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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Am Abgrund

© Elisabeth Lichtenstern-Geibel


Als ich das Zimmer betrat, stand auf dem Tisch eine hübsche Vase mit einer roten Rose darin. Das Haus bewohnte niemand außer mir. Es kam nur die Putzfrau in Frage, die mir wahrscheinlich eine Freude machen wollte, ohne den Symbolgehalt dieser Geste zu bedenken. Doch sie war es nicht gewesen, wie sich am nächsten Tag heraus stellte, und sie wusste auch nicht, wer außer ihr und den Besitzern des Hauses noch einen Schlüssel haben könnte. Als die Rose drei Tage später während meiner Abwesenheit durch eine frische ersetzt wurde, ging ich zum Hausbesitzer, aber er konnte mir keine Erklärung dafür geben. Er lächelte mich verschwörerisch an, denn endlich hatte sich für ihn das Rätsel gelüftet - nämlich - weshalb ein in jeder Beziehung durchschnittlicher Mann wie ich, ein einsam gelegenes Haus für die Sommermonate mietet und dort allein lebt, ohne Schriftsteller, Maler oder zumindest Philosoph zu sein. Ich bin Lehrer und wie gesagt in jeder Beziehung durchschnittlich. Ich bin im durchschnittlichen Alter, Mitte vierzig, ich sehe durchschnittlich aus und ich habe durchschnittliche Interessen. Dass ich von der Landschaft hier fasziniert bin, ist ebenfalls nicht außergewöhnlich. Fast niemand kann sich ihrem Zauber entziehen. Mein Häuschen liegt einsam, mit Blick auf den See und auf das Gebirge. Hinter meinem Haus ragt die Felswand steil hinauf, und ein schmaler Weg führt rechts davon bis zu ihrer schroffen Kante. Wenn man oben ist, hat man einen Atem beraubenden Ausblick. Also dieses Haus zu sehen und mieten zu wollen, ist sicher nicht außergewöhnlich. Dort allein zu sein, war nicht von mir geplant gewesen. Ich wollte den Sommer mit meiner Frau und meinen fast erwachsenen Kindern verbringen. Wie sich herausstellte, hatten meine Kinder ganz andere Pläne für den Sommer, und mit meiner Frau hatte ich vor den Sommerferien die fast periodisch wieder kehrende Ehekrise, die in ihrer akuten Phase alles in Frage stellt. Seit die Kinder größer sind, ist meine Frau sehr aktiv. Sie macht Überstunden, besucht Kurse und trifft Freundinnen. Angeblich hält sie es zuhause nicht aus. Sie fühlt sich eingeengt, sagt sie. Es stimmt schon. dass ich mich gern zu ihr setze, wenn sie sich eine Fernsehsendung anschaut, in den Kochtopf schaue, wenn sie kocht, über ihre Schulter blicke, wenn sie beim Computer sitzt. Ich würde ihr auch gern im Badezimmer zusehen, aber da verriegelt sie die Tür. Es interessiert mich, was sie anzuziehen beabsichtigt, und ich würde sie gern dabei beraten. Natürlich will ich wissen, welches Buch sie gerade liest. Bei meiner Frau löst dieses, wie ich meine liebevolle Verhalten, leider immer wieder mir unerklärliche Krisen aus, wobei wie gesagt die letzte zwar fast überstanden war, aber sie konnte sich noch nicht vorstellen mit mir allein zwei Monate in einem einsam liegenden Haus zu verbringen. Deshalb packte sie lieber ihren Rucksack uns bereiste mit einer Freundin Südostasien.
Ich verbrachte die ersten Tage einsam und verlassen in diesem Haus. Aber gerade als ich mich mit mir selbst arrangiert hatte, meine Tage mit Einkäufen , Spaziergängen, Wanderungen, schwimmen, lesen und fernsehen verbrachte, mir meine Frau liebevolle Sms zu schicken begann, geschah der Vorfall mit der Rose.
Am nächsten Tag, ich saß in meinem Gärtchen, es war winzig, aber man benötigte, dank der Wiesen und Wälder ringsum, nicht mehr. Also ich saß im Liegestuhl im Schatten eines Baumes und las. Im Rücken spürte ich die massige, steile Felswand. Ich legte das Buch weg stand auf und betrachte wie schon des Öfteren den Berg voller Ehrfurcht. Da entdeckte ich auf dem steilen Weg eine menschliche Gestalt, eine Frau, denn sie trug einen wadenlangen Rock, und ihre scheinbar blonden Haare wehten im Wind. Eine junge Frau nahm ich an, denn sie lief fast den Berg hinauf. Ab diesem Tag beobachtete ich die Frau immer zur selben Zeit, falls ich im Haus war und ich stellte in meiner Fantasie einen Zusammenhang mit ihr und meiner immer frischen Rose her. Ich muss gestehen, dass mich diese romantischen Vorstelllungen sehr berührten und ich begann extra zuhause zu bleiben, um meine "heimliche Verehrerin" zu beobachten. Diese Gefühle, die ich ein paar Tage hegen und pflegen durfte, fanden ihr jähes Ende, als Rosi, die Putzfrau, wieder kam. Ich zeigte ihr die Frau auf dem Berg, und Rosi war zunächst sehr erstaunt Frau Jakobs, wie Rosi sie nannte, zu sehen, denn die war seit cirka fünfzig Jahre nicht mehr auf dem Berg gewesen. "Im Übrigen sei das keine junge Frau", sagte mir Rosi. "Frau Jacobs geht auf die achtzig zu. Sie war Tänzerin gewesen, eine berühmte, und deshalb ist sie noch so beweglich. "Wissen Sie, ihr Mann ist von dort oben abgestürzt", sagte mir Rosi, wobei sie zum Schluss flüstere, so als sollte es Frau Jakobs auf gar keinen Fall hören können. " Komisch, dass sie jetzt dort hinauf geht", murmelte sie weiter vor sich hin. Ich brauchte nicht lang, um meine Enttäuschung bezüglich meiner Romanze zu verkraften, und als das geschehen war, packte mich die Neugier, Frau Jakobs betreffend. Ich fragte Rosi so gut es möglich war aus. Die sagte mir, auch alles nur aus zweiter Hand zu wissen, denn als das Unglück passierte, war sie ein Kind gewesen. Sie weiß nur das, was damals die Leute redeten. Jedenfalls erfuhr ich, dass Frau Jakobs und ihr Mann in meinem Häuschen gewohnt hatten. Dass sie schrecklich verliebt ineinander waren. Frau Jakobs habe nach der Hochzeit nie mehr öffentlich getanzt, aber sie tanzte jeden Tag für ihn. Sie haben einige Jahre in dem Haus gewohnt. Sie hatten wenig Kontakt zu anderen Leuten, denn sie waren sich selbst genug. Man sah sie immer eng umschlungen. Bei Vollmond fuhren sie in der Nacht mit dem Boot auf den See hinaus und sie stiegen jeden Tag den Berg hinauf. Sie küssten und umarmten sich oben leidenschaftlich. Zum Abschluss ihrer Schilderung schaute mich Rosi forschend an und meinte, dass ich eine gewisse Ähnlichkeit mit Herrn Jakobs hätte, wenn sich in ihrer Erinnerung nicht täuscht. " Aber ich dachte, sie wären jung gewesen", erwiderte ich erstaunt. " Sie war jung, er nicht.", sagte Rosi ohne Kommentar.
Am nächsten Tag, als ich im Dorf zu Mittag aß, setzte sich der Gemeindearzt zu mir und fragte, ob es stimme, dass Frau Jakobs jeden Tag auf den Berg gehe. "Ja", sagte ich. "Wenn ich zu hause bin, sehe ich sie jeden Tag". " Wissen Sie, seit dem tragischen Tod ihres Mannes, war sie nie wieder dort oben. und sie spricht seit damals kaum etwas, aber wir mögen sie im Dorf, denn sie ist ein guter und freundlicher Mensch. Sie lebt mit ihrer Schwester hier, aber einen Teil des Jahres, verbringen sie am Meer oder sonst irgendwo. Sie ist kerngesund, und ihre Kondition ist durch ihr tägliches Tanztraining für ihr Alter ausgezeichnet. Ich bin sozusagen der Hausarzt, aber ich habe fast nichts zu tun für die beiden Damen. Aber seit sie das Haus bewohnen, wobei ihr andere Mieter nie auffielen, seit Sie das Haus bewohnen, wirkt sie gehetzt und nervös. Ihre Schwester rief mich letzte Woche zu ihnen, um ihr etwas Beruhigendes zu verschreiben." Ich erwähnte die Rose nicht. Vielleicht waren die Vermieter diskret gewesen oder es gab gar keinen Zusammenhang.
Als ich jedoch am nächsten Nachmittag nach einem ausgiebigen Spaziergang nach Hause kam, erwartete mich nicht nur eine frische Rose, sondern mit ihr Frau Jakobs. Natürlich war ich überrascht, aber noch mehr überraschten mich die folgenden Geschehnisse.
Zuerst zeigte sie mir den Hausschlüssel, um mir die Sache mit der Rose zu erklären. Sie steckte den Schlüssel wieder in ihre Handtasche. Danach nahm sie mich an den Händen führet mich zum Lehnstuhl und setzte mich hinein. Sie legte eine von ihr mitgebrachte Langspielplatte auf, ich kannte das Stück nicht, und es befremdete mich anfangs. Sie zog die Wandersandalen aus. Mir fielen ihre hübschen Füße auf. Sie begann zu tanzen, für mich. Bei all dem sprach Frau Jakobs kein Wort und ich war zu verblüfft, um etwas sagen zu können. Die Verblüffung steigerte sich langsam in Ergriffenheit, je länger ich die Musik hörte und ihr beim Tanzen zusah. Im Normalfall wäre es mir peinlich, würde eine Frau speziell für mich tanzen, aber die Situation war für mich so weit jenseits des Normalen und hatte mit meiner Person gefühlsmäßig gar nichts zu tun, dass ich mich dem Schauspiel bedingungslos hingeben konnte, und es ergriff und bezauberte mich. Es war nicht die alte Frau, die tanzte, es war etwas in der alten Frau, das tanzte und das nahm mich gefangen.
Der Tanz war zu Ende. Frau Jakobs nahm die Rose aus der Vase, das Wasser tropfte zu Boden, aber das war unwesentlich. Sie gab mir die Rose, und ich wusste instinktiv was zu tun war. In tiefster Verehrung für ihre Kunst, überreichte ich ihr die Rose. Sie hielt sie einige Sekunden im Arm wie ein Baby, nickte dann zum Dank leicht mit dem Kopf und beendete die Szene plötzlich, indem sie die Rose zurück in die Vase steckte, ihre Sandalen anzog und mich bei der Hand nach draußen zog. Wir gingen schweigend nebeneinander bis zum Fuß des Berges und stiegen hinter einander, sie vor mir mit ihren grazilen Bewegungen und den flatternden weißen Haaren, den Berg hinauf, bis wir vor dem Abgrund standen. Die Landschaft lag vor uns im späten Nachmittagslicht, und da ich mit keiner Umarmung und keinem Kuss meinen Gefühlen Ausdruck verleihen konnte, liefen mir die Tränen über die Wangen beim Anblick dieser Schönheit.
Dieses schweigende Schauspiel wiederholte sich von nun an täglich, und ich fieberte jeden Tag mehr ihrem Erscheinen entgegen. Ich verliebte mich in all das und auch in sie, doch außer dass sie meine Hand nahm, gab es keine körperliche Nähe. Wir waren durch das gemeinsame Erleben des Erhabenen verbunden.
Ich hatte das Haus noch für drei Wochen und ich fürchtete mich vor dem Ende dieses Sommers. Wieder stiegen wir den Berg hinauf, wieder war ich wie in Trance durch die Musik, ihren Tanz und durch die Schönheit der Landschaft zu meinen Füßen. Ich stand am Rande des Abgrunds. Frau Jakobs stand schräg hinter mir. Ich spürte ihren sanften Atem in meinem Nacken. Etwas war anders, denn ich wünschte mir sehnlichst, sie würde die Arme von hinten um meine Taille legen und ihren schlanken Körper an mich schmiegen. Ich würde die Augen schließen, mich umdrehen, und sie küssen. Genau in dem Moment, als ich zum ersten Mal mit ihr auch die Lust in mir spürte, hörte ich mit ungeheurer Schärfe meinen Namen, mehr innerlich als äußerlich. Überrascht drehte ich mich um, und Ich sah ihr altes vom Hass verzehrtes Gesicht und ihre erhobene Arme wie zum Stoß. " Ich bin nicht dein Mann!", sagte ich leise. Sie ließ die Arme sinken. Ihr Gesicht entspannte sich langsam und der stechende Blick ihrer blauen Augen wurde wieder sanft. "Ich weiß", antwortete sie.
Wir gingen schweigend hinunter. Zu unserem letzten Abschied vor dem Haus umarmte ich sie. Sie legte ihre Wange an meine, und so standen wir eine Weile, bis sie sich von mir löste. Sie kramte in ihrer Tasche bis sie den Schlüssel fand, den sie mir gab und dabei fest meine Hand drückte. Danach drehte sie sich um und ging davon.
Ich sperrte die Tür mit ihrem Schlüssel auf. Benommen ließ ich mich im Lehnstuhl nieder. Ich schloss die Augen. Im Geiste hörte ich die Musik und sah Frau Jakobs tanzen. Ich weiß nicht wie lange ich so da saß. Das Klingeln meines Handys weckte mich aus meiner Träumerei. Ohne zu schauen nahm ich den Anruf entgegen. Meine Frau klang fröhlich. "Ich versuch Dich seit Stunden zu erreichen" - sie übertreibt gerne - "Wenn es dir Recht ist, komme ich übermorgen."
Es war mir nicht nur Recht, sondern ich freute mich. Gleichzeitig wusste ich, etwas in mir und meiner Liebe zu meiner Frau hatte sich verändert.



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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