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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Blaue Elefanten

© Renate Babnik


Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen jungen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. Für ein halbes Jahr war er jetzt allein. Alexa hatte sich für eine Marketingassistenz in Peking entschieden. Sie hatte ihn nicht gefragt, ob ihm das recht war. Aber sie hätte auch nicht darauf verzichtet, nur weil er nicht allein sein wollte - das war klar.
Andi setzte sich auf eine Bank. Sein Job würde ihn schon beschäftigen während der nächsten Monate. Außerdem gibt's ja auch Telefone und E-Mail. Und was ist schon ein halbes Jahr zur Unendlichkeit des Weltraums? Alexa hatte es schließlich noch schwerer. Sie war in der Fremde, musste allein klarkommen und konnte sich bei Einsamkeit nicht einfach in einem vertrauten Heim verkriechen. Aber vielleicht würde sie in Peking gar nicht einsam sein?
Andi schob den aufkeimenden Gedanken von einem anderen Mann fort und machte sich auf den Weg Richtung Ausgang. Es war kurz nach eins, er war müde. Sein Gehirn schaltete sich immer gegen 21 Uhr ab. Danach konnte er nicht mehr klar denken: Die Batterie war leer. Alexa ärgerte sich immer, dass er dann ihren Erzählungen nicht mehr folgen konnte und Geschichten und Personen komplett durcheinander brachte. Sie war ein Nachtmensch und lief erst am Abend zur Hochform auf, dagegen war Andi morgens um fünf fit für Geschichten, Pläne und Diskussionen. Für die nächsten Monate hatte sich dieses verschobene Zusammenleben erst mal erledigt, und er konnte morgens nach Herzenslust Krach machen, wenn er aufstand. Hey! Das war eigentlich ganz positiv.
Andi schloss die Wagentür auf. Gerade wollte er einsteigen, da vernahm er ein schneidendes Kratzen auf dem gegenüberliegenden Hausdach - er erstarrte bis ins Mark. Das Geräusch ähnelte dem Ton, den Fingernägel auf Schultafeln erzeugen - nur viel lauter, intensiver, messerscharf. Krallen. Es klang nach Tod bringenden Krallen. Das konnte keine Katze sein. Gänsehaut kroch über Andis Brust. Mit weit aufgerissenen Augen suchte er die Dächer ab - nichts zu sehen. Panisch sprang er ins Auto und raste los.
Die Straßen waren leer, die Ampeln regulierten stur die nächtlichen Schatten. Dampf quoll aus Gullydeckeln. Andi fühlte sich unwohl. Als Ingenieur und rationaler Mensch brachte ihn eigentlich nichts so schnell aus der Fassung. Unerklärliches gab es für ihn nicht. Und wenn Alexa von ihren Dienstreisen aus Indien, Namibia oder Brasilien wiederkam und von Dingen sprach, die über das, was jeder als normal kannte, hinausgingen, winkte er ab: alles nur Phantasien, Spinnereien oder religiöser Fanatismus. Für das Geräusch auf dem Dach gab es sicher eine plausible Erklärung. Bei Tageslicht würde er sich das Haus noch mal genau ansehen. Langsam wurde er ärgerlich, dass er sich hatte so erschrecken lassen.
Beim Rechtsabbiegen an einer Kreuzung blickte Andi für einen ultrakurzen Moment in zwei leuchtende Augen im Gebüsch.
Er verriss das Lenkrad und fuhr gegen den Bordstein. Eine Radkappe flog weg. "Mist", schrie er, hielt aber nicht. Was war das, verdammt? Lampen? Ein Tier? Ein Hund vielleicht? Nein, das Leuchten war zu hoch für einen Hund. Zitternd fuhr Andi weiter und stieß beinahe mit einem LKW zusammen, der wie aus dem Nichts neben ihm aufgetaucht war. Das wilde Hupen klärte seinen Verstand und ließ ihn bremsen. Eine Handbreit neben seinem Wagenfenster rollten die Reifen des Schwerlasters vorbei. Blaue Elefanten drehten sich auf den Radmuttern. Auf der Rückplane des LKW las Andi: Es gibt Tage, da solltest du dich nicht mit mir anlegen. Es klang wie eine Botschaft aus dem Jenseits. Angst kroch aus seinem Rückenmark und setzte ihre kalten Fühler auf sein Herz. Nur mühsam konnte er weiterfahren.
In der Kneipe "Zum scharfen Eck" kurz vor seinem Haus war noch Licht. Andi beschloss, noch etwas zu trinken - einen Schnaps oder zwei. Auf den Schreck. Bevor er die Wagentür öffnete sah er sich um. Keine Augen, keine Schatten. Schnell sprang er aus dem Wagen und lief zum "Eck". Zu rennen erschien ihm peinlich, er sputete sich trotzdem. Hilde, die Wirtin, und ein einsamer Gast erschraken, mit welcher Wucht er durch die Tür flog.
"Mensch, Andi. Du hast uns erschreckt", sagte Hilde. "Bist du auf der Flucht, oder was?"
Sie griff zu einem Bierglas.
"Ich nehme heut' mal 'nen Klaren."
Hilde hielt kurz inne. "Ach, klar! Alexa ist weg", sagte sie. "Das wird schon. Zum Wohl!" Der Schnaps tat gut, wohlige Wärme rann durch Andis Brust. Nach dem zweiten Glas verzog sich die Angst. Nach dem dritten verflogen die Schatten und die Augen. Nach dem vierten Schnaps ging Andi auf die Toilette. Er verfehlte die Tür und stand plötzlich auf dem Hinterhof. Die kühle Nachtluft tat gut, er lehnte sich an die Hauswand und schloss die Augen. Alexa. Sie saß jetzt schon im Flugzeug. Morgen würde sie in Peking landen, dann hätte er schon den ersten Tag ohne sie hinter sich. Er schrak zusammen, als die Hintertür aufflog.
"Ach hier biste", faselte Hildes Gast. "Ick muss pinkeln."
Er verschwand hinter dem Berg von leeren Weinkartons, Andi schloss wieder die Augen. Warum hatte Alexa vom Flughafen nicht noch mal angerufen? Ihm gesagt, dass sie ihn jetzt schon vermissen würde. Normalerweise machen Frauen das so, dachte er. Warum seine nicht?
Ein kurzes Pfeifen durchschnitt die Luft. Der dumpfe Aufschlag - wie von einem dribbelnden Fußball - brachte Andi wieder auf den Hinterhof zurück. Er öffnete die Augen: Direkt vor seinen Füßen kullerte der abgerissene Kopf des Gastes. Zwischen den Lippen steckte eine Radmutter mit einem blauen Elefanten.
Als Alexa am nächsten Morgen Ortszeit in Peking landete hatte für Andi ein Alptraum begonnen, der sich wie eine Kaskade ins Verderben ergoss - ohne Pause, ohne Halt, ohne Rettung.
Alexa wusste das. Am Pekinger Flughafen nahm sie sich ein Taxi und fuhr ins Hotel "Blauer Elefant".



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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