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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Blick ins Gegenüber

© Thorsten Lipinski


Er stützte die Hände auf den Tisch und blickte hinaus in den sonnenüberfluteten Garten. Die Vögel zwitscherten wie gewöhnlich, obwohl nichts mehr gewöhnlich sein konnte, und eine leichte Brise kam von den nahen Hügeln und ließ die Zweige der Obstbäume sich widerspenstig wiegen. Am Himmel zogen einige Wolken vorbei, die aus dem Panorama einer Postkarte entflohen schienen; und doch hing das Bild schief.
Viele Jahre schon bewohnte Herr Hinterberg dieses Haus am Rande des Dorfes. Nachdem er in den Ruhestand getreten war - er hatte sein Leben hinter dem Schalter einer kleinen Provinzbank verbracht- war er in diese ruhige Idylle gezogen. Von Anfang an hatte er sich hier wohl gefühlt und die Arbeit im Garten und am Haus füllte seine alten Tage mit genügend Abwechslung und Aufregung. Jedenfalls alle Aufregung, die er sich wünschte. Jetzt jedoch war etwas geschehen, das sein Leben in einen Strudel von Unruhe geworfen hatte.
Hinter den Bäumen, von seinem Fenster aus nicht zu sehen, lag der Gemüsegarten. Dorthin zog es ihn in seinen Gedanken. Er faltete seine Hände vor sich auf dem Tisch und ließ die Ereignisse des gestrigen Tages noch einmal in seinem Kopf Revue passieren.
Er hatte das schöne Frühlingswetter genutzt, um ein wenig in seinem durch das letzte Jahr hindurch verwahrlosten Gemüsegarten zu arbeiten. Er liebte diese Art von Tätigkeit und besonders an diesem Tag hatte er gar nicht schnell genug frühstücken können, um endlich draußen unter einem strahlend-blauem Himmel bei seinen Beeten zu sein.
Er hatte etwa eine Stunde Unkraut gezupft und war schon fast bis zur hinteren Ecke seines Gartens vorgedrungen, als er etwas Hartes an seinen Fingerspitzen gefühlt hatte. In diesem Moment durchfuhr ihn ein eigenartiges Gefühl der Erregung und die Welt um ihn herum erstummte für einen Sekundenbruchteil. Er zog seine Hand überrascht zurück, um diese dann wieder vorsichtig auszustrecken. Seine Finger tasteten unter dem lockeren und trockenen Boden und suchten den Gegenstand, den sie vor einigen Augenblicken unter der Erde entdeckt hatten. Dieses Mal ließ sich Herr Hinterberg von dem seltsamen Kribbeln in seinen Fingerspitzen nicht irritieren und kurze Zeit später hielt er eine Kugel in seiner Hand. Es war nicht irgendeine Murmel; das sah er sofort.
Die Kugel hatte einen Durchmesser von etwa fünf Zentimetern und ihre Oberfläche fühlte sich absolut glatt an. Das Seltsame war, dass sich in ihr eine Art Nebel bewegte, der an der Oberfläche Linien und Wellen auslöste. Herr Hinterberg hatte erstaunt auf diese animierte Weihnachtskugel geblickt und sie schnell in die Tasche gesteckt. Schließlich hätte einer der Nachbarn sehen können, dass er etwas Wertvolles in seinem Garten gefunden hatte. Aber vom ersten Augenblick der Berührung an, war in ihm ein Verlangen nach dem /Inhalt/ der Kugel gewachsen.
Denselben Abend hatte er wie immer auf seinem Sofa gelegen, nur dass er an diesem Abend nicht auf den zwei Meter entfernten Fernseher gestarrt hatte, sondern auf die Kugel aus seinem Gemüsegarten in seiner Handfläche. Er hatte sie unter seinen Fingern gedreht und ihr Inneres zu betrachten versucht. Es war wie eine Sucht und als die Spätnachrichten liefen, von denen er noch nicht einmal mitbekommen hatte, dass sie angefangen waren, hielt er es nicht mehr aus. Er hatte die Kugel fest in seine Faust gepresst und sich in den Keller begeben -er hatte sich vor Jahren schon eine kleine Werkstatt im Keller eingerichtet, um die wichtigsten Dinge im Haus selbst reparieren zu können-, wo er die Kugel auf seiner Werkbank in den Schraubstock eingespannt hatte. Er musste herausfinden, was sich in ihr befand!
Er war einen Moment aus seinem rauschartigen Zustand erwacht und hatte überlegte wie er der Kugel zu Leibe gehen könne. Er hatte einen Handbohrer aus dem fein säuberlich geordneten Werkzeugschrank genommen und auch einen Bohrer, den er vor dem einsetzen mit einem Ölpinsel bestrich. Dann hatte er die Bohrspitze angesetzt und an der kleinen Kurbel des Bohrers gedreht.
Nichts war geschehen. Die Kugel hatte noch nicht einmal einen Kratzer. Eine Viertelstunde später hatte Herr Hinterberg den elektrischen Bohrer aus seinem gepolstertem Koffer unter der Werkbank befreit, die sonst so streng über die drohende Vollglatze gestrichenen Haare hatten ihm wirr und schweißnass als Strähnen über die Stirn gehangen. Aber selbst die sonst so verlässliche Bohrmaschine, die er schon seit fünfzehn Jahren besaß und pflegte, hatte, selbst im Schlagmodus, nichts auszurichten vermocht. Nicht einmal ein Kratzer.
Aus Verzweiflung hatte er einen Hammer genommen und wie ein Verrückter auf die Kugel eingeschlagen. Die Linien und Wellen, durch den glimmenden Nebel im Innern verursacht, waren unbeeindruckt weiter über die Oberfläche gezogen. Er hatte sich erschöpft -sein Hemd hatte aus seiner Hose gehangen- an die Werkbank gelehnt.
Dann hatte er eine Idee gehabt, eine Wahnsinns-Idee im wörtlichen Sinne,... wenn man es hinterher betrachtete.
Er hatte den Schraubstock, der die Kugel gehalten hatte, so weit wie möglich angespannt. Dann hatte er ein langes Rohr genommen und es über den Griff des Schraubstockes gelegt. Mit ganzer Kraft hatte er sich auf diesen Hebel gelehnt und sich daran gehängt, bis der Schraubstock mit einem kalten Knacken zerbrach. Die Kugel war, von dem enormen Druck befreit auf den Boden gefallen und war dort selbst ohne noch weiter zu rollen, liegen geblieben, so als wöge sie Tonnen. Herr Hinterberg hatte diese Tatsache noch gerade wahrnehmen können, bevor er durch die Wucht seines eigenen Gewichts gegen die Wand geschleudert worden war.
Er hatte sich ächzend erhoben, hatte die Kugel an sich genommen und war dann ins Bett gegangen. Den Rest der Nacht hatte er in einen Art Fiebertraum verbracht, die merkwürdige Kugel, den so kostbaren Fund dieses Tages, fest an sich gedrückt.
An diesem Morgen entschloss er sich die Fundstelle im Gemüsegarten genauer zu untersuchen. Vielleicht ergab sich daraus eine Erklärung für die Widerstandskraft der Kugel. Oder überhaupt eine Erklärung wo dieses Ding herkam und schließlich was es bedeutete.
Mit Spaten, Schaufel und Hacke bewaffnet begab sich Herr Hinterberg in seinen Gemüsegarten. An der Stelle, an der er gestern die Kugel gefunden hatte, klaffte noch immer ein zwanzig Zentimeter tiefes Loch in der Erde.
Er ging auf die Knie und begann zuerst mit den Händen ein wenig zu buddeln. Er erhoffte sich eigentlich nichts Besonderes davon und war umso erstaunter, als seine Finger erneut auf etwas Hartes stießen, und erneut fuhr ein angenehmes Gefühl durch seinen Körper. Hastig grapschte er in der losen Erde nach dem noch unsichtbaren Gegenstand, ergriff ihn endlich, zog in ins grelle Tageslicht: Eine zweite Kugel! Verwirrt von den Wellenmustern auf der Oberfläche, betrachtete er seinen neuen Fund. Er nahm wahr, dass seine Hände zitterten.
Diese Kugel war mit der Ersten absolut identisch, bis auf ein einziges, nicht unwesentliches Detail: Sie war ungefähr doppelt so groß.
Herr Hinterberg riss sich von dem Anblick der Kugel los, legte sie zur Seite und grub erneut an derselben Stelle. Einen halben Meter tiefer stieß er auf eine weitere Kugel. Er wollte seinen Augen nicht trauen. Die neue Kugel war wiederum viel größer als die Zweite.
Zum ersten Mal kam Herr Hinterberg der Gedanke, dass ihm jemand einen Streich spielen wollte; so unglaublich schien ihm der Fund der Kugeln. Er blickte sich um.
Die Fliedersträucher wiegten sich im warmen Wind. Es war still; bis auf die Vögel in den Zweigen und das Rauschen des Windes in den Blättern der Bäume hinter seinem Haus; keine Menschenseele weit und breit. Seine Nachbarn arbeiteten alle tagsüber und er fragte sich, was für einen Sinn es haben sollte, ihm einen solchen Streich zu spielen, wenn niemand hier war, um über ihn zu lachen. Aber wer hatte diese Kugeln in seinem Garten vergraben und zu welchem Zweck?
Herr Hinterberg setzte sich auf den kleinen Haufen Erde neben dem halbmetertiefen Loch und seufzte, wobei er in jeder Hand eine der gefundenen Kugeln hielt. Es gab nur einen Weg, um hinter das Geheimnis der Kugeln zu kommen. Er würde weiter graben müssen!
Er raffte sich auf, schob sich das Hemd in die Hose, der es wieder mal entwischt war, strich sich die Überreste seiner ehemaligen Haarpracht aus der Stirn, nahm seine Schaufel und begann erneut zu graben.
Herr Hinterberg reinigte die lehmigen Finger mit einem Kuchentuch und betrachtete sein Tageswerk. Draußen war es inzwischen dunkel geworden und nur mit Mühe hatte er die letzte Kugel, die sich noch tragen ließ in seinen Keller geschafft.
Vor ihm reihten sich nun die Kugeln wie eine surreale Matruschka auf dem Boden, nach Größe sortiert. Ganz links lag die Kugel, die er gestern als erste gefunden hatte. Ihr Durchmesser betrug fünf Zentimeter. Daneben die zweite mit einem Durchmesser von zehn Zentimetern, die dritte umfasste schon fünfzehn, die vierte war exakt fünfundzwanzig groß, die fünfte vierzig Zentimeter, die sechste fünfundsechzig, die siebte betrug schon einen Meter und fünf.
Herr Hinterberg hatte sein Leben lang in einer Bank gearbeitet und erkannte, dass es ein System hinter dieser proportionalen Vergrößerung gab, das dem Schema 1-2-3-5-8-13-21 folgte, mit einer Vervielfachung von fünf. Die nächste Kugel in seinem Gemüsegarten, die auf ihn in dem immerhin schon zwei Meter tiefen Loch wartete, musste demnach einen Meter siebzig groß sein.
Eine unerwartete Erregung befiel ihn. Es gab also so etwas wie ein System, einen erklärbaren mathematischen Hintergrund bei dieser abstrusen Sache. Vielleicht war er gar nicht so verrückt.
Herr Hinterberg kam ein neuer Gedanke und dieser ließ ihn wieder ein wenig nüchterner werden: Wie tief sollte er denn noch graben?
Die Wände seines bisherigen Schachtes ließen sich mit den Holzlatten, die er noch im Keller gehabt hatte, nur dürftig abstützen. Aber welche Wahl hatte er, wo er jetzt schon so tief in dieser Geschichte steckte, dass er niemanden mehr davon zu erzählen wagte, weil er fürchtete, dass die /anderen/ ihn für verrückt halten könnten? Vielleicht würden sie ihm seine Kugeln sogar abnehmen wollen.
Er berührte seufzend die größte der Kugeln und alle seine Sorgen schienen verflogen. Pures Glück strahlte von der Kugel aus und wenn er sich konzentrierte meinte er in dem Nebel im Innern schemenhafte Bewegungen feststellen zu können.
In dieser Nacht schlief er neben den Kugeln im Keller, ein breites Grinsen auf seinem sandverschmierten Gesicht.
Am nächsten Morgen war er als erstes in die Stadt gefahren. Er musste seine Grabungsarbeiten im Garten unbedingt vor den Nachbarn verbergen und zu diesem Zweck hatte er ein im örtlichen Baumarkt ein Fertig-Gartenhaus gekauft, in dem man normalerweise Gartengeräte und den Rasenmäher unterbringt.
Gegen fünf Uhr am Nachmittag, als er das Gartenhaus endlich über seinem Loch im Garten aufgebaut hatte, hörte er wie an seiner Tür geschellt wurde.
Mit einigen eiligen Schritten durchquerte er den Garten und lief durch das Haus bis zur Wohnungstür.
Draußen stand seine Nachbarin Frau Scavelin und hielt eine Schale in den Händen.
"Guten Tag, Herr Hinterberg!", sagte sie freundlich und lächelte ihr berühmtes Honiglächeln, während ihr Blick neugierig in das Innere seiner Wohnung schweifte.
"Guten Tag", erwiderte Herr Hinterberg kurz und blieb in der Tür stehen. Er hatte auf keinen Fall vor, seine redselige Nachbarin ins Haus zu lassen. Sie würde ihn stundenlang aufhalten mit ihrem Gerede über Dinge von denen er entweder keinen Schimmer hatte oder die ihn nicht im Geringsten interessierten; und er hatte doch wirklich im Moment Wichtigeres zu tun.
Gerade heute musste seine Nachbarin sich zu einem Höflichkeitsbesuch entschieden haben. Sie war eine nicht unattraktive junge Frau, die mit einem ebenso jungen Anwalt verheiratet war. Die beiden waren vor einem Jahr ins Nachbarhaus gezogen und sie hatten ihn seitdem des Öfteren besucht.
Eigentlich hatte er sich nie viel aus ihren Besuchen gemacht und das lag zum Teil daran, dass sie aus Mitleid geschahen. Natürlich hatte das junge Paar ihm nie gesagt, dass sie ihn für einen einsamen alten Mann hielten, aber das brauchten sie auch nicht. Er sah es in ihren Gesichtern.
"Ich habe Ihnen einen Kuchen gebacken", erklärte Frau Scavelin und hielt ihm die Schüssel unter die Nase, von der tatsächlich ein angenehmer Geruch ausging.
"Danke", sagte er, als er den Kuchen entgegennahm und versuchte ein Lächeln, das dennoch schief auf seinem Gesicht hängen blieb. Die Nachbarin sah ihn für einen Augenblick nachdenklich an. Erst jetzt bemerkte sie das verschwitzte und verdreckte Gesicht des Nachbarn.
"Geht es Ihnen auch gut, Herr Hinterberg?", fragte sie und fügte, noch bevor er antworten konnte, als Erklärung hinzu: "Sie sehen so ... so aufgeregt aus."
Herr Hinterberg nickte.
"Ja, es geht mir ausgezeichnet. Ich arbeite gerade im Garten und bin wohl deshalb ein wenig durcheinander."
Dabei deutete er auf sein verschwitztes Hemd und seine mit Erde verschmutzte Hose. Und probierte das zweite missglückte Lächeln dieses Tages.
"Na, dann…", begann die junge attraktive Nachbarin, aber Herr Hinterberg sah sie nur an und gab ihr nicht die geringste Konversationshilfe. " Dann will ich nicht weiter stören."
Gott sei es gedankt, dachte Herr Hinterberg, obwohl er nie sehr religiös gewesen war. Er entschloss sich zu einem abschließenden Kompliment, nicht, weil er es ernst meinte, sondern weil die Nachbarin ihm seinerseits ein wenig Leid tat.
"Ich danke Ihnen für den Kuchen. Er wird mir bestimmt schmecken. Sie sind eine so gute Köchin."
Frau Scavelin machte dieses Kompliment scheinbar glücklich. Sie lächelte und verabschiedete sich schließlich.
Herr Hinterberg schloss die Tür und lehnte sich dann, die Schüssel mit dem Kuchen noch in den Händen gegen den Rahmen. Einen Moment verharrte er in dieser Position, dann ging er in die Küche und warf den Kuchen, wie alle vorigen gut gemeinten Essensgeschenke der Nachbarin, die er wegen seinem empfindlichen Magen nicht essen konnte, in den Abfalleimer.
In derselben Nacht noch grub er - vor neugierigen Augen durch das Häuschen über der Grube geschützt- bis er auf die nächste Kugel stieß, die er dieses Mal /erwartet/ hatte.
Sie war wirklich sehr groß und es gelang ihm nicht sie aus der Erde heraus zu buddeln. Es versuchte es eine ganze Weile!
Schließlich setzte er sich auf die Oberfläche der Kugel und beobachtete die Wellen und Linien zwischen seinen Beinen. Weit hinter dem Nebel im Innern lag das Geheimnis der Kugeln, dessen war er sich sicher.
Seine Hände glitten über die glatte Oberfläche und ein gewaltiges Gefühl der Glückseligkeit überfiel ihn, bis ihm Tränen der Freude über die verdreckten Wangen liefen.
Wie ihm Traum entkleidete er sich, bis er völlig nackt war und legte sich, Arme und Beine ausgetreckt, auf die Kugel in dem Loch in seinem Gemüsegarten. Ein Kribbeln und Kitzeln auf seiner Haut war die Folge, das sich besonders in seinem Genitalbereich spürbar machte. Sein Penis wurde steif und er dachte mit einem mal an seine junge Nachbarin. Er sah sie vor sich, ebenfalls nackt mit wohlgeformten Busen und einem zarten Flaum von Schaamhaar. Eine enorme Erregung, wie er sie seit seinem zwanzigsten Lebensjahr nicht mehr gespürt hatte, durchlief jede Faser seines Körpers und hätte ihn wahrscheinlich zum Orgasmus geführt, wenn nicht in diesem Augenblick die Kugel unter ihm mit einem leisen Knacken nachgegeben hätte.
Bevor Herr Hinterberg auch nur erstaunt ausrufen konnte, war er schon durch die gebrochene Oberfläche der Kugel hindurch gefallen. Verwirrende Nebelschwaden umhüllten ihn, als er immer tiefer zu fallen schien. Letztendlich wurde sein Fall sanft gebremst, wie durch einen riesigen Haufen von Federn.
Als er endlich wagte die Augen zu öffnen, bemerkte Herr Hinterberg, dass er in seiner Gartenhütte lag. Durch die Ritzen und durch das kleine runde Fenster in der Tür drang Tageslicht. Hatte er etwa die ganze Nacht verschlafen? Er rieb sich die Augen und konnte sich nicht erinnern, eingeschlafen zu sein.
Dann blickte er an sich herab und stellte erschreckt fest, dass er noch immer nackt war. Er griff also nach seinen Kleidern, die er am Rande des Loches gelegt hatte. Wie sehr war er jedoch erstaunt, als er sah, dass dies keinesfalls seine Kleider sein konnten. Er hatte ein einfaches Hemd und eine grüne Kordhose getragen, aber was er nun in den Händen hielt fühlte sich eher an wie ein teurer Seidenanzug. So etwas hatte er noch niemals in seinen Leben besessen. Erstens, weil diese Art der Kleidung für rausgeworfenes Geld hielt und zweitens, weil er meinte, dass ihm diese Noblesse sowieso nicht stehen würde.
Jetzt, in seiner ungeschützten Nacktheit jedoch, war er weniger wählerisch; auch wenn er sich fragte wie diese Kleider hierher gekommen waren. Hatte ein Nachbar ihn entdeckt und ihm gnädigerweise seine eigenen zu leihen? Aber dann hätte der Nachbar doch versucht ihn aufzuwecken oder was würden Sie tun, wenn ihr Nachbar nackt und bewusstlos in einem Erdloch in seinem Garten liegen würde?
Wie ein Blitz huschte Herr Hinterberg auf seinen steifen Beinen durch den Garten zum Haus. Erst jetzt wagte er es zu verschnaufen und sich umzusehen. Er drückte die Augen ein, zweimal zu, aber der Anblick blieb und war kein Zeichen seiner Erschöpfung. Der Himmel war orange und das Gras und das Laub der Bäume rot. Seine Kirschen waren dahingegen grün und sahen sehr unappetitlich aus. Er schüttelte den Kopf und ließ dabei die Zunge heraushängen... und ein Außenstehender hätte ihn wahrscheinlich für einen Gestörten gehalten.
Als seine klaren Gedanken wieder übernahmen, war er heilfroh, dass kein Außenstehender ihn wirklich gesehen hatte. Es war sowieso recht still, selbst die Vögel schienen ein Schweigegelübde abgelegt zu haben. Es wehte nicht einmal ein Wind... dass hieß jedenfalls kein normaler Wind! Es gab so etwas wie Luftbewegungen, aber sie schienen alle von seinem Körper auszugehen. Bevor er noch einmal durchdrehen konnte, ging er ins Haus.
Auch hier schrien ihm die ungewohnten Farben entgegen. Er würde wohl zum Arzt müssen, um seine Augen testen zu lassen, aber wie die meisten Menschen in seiner Situation getan hätten, entschloss er sich erst einmal einen Kaffee zu kochen, um der Normalisierung eine Chance zu geben. Vielleicht ging alles sehr schnell, ganz von allein, vorüber und blieb dieses Ereignis als undeutlich verwirrte Erinnerung bestehen. Herr Hinterberg entschloss sich, dass es so sein solle, als es an der Tür klingelte, nein, eigentlich summte es vielmehr, aber er wusste, dass es seine Türklingel sein musste. Bestimmt hatte auch sein Gehör unter der unbequemen Nacht im Erdloch gelitten.
Auf keinen Fall jedenfalls würde er jetzt jemanden sehen wollen. Er duckte sich unter den Tisch und verhielt sich still; bestimmt würde der unangemeldete Besucher aufgeben und sich davonmachen. Aber wenn man denkt... kommt es ganz anders.
Der Besucher ließ sich nicht entmutigen. Die Türklingel schellte noch zweimal, dann wurde die Tür einfach geöffnet. Jemand betrat den kleinen Flur seiner Wohnung und bewegte sich vorsichtig. Eine unbestimmte Angst kroch ihm in den Nacken und packte ihn dort, so dass er sich wie ein Katzenjunges im Maul der Mutter nicht bewegen konnte. Die Schritte kamen näher und jemand trat in die Küche.
"Walter?", erkundigte sich eine Frauenstimme.
Das ließ ihn aus seiner Erstarrung erwachen. Zwei Dinge passten einfach nicht zusammen. Die Stimme war die seiner Nachbarin, Frau Scavelin, kein Problem!
Aber woher wusste sie seinen Vornamen! Er war sich fast sicher, dass nicht einmal die Hälfte seiner ehemaligen Kollegen in der Bank seinen Vornamen gewusst hätte. Außerdem war er nie verheiratet gewesen, Freunde hatte er kaum gekannt, ja es ging soweit, dass er seinen Namen fast selbst vergessen hätte, da niemand ihn jemals nannte.
Er nahm sich zusammen und krabbelte unter dem Tisch hervor. Er fühlte sich dabei sehr albern. Der dritte -und nicht der letzte- Schreck dieses Tages traf ihn, als er auf zwei hochhackige Schuhe traf, die zwei Nylonsäulen trugen, auf der das höchst interessant geformte Becken Frau Scavelins ruhte.
Unter ihrem kurzen Rock, hielt die Aussicht auf einen schwarzen Spitzenslip ihn für einen Augenblick gefangen, bevor er seine Augen, noch immer auf dem Boden hockend, an dieser Frau herauffahren ließ, die ihm gleichzeitig so bekannt und so unbekannt war.
Sein Herz hämmerte in seiner Brust, und nicht nur dort, als er an ihren Brüsten hinauf in ihr Gesicht starrte. Er spürte wie sein Unterkiefer herunterklappte, aber es konnte ihm nichts mehr ausmachen. Er hatte das Gefühl jenseits von Gut und Böse angekommen zu sein in einem Rasthaus mit dem Namen "Wahnsinn".
Es war Frau Scavelin, das stand nun fest. Jedoch hatte die bescheidene und hübsche Nachbarin mit ihren bunten Schürzchen und ihren kleinen schmatzenden Abschiedsküsschen an ihren Mann am Morgen, sich in einen erstklassigen Vamp mit Hollywoodallüren verwandelt. Die rot geschminkten Lippen grinsten frivol zu ihm hinab und ihre langen schwarzen Wimpern vibrierten, als sie sagte:
"Was tust du denn da unten, Walter? Erwartest du mich mit irgendeiner Absicht in dieser Position?"
Erst wollte er nur verwirrt den Kopf schütteln, aber dann stieg urplötzlich eine irre Wut in ihm auf, seine, durch die Ereignisse, schon sehr gestörten Gefühle, hatten eine weitere Erschütterung durchleben müssen und diese war /eine/ zuviel. Er richtete sich auf und schrie Frau Scavelin an:
"Was fällt ihnen ein, mich Walter zu nennen? Niemand nennt mich Walter, verstehen Sie! Und was tun sie überhaupt hier... in dieser Aufmachung?"
Eine fahrige Geste beschrieb, was er damit meinte.
"Gefällt es dir nicht?", antwortete seine Nachbarin verschmitzt lächelnd und drehte sich herum, wobei er einen ausgezeichneten Ausblick auf ihren runden hinteren Rücken bekam.
Er verschluckte die Worte, die ihm gerade in den Sinn kamen und sagte stattdessen:
"Sie gehen jetzt besser!", die Nachbarin zur Tür drängend.
Frau Scavelin schien diese unfreundliche Behandlung aber keineswegs aus der Laune zu bringen. Vor seiner Haustür kniff sie dem Bankpensionär zum Abschied in den Hintern und zwinkerte ihm zu:
"Bis demnächst dann?"
Herr Hinterberg antwortete nicht und war in seinem Haus verschwunden, bevor die Nachbarin ihn noch weiter durchdrehen lassen würde. Er ging wieder in die Küche und schlürfte eine weitere Tasse weißen Kaffee, während er seine Gedanken abschweifen ließ.
Er wollte sich einfach nicht mit der aktuellen Situation beschäftigen. Der weisse Kaffe, der sich mit der schwarzen Milch grau färbte, brachte ihn aber doch auf den Boden der Tatsachen zurück. Nach der ersten Tasse war nicht einfach alles vorbeigegangen, ganz im Gegenteil, es war immer schlimmer geworden; seine Sinne funktionierten nicht mehr richtig und auch sein Verstand schien aufgegeben zu haben. Seine Nachbarin im exquisiten Hurenkostüm musste er sich einfach eingebildet haben, das konnte nicht wirklich geschehen sein!
Wie käme diese junge, hübsche Frau darauf, ihn, alten und unansehlichen Mann, verführen zu wollen? Nein, er hatte sich alles nur eingebildet! Die Kugeln mussten eine Droge enthalten haben! Das musste die Erklärung sein, denn er fühlte sich normal, vom einem Zwang die Kugeln zu sehen, zu berrühren, keine Spur mehr.
Er ging hinunter in den Keller, um seine Entdeckung des letzten Tages doch noch einmal zu betrachten, und machte eine erschreckende Entdeckung, die ihn doch irgendwie beruhigte.
Die Kugel waren verschwunden, als ob sie nie dagewesen wären! Es gab keine Spuren von Erde und seine Schaufel lehnte sauber in der Ecke des Raumes. Dafür gab es wiederrum, nach der Meinung von Herrn Hinterberg, nur eine Erklärung: erhatte sich alles nur eingebildet!
Nichts von all den schreckliche-verwirrenden Dingen war wirklich geschehen. Er hatte einen Fiebertraum gehabt. Ja, das musste es sein! Er war krank gewesen und hatte Alpträume gehabt. Und plötzlich fiel ihm ein, wie er seine Theorie beweisen konnte.
Er eilte hinauf in die Küche und zum Abfalleimer. Er trat mit Wucht auf das Pedal und mit lautem Klappern schnellte der Deckel hoch. Ein süßlicher Geruch verbreitete sich in der Luft, während er hineinschaute. Da war der Beweis! Zwischen den Abfällen befand sich /kein/ Kuchen. Die Nachbarin war auch gestern nicht hier gewesen! Sie war auch heute nicht hierher gekommen, in /seine/ Küche, um ihn zu erniedrigen. Er hatte alles nur im Fiebertraum erlebt.
Den Abend verbrachte er vor dem Fernseher. Ein guter Cognac unterdrückte das Zittern seiner Nerven und alle seine Lieblingssendungen liefen heute. Es fiel ihm dabei gar nicht auf, und das war nur zum Teil durch den Alkohol in seinem Blut zu erklären, dass alle seine Lieblingssendungen liefen. Heute. Wo sie sonst über die ganze Woche verteilt waren.
Aber es war ihm im Moment egal. Eine weitere Tatsache, die er verdrängte. Die andere war, dass die Fraben sich endlich zu ordnen schienen. Wo er vorher grün gesehen hatte, sah er nun mehr und mehr rot und orange veränderte sich wieder in das vertraute blau. Er sah es befriedigt als die Normalisierung seiner Wahrnehmung, während es eigentlich nur eine normale Anpassung war.
Kurz nach Mitternacht ging er wie gewohnt ins Bett und schlief erschöft ein. Die Krankheit muss mich ganz schön rangenommen haben, dachte er noch bevor die Welt vor seinen Augen grau wurde, aber sich noch im Laufe der Nacht in ein sattes Schwarz veränderte.
Den Morgen begann er pfeifend, was für ihn eine Veränderung in seiner morgentlichen Routine bedeutete.
Er fühlte sich einfach gut. Die Vögel sangen vor dem Fenster im Vorgarten und die Sonne lachte scheinbar vertraut vom Himmel. Der Kaffee duftete nicht nur köstlich, er war auch wie gewohnt schwarz und als er die Sahne hinzufügte, wurde er wunderbar ockerfarben, mit einem versprechen von Cremigkeit.
Er verspürte Lust auf Leben in sich und erschrak im selben Moment. Bin das wirklich ich? Aber der Moment verging und Walter wollte nicht griesgrämig werden über diesen tausendfach gedachten Gedanken. Warum sollte er nicht mal anders sein?
Nach dem Frühstück, er war gerade dabei das Geschirr vom Tisch auf die Spüle zu räumen, klingelte es melodiös an der Tür und er freute sich, dass jemand ihn besuchen kam. Es war der Postbote, der ihn mit einem freundlichen Guten Morgen begrüßte.
Es musste sich um eine Vertretung handeln, dachte Walter, sich an den missmutigen Mann erinnernd, der ihm jeden Tag wort- und grusslos die Post unter der Tür hindurch schob. Oder sein Bruder!, denn sie sahen sich doch irgendwie ähnlich...
Es war ihm egal, solange der Postbote freundlich lächelte. Er nahm die Post entgegen und verabschiedete den Postboten mit den besten Wünschen für einen schönen Tag. Kurz bevor er die Tür schloß, sah er die Nachbarin um die Ecke kommen. Sie trug ein sommerliches Blumenkleid, das im frühen Tageslicht leicht durscheinend wirkte. Sie zauberte ein Lächeln hervor, das ihm das Herz schmelzen ließ, wie eine Kugel Vanilleeis in der Wüste. Sie winkte ihm zu, zog ein wenig an ihrem Röckchen, so dass man ihre Unterwäsche sehen konnte und er erwiderte den Gruss wohlwollend, als wäre das Leben niemals natürlicher gewesen.
Er sah die Post durch und stellte erstaunt fest, dass ein Brief von einem Notar dabei war. Er öffnete eine Schublade um ein Messer hervorzuholen, überlegte es sich aber anders und riss den oberen Teil des Briefes mit den Fingern auf.
Er entfaltete den Brief und las ihn dreimal, bevor er wieder zu atmen wagte. Das konnte nicht sein. Walter las den Brief ein viertes Mal. Und jetzt endlich drang es zu ihm durch. Er war reich!
Die Bank hatte unter ihren ehemaligen Angestellten eine Lotterie ausgelost. Er hatte gewonnen! Zwei Millionen. Ihm wurde schwindelig bei dem Gedanken, was für Träume er damit verwirklichen konnte. Träume von denn er nicht einmal wusste, dass er sie hatte.
Er nahm sich einen Cognac -auch wenn es noch früh am Tage war, die Gelegenheit schrie nach einer Ausnahme- und ging hinaus in den Garten. Es war ein herrlicher Morgen, voller Glück und Sonnenschein mit dem Vertrauen im Herzen, dass nichts schief gehen kann. Er atmete die frische Luft tief ein und schritt hinüber zum Schatten des Kirschbaumes. Über ihm leuchteten die reifen Früchte und der Stamm warf einen angehnem-kühlen Schatten auf ihn. Er hatte Lust sich hier ein wenig hinzusetzen. Er ging über den Rasen auf die Gartenhütte zu, in der er einen Stuhl vermutete.
In der Mitte des Rasens angekommen, blieb er jedoch erstarrt stehen, das Cognacglas fiel im aus der Hand in das Gras, ohne zu zerbrechen.
Er hatte doch gar keine Gartenhütte gehabt, bevor er die Kugeln gefunden hatte! Er hatte die Hütte gekauft, um seine Grabarbeiten vor den Nachbarn zu verbergen. Dieses Ereignis, das ihm vor ein paar Minuten noch in einer anderen Dimension gelegen zu haben schien, trat mit schmerzlicher Deutlichkeit wieder als Erinnerung auf. Hatte er hier wirklich gegraben?
Misstrauisch näherte er sich der Hütte und riss die Tür auf. Vor seinen Füßen tat sich ein Loch auf, an dessen Grund etwas schimmerte. Ihm wurde schwindelig. Er brauchte gar nicht genauer hinsehen, er wusste was sich unten im Loch befand. Und er wusste ebenso, dass er zurück musste.
Es war ein Morgen wie jeder andere. Der Kaffe war wie Wasser und doch brachte er Herrn Hinterbergs Magen durcheinander. Selbst das bißchen Bitterkeit, brachte ihn zum würgen. Zum Glück kam heute abend seine Lieblings-Polizeiserie im Fernsehen und er würde sich die Wiederholung von letzter Woche am Nachmittag noch einmal ansehen. Es würde ein Tag wie jeder andere im Leben eines pensionierten Bankangestellten werden. Mit diesen beruhigenden Gedanken sass er über seinem morgendlichen Kaffee und spürte seinen Magen, als es schrill an der Tür klingelte. Mit einem Seufzen erhob er sich und öffnete. Frau Scavelin stand dort und sah ihn mitleidig an.
"Guten Morgen, Herr Hinterberg! Wie geht es denn heute ihrem Magen?"
Er stöhnte, versuchte dann ein Lächeln und antwortete:
"Nicht so gut!"
"Ich bringe Ihnen die Magentabletten, die ich Ihnen versprochen habe."
Er nahm sie dankend an und verabschiedete seine redselige Nachbarin so schnell er konnte und kehrte zurück in die Küche zu seinem Frühstück, nachdem er die Dose mit den Tabletten in den Abfalleimer befördert hatte.
Frau Scavelin war mehr Last als Nutzen, dachte Herr Hinterberg. Wie anders war sie in der anderen Welt gewesen! Er spürte wie er zu schwärmen begann und unterdrückte das Gefühl sofort. Er würde die Kugel in seinem Gartenhaus gut bewachen. Niemand sollte in diese Hölle gehen können, die erst zu derselbigen wurde, wenn man zurückkehrte. Wer würde schon gern in einer unwirklichen Welt leben? Das war alles nur Selbstbetrug. Und wenn nun diese Welt die Unwirkliche war?
Er würde natürlich von Zeit zu Zeit mal nachsehen müssen, ob in der anderen Welt alles in Ordnung war! Auch um vielleicht heraus zu finden, was wirklich war. Wissen fordert Opfer vom Wissenden, dachte er.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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