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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die fremde Frau

© Britta Reiland


Wie durch einen dichten Nebel versuche ich mich auf der gut besuchten Einkaufsstrasse voran zu kämpfen. Ich nehme sie kaum wahr, diese Menschen.
Menschen die laut lachend an mir vorüber laufen, Menschen die mich anrempeln, Menschen die an mir vorbei hetzen. Alles Menschen denen ich noch nie begegnet bin. Und sollte ich einen von ihnen kennen, es würde mir jetzt nicht auffallen. Werden sie doch alle in meinen Augen zu einem Ganzen.
Scheinen sich die unterschiedlichen Farben ihrer Kleidung zu einem tristen Grau zu vermischen. Und ich selbst bin Teil dieser sich stetig bewegenden Masse. Werde selber grau. Aber es gelingt mir nicht, mich darin verschwinden zu lassen. Noch nehme ich mich selber wahr.
Ich höre mein Atmen, spüre wie mein Herz das Blut durch meine Adern drängt.
Spüre wie es mich weiter drängt. Mich vorwärts treibt, der Masse entgegen.
Würde ich gänzlich darin verschwinden wollen, müsste ich mich umdrehen.
Müsste mich ihnen anpassen, ihrer Strömung folgen und nicht dagegen ankämpfen. Ich müsste dem entgegen laufen, dem ich doch gerade zu entfliehen versuche. Und so senke ich meinen Blick und teile die graue Masse. Kämpfe mich hindurch, wie ein Schiff das gegen den Strom fährt. Kann ich doch sicher sein, dass jeder meiner Schritte mich von der Wahrheit entfernt.
Wie lange ich schon hier entlang laufe? Ich weiß es nicht. Ob ich ein Ziel habe? Nein, nicht mehr. Aber eines weiß ich ganz sicher. Wenn ich stehen bleibe, werde ich meine Arme und Beine nicht mehr bewegen können. Wenn ich jetzt stehen bleibe, werde ich nicht mehr atmen können. Dann wird Gewissheit sein, was jetzt noch verdrängt werden kann. Dann wird Wahrheit sein, was jetzt noch ein Trugbild sein kann. Würde ich jetzt auf dieser Stelle verharren, wie ein Felsen in einem Fluß, das Wasser würde über mir zusammenschlagen. Ich würde ertrinken. Ertrinken in der Flut meiner Gefühle.
Ich bleibe nicht stehen, ich laufe weiter. Weiter durch die graue Masse für mich gesichtsloser Menschen. Menschen denen ich ihre Identität nehme, weil ich sie miteinander verschmelzen lasse. Man könnte sie fragen. Jeden einzelnen von Ihnen könnte man fragen. Was machst Du hier? Wo kommst Du her?
Wer bist Du? Ich stelle mir vor, wie man wahllos in diese graue Masse hineingreift und einen Einzelnen von ihnen herauszieht. Für einen kurzen Moment bekäme dieser eine Mensch seine Identität zurück. Bekäme wieder Farbe. Würde man mich herausziehen, ich könnte nicht antworten.
Und während ich darüber nachdenke, drehen meine Gedanken die Zeit für mich zurück. Es ist wieder Nacht! Ich liege in meinem Bett und lausche den Geräuschen der Straße. Ich höre einen Hund bellen, und dann eine gedämpfte Stimme. Unser Nachbar. Sein Hund bellt oft. Aber mich stört das nicht. Sind es doch vertraute Geräusche die mir das Gefühl geben, nicht allein zu sein.
Dann höre ich ein Auto näher kommen. Es gelingt mir nie herauszuhorchen, um welches Auto es sich handeln könnte. Aber vielleicht wird es langsamer, vielleicht hält es an. Das würde ich hören. Es fährt vorbei. Das Licht der Scheinwerfer bricht sich an der Fensterscheibe und für einen kurzen Augenblick verirren sich groteske Schatten in mein Zimmer und lassen die vertraute Umgebung fremd für mich erscheinen. Für einen kurzen Augenblick wird mir bewusst, dass ich wieder einmal alleine in unserem Bett liege und warte. Es muss weit nach Mitternacht sein. Es ist schon eine Weile her, dass ich im Hausflur Schritte auf der Treppe gehört habe. Die Frau, die über uns wohnt arbeitet in einer Bar. Sie kommt abends nie vor 1 Uhr nach Hause. Wenn ich dann noch wach bin, höre ich sie erst die Treppe hinaufgehen, dann dringt das Klappern ihres Schlüssels bis in unser Schlafzimmer. Manchmal fällt er laut scheppernd zu Boden bevor sie die Haustür öffnet. Dann weiß ich, dass gleich gedämpftes Poltern zu hören ist. Vielleicht ist sie zu müde, um ihre Schuhe leise auszuziehen. Vielleicht ist es ihr aber auch einfach egal, muss sie doch davon ausgehen, dass die anderen Bewohner dieses Hauses schon lange schlafen. Wenn ich noch wach bin, lausche ich auf ihre Schritte. Sie geht nie sofort schlafen, wenn sie von der Arbeit kommt. Ich kenne die Wohnung über uns, habe sie mir selber angeschaut, als sie wieder einmal leer stand. Das Auto draußen hat mich abgelenkt. Ich weiß nicht genau, in welches Zimmer sie zuletzt gegangen ist. Aber sie schläft noch nicht. Bevor sie ins Bett geht, duscht sie immer. Ich höre dann das Wasser hinter mir in der Wand rauschen und frage mich warum die Abwasserleitungen so nah an den Schlafzimmern sind. Ist es vielleicht nicht vorgesehen, dass Jemand mitten in der Nacht die Dusche benutzt? Mein Blick schweift zum Fenster. Wieder ist ein Auto zu hören. Das Brummen des Motors wird lauter, es kommt näher. Und es hält an. Aber nicht vor unserem Haus. Jetzt schlägt eine Tür zu. Eine Frau lacht leise. Dann eine Männerstimme. Die Frau lacht lauter, aufreizend wie ich finde. Ich denke, sie möchte ihn nicht gehen lassen. Früher habe ich auch so gelacht. Scherzhaft noch einen Kaffee angeboten. Versucht die schöne Stimmung des Abends noch ein wenig zu bewahren. Habe ich mich doch immer ein wenig beraubt gefühlt, wenn ich nach einem gemeinsam verbrachten Abend alleine die leere Wohnung betreten habe.
Vielleicht geht es der Frau jetzt ähnlich. Ich höre sie beide leise reden.
Eine zweite Autotür geht auf. Jetzt ist er wohl doch ausgestiegen. Ich stelle mir vor wie sie sich an ihn schmiegt und ich muss daran denken, wie oft ich mich so verabschiedet habe. Damals als er schon mit mir ausging und noch verheiratet war. Immer wenn wir zusammen einen Abend verbracht hatten wusste ich, dass er nicht bleiben konnte. Und wenn er dann fuhr, versuchte ich zu verdrängen, dass er in wenigen Minuten das Bett mit einer Anderen würde teilen müssen. Ich konnte sie ewig in die Länge ziehen, diese Abschiede. Immer wieder fiel mir etwas ein, was ich unbedingt noch erzählen musste. Wir hatten uns einen ganzen Abend gesehen und doch blieb immer so vieles ungesagt. Aber was ich wirklich sagen wollte habe ich auch dann nicht gesagt. Manchmal stieg er noch aus. Nahm mich in den Arm und küsste mich zärtlich auf die Stirn. Aber oft verabschiedete er sich mit einem letzten Gruß aus dem geöffneten Fenster und fuhr weiter. Wann wir uns das nächste Mal sehen würden, wusste ich nie. Diese Frage habe ich nie zu fragen gewagt.
Ob es der fremden Frau, unten auf der Strasse ähnlich geht? Nein, warum sollte es. Vielleicht kennen sie sich noch nicht lange genug. Vielleicht war es ihre erste Verabredung. Es gibt viele Gründe warum einer aussteigt und einer weiterfährt, nicht wahr? Jetzt haben sie aufgehört zu reden. Küssen sie sich? Ich weiß es nicht. Oder wissen sie vielleicht einfach nicht mehr, was sie sagen sollen. Schweigen sie deshalb. Vielleicht stehen sie sich gegenüber, schauen sich in die Augen und können das, was sie fragen wollen nicht fragen. Fragt man bei der ersten Verabredung schon, ob der Andere noch bleiben möchte? Sagt man sich, wenn man sich noch nicht lange kennt, wie schön der Abend war? Das man den Anderen noch nicht gehen lassen möchte? Wie lange muss man sich kennen, wie vertraut muss man miteinander sein, um dem Anderen zu zeigen, dass man seine Nähe genießt? In diesem Augenblick wünschte ich, ich könnte diese Frage beantworten. Er hat es mir noch nie gesagt.
Ich ziehe mir meine Decke über die Schultern und mache mich ganz klein in diesem Bett. Die Knie fast bis zur Brust herangezogen, merke ich das ich mich verkrieche. Wenn ich noch wach bin, höre ich die Geräusche von draußen.
Wenn ich noch wach bin, höre ich die Frau, die über uns wohnt. Ich kenne sie kaum, aber in letzter Zeit wird sie mir immer vertrauter. Ich höre sie sehr oft. Ich weiß, dass ich längst schlafen sollte, muss ich doch morgen früh wieder aufstehen. Sein Wecker klingelt um sechs. Dann beginnt der Tag für mich. Ich stehe auf, wasche mich, ziehe mich an. Er mag es nicht, wenn ich noch im Nachthemd herumlaufe, wenn er aufsteht. Früher, als ich noch alleine hier gewohnt und noch studiert habe, da habe ich mich oft erst mittags angezogen. Ich habe im Nachthemd gefrühstückt, die Zeitung gelesen, aufgeräumt, meine Hausarbeit erledigt und gelernt. Jetzt stehe ich morgens um 6 Uhr 15 fertig angezogen in der Küche, koche Kaffee und schmiere Brote.
Ich mag gar keinen Kaffee.
Er trinkt seinen Kaffee und liest die Schlagzeilen in der Tageszeitung. Ich kann mich gar nicht erinnern, ob wir uns jemals morgens unterhalten haben.
Er sagt, er braucht dann seine Ruhe. Muss den ganzen Tag mit wichtigen Leuten reden. Da reicht es ihm, die Zeitung anzulesen. Manchmal klingelt das Telefon. Ich sage dann, dass er schon auf dem Weg zur Arbeit ist. Ich lüge nicht gerne. Er hat mir einmal gesagt, dass er nicht den ganzen Tag, von morgens bis abends arbeiten kann, wenn er nicht wenigstens morgens ein bisschen Ruhe hat. "Ein paar Zeilen in der Zeitung und eine Tasse Kaffee, ohne das einen dabei Jemand anspricht. Ohne das ich irgendwelchem belanglosen Zeug zu hören muss. Das ist doch nicht zu viel verlangt!" Ich wüsste gar nicht, was ich ihm erzählen wollte.
Ohne weiter über die Bedeutung dieser nächtlichen Gedanken nachdenken zu können, werde ich aus ihnen herausgerissen. Die Heftigkeit meines Erschreckens wundert mich, habe ich doch gar nicht bemerkt, wie sehr ich mich in meinen Gedanken verloren habe. Jetzt höre einen Schlüssel in unserem Schloss und liege wieder eng zusammengerollt in unserem Bett. Sein Auto habe ich gar nicht gehört. Mich schlafend stellend, lausche ich auf die Geräusche in der Diele. Ich höre wie er seine Tasche abstellt und zum Badezimmer geht.
Wie immer lässt er die Tür auf. Ich höre seine Kleidung auf den Boden fallen und weiß dass ich sie morgen dort aufheben werde. Dann rauscht die Toilettenspülung laut. Ich lasse meine Augen geschlossen. Er betritt das Schlafzimmer, macht das Licht an. Warum darf er meinen Schlaf stören? "Hast du mein Hemd für morgen gebügelt?" Es muss jetzt beinahe 2 Uhr nachts sein.
Ich bügele seine Hemden immer. Vielleicht sollte ich einfach "Nein!" sagen.
Ich drehe mich zu ihm um. "Natürlich!" sage ich. An seinem Gesicht sehe ich, dass er keine andere Antwort erwartet hat. Warum fragt er dann? Warum schaut er nicht einfach in seinen Kleiderschrank? Er stellt seinen Wecker und legt sich zu mir ins Bett. "Es ist kalt draußen!" Das merke ich, als er sich unter meine warme Decke schiebt. Er umgreift mit seinen kalten Händen meine Brust, schiebt sich ganz nah an mich heran und schläft sofort ein. Jetzt ist auch mir kalt.
Und die in der Nacht gefühlte Kälte vermischt sich mit der Menschenmenge.
Ich merke, dass ich langsamer geworden bin. Und wie um meinen anfänglichen Verdacht zu bestätigen, scheint sich der Nebel, in dem ich mich bewege eiskalt um mich herum zu drängen. Hatte ich bis gerade noch das Gefühl es wären lediglich meine Gedanken, meine Gefühle vernebelt, muss ich jetzt feststellen, dass der kalte Nebel mich ganz zu umfangen scheint. Noch kann ich atmen, noch bewege ich mich weiter durch die Menschenmenge. Aber ich werde immer langsamer. Und der Nebel durchdringt meine Haut, sammelt sich in meinen Adern und macht sich unweigerlich auf den Weg zu meinem Herzen. Ich höre die Worte wieder in meinen Ohren. Wie lange ist es her, dass ich dieser Frau begegnet bin? Gerade erst? Vor einer Stunde? Mir scheinen Jahre seit dem vergangen zu sein. Hat sich doch die Zeit in meinem inneren verschoben.
Aber das kann nicht sein. Es sind ganz sicher noch keine 3 Stunden vergangen, seit er heute morgen das Haus verlassen hat. Wie immer bin ich kurz darauf auch hinaus gegangen. Was sollte ich auch zu Hause bleiben. Die Waschmaschine lief und die Betten waren gemacht. Das bisschen Geschirr spüle ich immer am Nachmittag. Dann wird die Zeit bis zum Abend nicht ganz so lang.
Und mit einer Klarheit, die mich selber erstaunt, sehe ich mich selber. So wie ich heute morgen aus dem Haus gegangen bin. Gut und teuer gekleidet. Die blaue Jacke perfekt abgestimmt auf die Farbe meiner Augen. Das Make-up?
Gerade so viel, dass es natürlich wirkt. Das sorgfältig gestylte Haar, fällt mir genau mit dem richtigen Schwung über die Schulter. Früher hatte ich alte Jeans an. Früher habe ich mich nie geschminkt. Ein paar Schritte nur und ich stehe vor meinem Auto. Eigentlich würde ich lieber laufen. Aber dafür habe ich die falschen Schuhe an. Auch wenn mir hohe Absätze mittlerweile sehr vertraut sind, auf längeren Strecken fangen meine Füße dann doch an zu schmerzen. Also bin in mein Auto gestiegen und wie so oft in Richtung Innenstadt gefahren. Ein paar neue Schuhe? Kissen für das neue Sofa?
Vielleicht eine neue Jacke? Ich soll mich ja immer dem Trend entsprechend kleiden. "Wenn du der aktuellen Mode entsprichst, sieht jeder gleich, dass du zu mir gehörst!" Was für ein doofer Satz. Sollte man nicht an anderen Dingen erkennen, wenn zwei Menschen zusammengehören? Aber da ich weiß, was von mir erwartet wird, gehe ich eben regelmäßig einkaufen. Rein in den Laden, Blicke schweifen lassen, vor der Umkleidekabine warten, eigene Sachen ausziehen, neue Sachen anprobieren, neue Sachen wieder ausziehen, eigene Sachen wieder anziehen. Nächster Laden. Viele von Ihnen sagen jetzt bestimmt, dass Einkaufen Spaß macht. Und erst recht, wenn man nur die Kreditkarte hervor holen muss, um zu bezahlen. Und dann auch noch ohne Zeitdruck. Und keine Kinder die Nörgeln oder zwischen den Kleiderständern verstecken spielen. Hat wohl alles Vor- und Nachteile, nicht wahr? Müßig darüber nachzudenken. Bin ich doch wie gewohnt von Geschäft zu Geschäft gelaufen. Habe geschaut und anprobiert. Und dann, dann bin ich dieser Frau begegnet.
Ohne es wirklich zu wollen, bleibe ich stehen. Der eiskalte Nebel hat mein Herz erreicht und dieses schickt nun Hilferufe an mein Gehirn. Es ist, als ob Jemand in mir schreit: "Weglaufen nützt dir nichts. Früher oder später wirst du akzeptieren müssen, was du gerade gehört hast. Du wirst zulassen müssen, dass dein Gehirn weiterarbeitet. Und du wirst merken, das dein Herz weiter schlägt. Auch wenn es sich wie Eis anfühlt. Warum später? Warum nicht jetzt!". Ich merke wie sich all die Menschen um mich herum schlängeln. Bloß nicht berühren, diese Frau, die da mitten im Gedränge stehen bleibt. Und während die Bewegungen um mich herum sich wieder einzelnen Personen zu ordnen, geht in mir drin alles ganz schnell. Das gerade Gesagte wird zur Wahrheit. Worte, die ich noch irgendwo zwischen Hören und Verstehen habe aufhalten können, nehmen nun ihren eigenen Weg.
Ich stehe wieder in der winzigen Boutique mit den überteuerten Designerstücken. Fühle wie meine Hand achtlos über die geschmacklosen Kleider gleitet. Spüre die Unterschiedlichkeit der Stoffe und erinnere mich, wie ich mit meinem Ärmel an einem der Kleiderbügel hängen geblieben bin und ich höre sie sprechen: "Guten Tag! Sie kennen mich nicht, aber ich erkenne sie. Ich habe ein Bild von ihnen gesehen!". Verwundert habe ich mich umgedreht. Ein Bild? "Wo?", habe ich sie gefragt. Sie hat nicht geantwortet, sondern einfach weiter geredet. "Ich habe gehofft, dass ich ihnen irgendwann begegne. Haben wir doch so viel gemeinsam. Je mehr ich von ihnen gehört habe, desto vertrauter sind Sie mir geworden. Ich wollte sie kennen lernen, aber er wollte das nicht! Warum habe ich gefragt. Wenn ihr doch so gute Freunde seid, warum darf ich sie dann nicht kennen lernen, habe ich ihn gefragt. Meinst du sie wird mich nicht mögen? Aber ich denke schon, dass sie mich mögen werden, nicht wahr?" Wieso sollte ich diese fremde Frau mögen?
Was hatten wir gemeinsam? Aber ich bin gar nicht dazu gekommen nachzufragen, sie hat einfach weiter geredet: "Ein bisschen gewundert habe ich mich anfangs schon, dass ihnen das so gar nichts ausmacht. Ich glaube mir würde das nicht so einfach fallen. Wenn man sich noch eine Wohnung teilt, meine ich. Aber das ändert sich ja jetzt bald, nicht wahr? Ist dann vielleicht doch angenehmer für sie. Und wo wir doch so nahe beieinander wohnen, vielleicht könnten wir uns ja wirklich anfreunden. Ich meine, wo sie beide sich doch noch so ausgezeichnet verstehen. Ich habe ja nie Kontakt zu meinen Exfreunden gehalten, aber wenn das so gut klappt, dann ist das doch toll, nicht wahr? Und wo sie doch keine Kinder kriegen können... ich bin ja jetzt bald zu Hause. Lange dauert es ja nicht mehr. Und er freut sich schon so, nicht wahr? ...". Wie in einen Strudel gezogen habe ich mich gefühlt. Eine innere Stimme in mir hat laut gerufen: "Hör nicht zu, dreh dich um. Sie verwechselt dich." Aber ich habe es nicht geschafft. Bin nicht weitergegangen. Ich bin stehen geblieben und habe zugehört. Mein Blick ist auf ihren Bauch gefallen. Der Bauch einer Schwangeren. Lange würde das Baby nicht mehr auf sich warten lassen. Auch jetzt lege ich ohne nachzudenken meine eigene Hand auf meinen leeren Bauch. Kinder, ein Baby... Noch nicht!
Ich muss erst meine Position in der Firma festigen. Ein Kind will ja auch ernährt werden. Sei vernünftig. Warte bis der Zeitpunkt richtig ist. Hat er wirklich recht gehabt? Und in diesem Moment habe ich dieser fremden Frau in die Augen geschaut. "Fremd für wen?", habe ich mir gedacht, denn in diesem Moment habe ich begriffen. Ich weiß, dass ich meinen Kopf ein wenig schief gehalten habe. Eine Strähne meiner Haare ist mir ins Gesicht gefallen. Ich habe meine Hand gehoben, sie beiseite geschoben, diese Strähne. Ich habe sie angelächelt, diese Frau. Ich habe sie tatsächlich angelächelt und gefragt:
"Mein Mann freut sich auf ihr Baby? Das hat er mir gar nicht erzählt." Blass ist sie geworden diese Frau. Ihre Hand hat sich schützend vor ihr Baby gelegt. "Ihr Mann?", hat sie gefragt. Ich weiß jetzt wirklich nicht, warum ich mir in diesem Moment so sicher gewesen bin. Eigentlich haben ihre Worte gar nicht gereicht, um mir die ganze Wahrheit zu verdeutlichen. Und doch, ich habe sie verstanden diese Frau. Ich habe ihre Worte gehört und mein Gehirn hat sie verstanden. "Ja! Mein Mann! Über den reden wir doch, nicht wahr? Das ist doch das, was wir gemeinsam haben, oder? Wann haben sie gesagt, ziehen sie zusammen? Wann wird es für mich angenehmer?" "Ich habe nicht gewusst, dass Sie verheiratet sind!" Und wieder habe ich sie angelächelt: "Und ich habe nicht gewusst, dass es Sie gibt!"
Dann endlich habe ich mich umdrehen können. Wie ich aus dem Geschäft herausgefunden habe, weiß ich jetzt nicht mehr. Meine Welt war zusammengebrochen.
Eine zufällige Begegnung! Ein paar Minuten. Und alles war anders. Nichts kann bleiben wie es ist, wenn einem der Boden unter den Füßen weggerissen wird. Alles verliert sich ins bodenlose. Die Zeit verliert ihren Sinn. Es gibt diesen einen Moment, diesen winzigen Augenblick, in dem man sie hört die Wahrheit. Und dann beginnt man zu laufen. Fort, nur fort. Sie soll mich nicht treffen. Nicht mein Herz. Man taucht ein, in einen dichten Nebel.
Menschen vermischen sich zu einer grauen Masse. Man fühlt nicht mehr. Die innere Uhr bekommt einen anderen Rhythmus. Sie wird so langsam, dass sie einen gar nicht treffen kann die Wahrheit. Außerhalb des eigenen Körpers ist bestimmt alles normal. Worte werden gesagt und Worte werden verstanden. Aber die Wahrheit, der man zu entfliehen versucht, die kann einen nicht treffen, weil man seine eigenen inneren Funktionen so verlangsamt, dass jedes gesagte Wort im Kopf als Wahrheit erkannt wird, aber Unendlichkeiten braucht, um von dort zur Erkenntnis im Herzen zu werden. Und mit diesem Wissen rennt man weiter. Immer weiter. Nur nicht stehen bleiben. Atmen und laufen. Nichts fühlen. Nur Nebel. Nichts denken. Nur weiter. Man weiß die Wahrheit. Das Gehirn hat sie erkannt. Aber noch hat sie das Herz nicht erreicht. Man muss nur weiter laufen. Weiter laufen und eintauchen in den Nebel zwischen den Zeiten. Den Nebel, der das Jetzt hinauszögert. Der es möglich macht den Weg vom Gehirn zum Herzen ins Unendliche zu verlängern, weil die inneren Funktionen, verlangsamt werden. Und dann wird einem bewusst, dass man gar nicht existieren kann, wenn die innere Zeit sich so verlangsamt. Man kann so nicht existieren, fließt doch auch das Blut viel zu langsam durch den Körper. Und mit diesem Wissen wird man langsamer. Rennt nicht mehr. Und je langsamer man wird, desto deutlicher wird alles. Und dann bleibt man stehen und spürt den Boden wieder unter den Füßen.
Mein Herz ist getroffen. Mein Mann bekommt ein Kind von einer anderen Frau.
Mein Mann zieht mit einer anderen Frau zusammen. Mein Mann zieht aus meiner Wohnung aus. Und ich greife zu meinem Handy und wähle seine Nummer. "Danke!", sage ich. "Danke, dass du mich verlässt!" Mein Herz nimmt seinen eigenen Rhythmus wieder auf. Meinen Rhythmus. Und ich fühle mich befreit.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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