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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Das erste Mal

© Liane Locker


Sie versperrte den Schrank mit jener Behutsamkeit, die ihr zu eigen war und als sie den Schlüssel abzog und in die kleine Schale zurücklegte, erging es ihr wir immer nach diesem feierlichen Ritual. Sie starrte andächtig auf die Tür des Kastens.
Als das Telefon läutete, fühlte sie sich gestört. Sie nahm widerwillig den Hörer ab und das Lächeln auf ihrem Gesicht erschien erst, als die Frau am anderen Ende zu sprechen begann.
Eine Freundin zu haben, nie mehr hatte sie auch nur darauf gehofft, wie sollte sie auch, da sie bis dahin niemanden gekannt hatte? Wirklich gekannt. Wie konnte sie hoffen, dann die eine zu finden, die noch dazu ihre richtige Freundin war?
Sie sprachen nur kurz und nachdem sie aufgelegt hatte, war jener Zauber verflogen, der sie nach Schließen des Kastens gefangen genommen hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie daran, wie störend doch eigentlich jeder einzelne Mensch sein kann.
Kommst du morgen?, hatte sie sie gefragt, die Frau am anderen Ende der Leitung. Sie hatte sie eingeladen, in ihre Wohnung, sie war schon oft in ihrer Wohnung gewesen, sie gefiel ihr, und - sie fühlte sich magisch angezogen von dem Schrank, der im Wohnzimmer der Freundin stand.
Ich werde sie fragen, morgen, fragen, was in dem Schrank ist, nahm sie sich vor. Dann dachte sie daran, wie sie einander kennen gelernt hatten, in jenem Geschäft, in dem sie verkaufte. Und daran, was die andere wohl an ihr fand.
Sie war weder hübsch noch charmant, weder klug noch humorvoll, sie war ein Nichts und die andere war alles,. Überall lernten sie Leute kennen, es lag an der anderen, nicht an ihr selbst, die andere lachte, strahlte und schien alle in ihren Bann zu ziehen, während sie nur stumm daneben stand.
Vielleicht mag sie mich deshalb, dachte sie des Öfteren, weil ich genau das nicht bin, was sie ist und dann erlebte sie ähnliche Glücksgefühle wie nach Schließen des Kastens. Vielleicht ist es meine Ruhe, meine Schüchternheit, meine Besonnenheit, überlegte sie weiter und fühlte schließlich doch nur, wie klein und unbedeutend sie war.
Sie strich über die Tür des Schrankes und ihr Gesicht verklärte sich. Sie besaß ihn, solange sie denken konnte, in ihrem Kinderzimmer hatte er neben ihrem Bett gestanden und oft, nachdem sie geweint hatte, hatte sie ihre Stirn an seine kühle Seitenwand gedrückt, als wäre er ihr Freund, wie ein Baum oder eben wie jene andere Frau. Dann hatte sie ihn mitgenommen, nachdem sie ausgezogen war von zu Hause, nachdem sie dieser Hölle entronnen war, sie musste um ihn kämpfen, ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass er zu den anderen Möbeln gehörte, doch sie hatte einen Starrsinn und ein Durchsetzungsvermögen bewiesen, vor dem selbst ihre Mutter schließlich kapitulierte.
Als sie jetzt daran zurückdachte, wurde ihr klar, dass sie nie vorher und nie nachher um etwas in diesem Maße gekämpft hatte.
Sie fragte nicht sofort, am nächsten Tag, in der Wohnung ihrer Freundin.
Dieser Schrank ist sehr hübsch, sagte sie dann endlich, ihre Handflächen klebten vor Schweiß.
Ja, ich habe ihn erst vor einiger Zeit gekauft, ich mag ihn auch sehr.
Was bewahrst du darin auf?
Sie spürte, dass sie es falsch angefangen hatte und verkrampfte sich.
Der Schlüssel steckt, wenn es dich interessiert...
Sie erstarrte, was, wenn sie die gleichen Gefühle überkamen, wie zu Hause, wie das alles verbergen vor ihr?
Mach du ihn auf, ich bitte dich darum.
Die andere sah sie an.
Du bist blass, fühlst du dich nicht gut?
Doch, das heißt........ ihre Stimme überschlug sich fast......... ich bin etwas müde.
Die andere erhob sich und öffnete den Schrank. Sein Inneres war in Fächer unterteilt und es standen Gläser darin, unten einige Schüsseln.
Du siehst, er ist sehr geräumig.
Sie schloss ihn wieder und drehte sich um.
Soll ich dir etwas bringen? Eine Tablette?
Warum ist er nicht leer, der Schrank, er sollte leer sein, sagte sie tonlos und ihre Augen bewegten sich nicht.
Was sollte ich mit einem leeren Schrank?
Die andere kam auf sie zu, setzte sich neben sie auf die Couch und legte ihr die Hand auf die Schulter.
Was ist wirklich mit dir? Was soll das mit diesem leeren Schrank?
Nichts. Ich muss jetzt gehen, entschuldige.
Draußen auf der Straße atmete sie tief. Beinah hätte sie es erzählt, hätte es sie überschwemmt, dieses Gefühl der Zuneigung, der Wärme, der Geborgenheit, beinah hätte diese unendliche Nähe es zugelassen, dass sie es preisgab, ihr Geheimnis, so wie damals. Sie bemerkte nicht die Tränen, die ihr über das Gesicht liefen, und als sie zu Hause angekommen war, nahm sie den Schlüssel aus der kleinen Schale, öffnete die Tür des Schrankes und die tiefe Liebe, die sie erfasste, beruhigte sie.
Es klopfte an der Tür und sie erschrak zutiefst. Sie rührte sich nicht und doch wusste sie, dass sie es nicht durchhalten würde, so zu tun, als sei sie nicht zu Hause, das gehöre sich nicht, hatte sie früher immer gehört, da es eine Art der Lüge sei und so ging sie automatisch zur Tür und drehte den Schlüssel herum und öffnete.
Ich machte mir Sorgen, du bist so überstürzt aufgebrochen, ich dachte, wenn du krank bist, du hast doch niemanden..
Nicht sie, wenn es nur nicht sie gewesen wäre, jeder sonst, nur nicht sie.
Während sie redete und redete und in ihr Zimmer drängte, an ihr vorbei, wusste sie, dass es nun unaufhaltsam war, die Tür des Schrankes stand offen.
Immer noch die Klinke der Wohnungstür in der Hand, schloss sie die Augen, während der Schweiß aus allen Poren ihres Körpers brach und ihre Beine zitterten.
Die andere kam zurück, nahm zärtlich ihre Hand von der Klinke, verschloss die Tür.
Siehst du, ich wusste doch, dass es dir nicht gut geht. Warum bist du unehrlich zu mir?
Unehrlich. Unehrlich. Dieser Satz. Sie kannte ihn von früher. Unehrlich, böse, schlecht, immer wieder, und dann die Strafe dafür und dann der Schrank.
Sie legte sich auf die Couch, während die andere irgendetwas in der Küche zurechtmachte.
Sie brachte ein Glas Wasser und setzte sich.
Wieso ist der Schrank leer?
Wieso ist er leer, sie hatte es damals geschrien, wo sind die Sachen, die darin waren, wieso ist er leer, sag es mir, du undankbares Geschöpf, sag es mir, jetzt, hörst du, und keine Lügen, ich will keine Lügen hören, und während die Schläge auf sie fielen, wie Messer, oder Steine, hatte sie es gestanden, stammelnd und zitternd und nun die andere, wieso ist er leer, wieso, wieso, wieso und sie legte den Arm über die Augen und schwieg.
Du versteckst dich darin, habe ich recht? Wie ein kleines Kind.
Ihre Stimme klang sanft, nie im Leben konnte sie sich erinnern, so eine Stimme gehört zu haben und sie begann zu weinen und die andere hielt sie in den Armen und tröstete sie.
Ich dachte mir, dass es so ist, sagte sie.
Es begann eine Zeit, in der jene Gefühle auflebten, die sie von früher kannte, außerhalb des Schrankes, wenn sie in den Arm genommen wurde, und doch erschien es ihr so, als sei es gerade dann besonders schlimm gewesen, zurückkehren zu müssen. Der Schlüssel in jener kleinen Schale war seit längerem unberührt und sie begann, ganz leicht, das Leben zu mögen, Immer noch stand sie im Schatten der anderen, während diese die Menschen umspielte, umgaukelte, doch fühlte sie sich mehr als ein Teil irgendeines Ganzen als früher. Die Zeit, die sie miteinander verbrachten, gehörte zu der schönsten ihres Lebens.
Sie hörte es zufällig, auf einer Party, zu der die andere sie mitgenommen hatte. Man sprach von ihr. Kennt ihr sie schon? Ihre verrückte Freundin? Sie soll sich im Schrank verstecken. Ein leerer Schrank, das muss man sich vorstellen. Und während alle Gesichter um sie herum in einem einzigen Dunst verschwammen, während Enttäuschung und Wut in ihr aufstiegen wie Übelkeit, hörte sie nicht jene um sie herum, sie hörte sie, von damals, und die höhnischen Gesichter der anderen auf der Straße, die auf sie hinunterblickten, während ihre Mutter sie fest an der Hand hielt, ja seht sie euch an, versteckt sich im Schrank, schließt sich darin ein, stundenlang, seht sie euch an, böse ist sie und unehrlich, ein undankbares Geschöpf, warum bin ich mit so einem Kind gestraft und während sie versucht, sich dem Druck dieser eisernen Hand zu entwinden, wird er immer stärker und stärker und die anderen lachen, riesige Gesichter über ihrem kleinen Gesicht und riesige Hände, die mitleidig ihren Kopf streicheln, auch die Hände ihrer Mutter, noch beherrscht vor den Augen der anderen, doch dann, zu Hause, unbändig vor Zorn.
Sie hatte den Tisch gedeckt, fein säuberlich, wie sie es gelernt hatte, denn sie erwartete Besuch, einen Besuch, den es zu ehren galt, die eine Freundin, die eine, die einzige und als es klingelte, bat sie sie herein, freundlich, ein Meister ihres Faches, und sie lachten und es war alles wie immer und sie hatte nichts erzählt von jener Party damals.
Als sie den Kaffee ausgetrunken hatten, stand sie auf und trug die Tassen in die Küche. Dann ging sie zum Schrank, der offen gestanden war, versperrte ihn und legte den Schlüssel in die kleine Schale.
Nachdem sie das Nötigste gepackt hatte, öffnete sie die Wohnungstür, versperrte sie von außen gründlich und trat auf die Straße.
Einige Häuser weiter blieb sie stehen, griff in ihre Manteltasche und warf die Spritze, die sich darin befunden hatte, in den nächsten Müllcontainer.
Gut, dein Kuchen, hatte ihre Freundin gesagt. Sie hatte zwei Stück davon gegessen.
Das muss gereicht haben, dachte sie, während sie noch einmal in den Container sah und lächelte.
Die Nadelspitze hatte sich senkrecht in ein verfaultes Salatblatt gebohrt.
Sie musste lächeln und ging weiter.
Sie hätte nie ihrer Mutter gestattet, sich in ihrem Schrank zu verstecken.
Doch einmal musste das erste Mal sein.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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