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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Wild, Wechsel

© Andreas Zeim


Das Wildwechselschild, das ich täglich passiere, ist zugeweht, ein leeres weißes Dreieck. Unerbittlich nimmt das Schneegestöber an Heftigkeit zu.
Ich hätte mich erst gar nicht erst hinters Lenkrad setzen sollen, bei diesem Wetter, so unmenschlich früh. Aber ich habe es nicht mehr ausgehalten.
Noch immer kann ich's nicht fassen. Ich will auch gar nicht. Meine Hände zittern. Meine Kiefer sind fest aufeinander gepresst. Die Augen eng zusammengekniffen.
Draußen will sich der April am Ende dieser späten Frühlingsnacht mit einer besonderen Kapriole verabschieden. Reine Gehässigkeit. Wie glühende Nadeln schießen die Flocken auf mich zu, angestrahlt von den Scheinwerfern, blenden mich grell; die Welt verschwindet nach wenigen Metern hinter einer weißen Wand. Wie durch einen gleißenden Tunnel taste ich mich vor, im Schneckentempo, nicht nur wegen der miserablen Sichtverhältnisse, sondern auch wegen der Glätte. Schließlich will ich den nagelneuen Range Rover nicht gleich vor einen Baum setzen, und von denen gibt es rechts und links genug. Das Handy klingelt, und mit einem Tastendruck am Lenkrad aktiviere ich die Freisprechanlage.
"Ja?"
"Hast du es dir überlegt?", fragst du.
Du, wer sonst? Ich stelle mir dich vor, wie du auf deinem Rolf-Benz-Sessel hockst, die Knie angezogen, die Fersen auf die Kante gestemmt. Den Hörer hast du links unter das Kinn geklemmt, und mit dem rechten Zeigefinger drehst du dein langes rotes Haar auf. Hundertmal habe ich dich so betrachtet. Jetzt würde ich dich mit anderen Augen sehen.
"Was gibt es daran noch zu überlegen? Ich lasse mich nicht erpressen!"
"Erpressung, Erpressung! Ich will nur eine Entscheidung von dir, dafür oder dagegen."
Für dich oder gegen dich, meinst du. Trotz der zögerlichen Aggressivität in deiner Stimme höre ich, dass du geweint hast. Ein entgegenkommender Wagen blendet mich mit seinem Fernlicht. Ich kneife die Augen zusammen und betätige die Lichthupe. Keine Reaktion. "Eine Entscheidung, aha. Findest du nicht, eine solche Entscheidung sollte man gemeinsam treffen? Vorher?"
"Was? Ich hör dich schlecht ... Ich wollte mit dir drüber reden. Aber ich habe ja nicht geahnt, dass du einfach abhaust."
"Morgens um halb sechs, genau der richtige Zeitpunkt, wie ...?"
"Ich - es war so eine schöne Nacht. Ich habe mich eben eher nicht getraut." Du ziehst das "getraut" in die Länge, weil du dann niedlich wirkst und ich dir nicht mehr böse sein kann. Heute Morgen vergebliche Liebesmüh. "Außerdem war die Sache für mich sowieso klar - auch ohne dich."
"So, so, für dich war alles klar. Genau das habe ich gemeint."
"Ich habe es dir doch erklärt ... Sag mir, dass du mich-"
Ehe du deinen Satz beenden kannst, ist die Verbindung unterbrochen. Die Sachsenschlucht, natürlich, ein lang gezogenes tiefes Tal zwischen zwei Bergzügen, durch das die Lehne fließt. Der Legende nach hat Karl der Große hier tausend Sachsen in die Zange genommen und bis zum letzten Mann niedergemacht, weil sie sich nicht für seine neue Religion entscheiden wollten. Entscheidungen - für das Leben, gegen das Leben.
Ich wähle deine Nummer, komme nicht durch. Funkloch. Ist mir recht. Umstimmen kannst du mich sowieso nicht. Nein, so nicht! Mich einfach vor vollendete Tatsachen zu stellen!
Rechts neben mir geht es mindestens zehn Meter steil in die Tiefe. Das Schneegestöber lässt nach, ich gebe sachte Gas, trotz des Schnees auf der Straße. Allradantrieb. Ich stelle die Musik laut und gleite gemächlich dahin. Im nächsten Moment bereue ich meinen Übermut, trete hart auf die Bremse. Der Range Rover will ausbrechen, schleudert nach rechts, nach links, während ich hektisch am Lenkrad kurbele.
Endlos zieht sich dieser Augenblick dahin. Der Scheinwerferkegel bewegt sich hin und her und lässt die Reflektoren an den weiß-schwarzen Begrenzungspfählen aufleuchten und verblassen. Der Ast einer Weide ist unter der Last des Neuschnee gebrochen, hängt herab und streift über das Dach. Angesichts meiner Machtlosigkeit befällt mich Entsetzen: der Abgrund neben mir, ich stelle mir vor, wie ich mich mehrmals überschlage; das eisige Wasser des Flusses unten. Mir wird schwindelig. Der Wagen rutscht jetzt geradeaus. Ich klammere mich am Lenkrad fest. Starr hocke ich auf meinem Ledersitz. Mein Blick fällt auf einen Körper, der reglos auf der Straße liegt und unvermittelt wenige Meter vor mir im Licht der Scheinwerfer aus der Dunkelheit auftaucht. Dann steht der Range Rover endlich.
Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Ich muss mich zwingen, ruhig zu atmen. Vor der Motorhaube liegt der Körper auf dem schneebedeckten Asphalt.
Die Stereoanlage dröhnt mich an. Ich schalte sie ab. Die Wischer quietschen über die Windschutzscheibe und fegen Flocken zur Seite.
Ich schalte die Warnblinklichter ein, löse den Gurt, stoße die Tür auf und steige aus. Mein Atem bildet Wölkchen vor dem Mund. Vorsichtig spähe ich an der Tür vorbei über die Motorhaube. Ein Reh. Reglos. Im Licht der Scheinwerfer glänzen die braunen Augen vorwurfsvoll, als wäre ich dafür verantwortlich, dass sie nie wieder etwas sehen werden. Das Tier kann erst vor kurzem verendet sein, sonst wäre es mit Schnee bedeckt. Dann fällt mir der Bauch auf, der große Bauch.
Ich betrachte den Bauch und glaube, eine Bewegung bemerkt zu haben. Langsam nähere ich mich der Ricke und betaste zögerlich das helle Fell über der Wölbung. Eigenartig struppig und kratzig. Und Warm. Die Ricke war trächtig, ihr ungeborenes Kitz scheint noch zu leben. Wieder eine Bewegung.
Was nun? Ich schaue mich um. Die Natur schweigt verschneit und feindselig, lauert eisig kalt, umhüllt von Nacht. Hinter dem Wagen steigen Abgasschwaden auf. Ich friere und schlinge die Arme um den Oberkörper. Der Widerschein der gelben Lampen des Warnblicklichts flackert auf dem Schnee. Das tote Reh starrt mich an, als wolle es mich anflehen.
Ich rekonstruiere den Unfall, sehe die Spuren im Schnee auf der Straße. Das Reh kam aus dem Wald am Hang auf der gegenüberliegenden Seite, ein Wagen aus der anderen Richtung muss es erwischt und hierher geschleudert haben. Wohl der, der mich geblendet hat.
Warum hat der Fahrer sich nicht um die Sache gekümmert? So einen Aufprall bemerkt man doch. Wenn ich nun nicht so gute Bremsen hätte und richtig ins Schleudern geraten wäre?
Ich lehne mich an den warmen Kühlergrill, hole meine Zigaretten aus dem Jackett. Rauch nebelt mich ein. Vor ein paar Jahren ging doch so ein Fall durch die Presse, dass man eine schwangere Unfalltote künstlich so lange am Leben erhalten hat, bis man das Kind herausholen konnte.
Dein letzter Satz hallt in meinem Kopf nach. "Sag mir, dass du mich ..." Na, was?
Dass du mich fest in die Arme schließt. Dass du mich nicht verlässt. Dass du mich liebst. Dass du mich trotzdem liebst.
Sag du mir, warum? Warum konnten wir nicht vorher darüber reden?
Wenn die Ricke verendet, stirbt auch das Kitz. Der Bock wird sich nicht drum kümmern.
Im Osten sehe ich am Himmel einen Hauch von Morgengrauen. Ein letzter Zug, und ich werfe die Zigarettenkippe an den Straßenrand. Die Glut erlischt im Schnee. Ich reibe mir die kalten Finger, packe die Läufe des Rehs, zerre es zur Bankette und schiebe es über die Kante der Böschung. Die Äste von Büschen, an denen sich das erste zarte Grün zeigt, brechen knackend, es platscht laut, dann herrscht wieder Stille. Nur der Motor wispert, verlässlich und tröstlich. Wegen des Kadavers wird niemand mehr bremsen müssen und ins Schleudern geraten.
Wieder im Wagen schalte ich das Warnblinklicht aus. Die Scheinwerfer schneiden eine tiefe Schneise in das Zwielicht des frühen Morgens. Die Kälte sitzt mir in den Knochen. Der warme Wind aus dem Gebläse streicht mir angenehm über Hände und Gesicht. Schaudernd stelle ich mir vor, wie kalt es wohl damals hier gewesen sein muss, als Karl die Sachsen niedermachte.
Ich wende.
Als ich wieder am Wildwechselschild vorbeikomme, wähle ich deine Nummer. Während ich zähle, wie oft es klingelt, denke ich, eigentlich könnte ich mich auch darüber freuen, Vater zu werden.
"Ja ...?", hauchst du in den Hörer.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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