegeben und eingesehen, dass es Mächte gibt, die sie nicht beeinflussen konnten, auch wenn es schwer war, das zu akzeptieren. Er hatte noch längst nicht überwunden, was geschehen war, aber er wollte nicht länger alleine versuchen damit fertig zu werden. „Dass ich mich von dir abgewandt habe, dass ich dich alleine gelassen habe, heißt nicht, dass...ich meine, ich habe so viel verloren, ich will dich nicht auch noch verlieren. Ich liebe dich!“ Langsam schob sie ihre Hand in seine, umschloss seine Finger, drückte sie fest. „Ich brauche Zeit.“, flüsterte sie.



Eingereicht am 28. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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