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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Prüfungsstress

© Harald Jacobsen


Roger geriet langsam aber sicher in Panik. Heute sollte er sein Physikexamen schreiben und er kam einfach nicht zur Uni. Die S-Bahn fuhr definitiv in die falsche Richtung, obwohl er richtig eingestiegen war. Was war nur los? Dann hatte er endlich die Bahn verlassen und war losgerannt, doch erst konnte er überhaupt keine Straßenschilder entdecken und dann waren sie völlig unleserlich. Er stand völlig ratlos vor einem dieser Schilder und versuchte den Namen aus zu sprechen. "Essartsnietsnreb" Was sollte das bloß heißen? Wo war er? Wie viel Zeit blieb ihm noch bis zur Prüfung?
Mit einem dumpfen Knall landete Roger auf dem Boden. Einen Augenblick lang blieb er orientierungslos liegen. Nach und nach realisierte er seine Umwelt. Mein Gott! Die unglaubliche Jagd ließ seinen Puls immer noch heftig rasen. Wie war er nur in diese seltsame Straße geraten? Roger wollte seine Beine ausstrecken, doch die waren gefesselt. Sofort schoss seine Pulsfrequenz wieder in die Höhe. Panisch strampelte er mit den Beinen, bis sich ein Fuß tatsächlich frei bewegen ließ. Er rollte sich auf die linke Seite und stieß sich mit beiden Händen vom Boden ab. Wieso fühlte sich der Straßenbelag wie Holz an?
Roger kam taumelnd auf die Beine, machte einen unbeholfenen Schritt zur Seite und krachte gegen einen Gegenstand. Keuchend entwich der angehaltene Atem, seine Hüfte brannte wie Feuer! "So eine Scheiße!" Schlagartig löste sich sein benommener Zustand und Roger konnte seine Umgebung einordnen. Besonders den Gegenstand, der für den heftigen Schmerz in seiner rechten Hüfte verantwortlich war. Sein Nachtschrank! Jetzt klärte sich natürlich auch die seltsame Straßenbeschaffenheit. Er war aus dem gemütlichen Bett auf seinen Holzfußboden gefallen. Diese ganze unglaubliche Geschichte war zum Glück nur ein dummer Traum gewesen! Erleichtert sank der Physikstudent auf sein Bett, wobei seine Beine sich fast wieder von der verschwitzten Bettdecke einfangen ließen.
"Essartsnietsnreb?" murmelte Roger kopfschüttelnd. Dieser Straßenname hatte doch wirklich auf dem Schild gestanden. War es wirklich ein Straßenschild? Was für eine Sprache sollte solch einen Zungenbrecher hervorbringen? "Walisisch oder Gällisch. Vielleicht noch Bretonisch, was soll`s! Mensch sei froh, dass dieser Wahnsinn nur ein Traum war!" beruhigte Roger sich selbst. Seine Zunge klebte nahezu am Gaumen. Er war völlig ausgetrocknet. Auf dem mit Büchern und Papieren übersäten Schreibtisch stand noch eine halbvolle Mineralwasserflasche. Er warf die Bettdecke von sich und trottete zum Schreibtisch, schraubte die Flasche auf und trank in langen, gierigen Schlucken. Sofort fühlte er sich besser. Als er die Flasche wieder abstellte, fiel sein Blick auf das geöffnete Lehrbuch. Na klar, daher dieser Alptraum. Er hatte bis tief in die Nacht für sein Examen in Teilchenphysik gebüffelt. Mit heftigen Kopfschmerzen hatte er sich lediglich eine halbe Stunde aufs Bett legen wollen und war einfach eingeschlafen. Sehnsüchtig schielte er noch einmal zum zerwühlten Bett, doch er hatte bereits genug Zeit verspielt.
Roger fröstelte im schweißfeuchten T-Shirt, zog es hastig aus. Frierend griff er nach dem Sweatshirt, das über der Stuhllehne hing. Er suchte seine Armbanduhr. Hatte er sie nicht vorhin noch umgehabt? Stirn runzelnd schob er Papiere auf dem Schreibtisch hin und her. Keine Uhr, weit und breit. "Das gibt es doch gar nicht. Wo ist das blöde Ding bloß?" Roger gab die Suche auf und ging zum Fenster. Er schob den Vorhang zur Seite und suchte die Wanduhr vom Juwelier schräg gegenüber. Es musste eine Straßenlaterne ausgefallen sein. Normalerweise konnte Roger die Uhr im Licht der nahen Laterne sehr gut ablesen. Jetzt musste er die Augen zusammen kneifen, um die Stellung der Zeiger erkennen zu können. "Zehn nach zehn? Quatsch! Muss zehn vor Zwei sein oder?" Er schüttelte ärgerlich den Kopf und ließ den Vorhang los. Noch im wegdrehen, blitzte ein Bild in seinem Kopf auf. Aus den Augenwinkeln hatte er noch ein im Halbdunkeln liegendes Straßenschild wahrgenommen.
"Tkramgrebdlog!" Roger fuhr herum und riss den Vorhang mit einer heftigen Bewegung zur Seite. So heftig, dass er am Ende aus der Schiene sprang. Hastig öffnete er das Fenster und lehnte sich bedrohlich weit vor. Ungläubig starrte er auf das halb verborgene Schild. Er las es, buchstabierte es laut, schloss die Augen, riss sie wieder auf, taumelte ins Zimmer zurück. Er stand mitten im Raum und starrte blicklos auf das geöffnete Fenster. Immer wieder schüttelte er seinen Kopf, erst ungläubig, dann zunehmend wütend. Auf einmal machte er einen langen Satz und fixierte entschieden den Punkt an der Hausecke. Das Schild hing unschuldig weiter dort im Halbdunkeln und schickte diesen unfassbaren Buchstabensalat in Rogers Augen.
Hinter ihm knallte seine Wohnungstür zu. Roger zog hastig den Reißverschluss seiner Windjacke hoch, während er seinen Zeigefinger auf den Fahrstuhlknopf presste. Er würde dieser Sache jetzt und hier auf den Grund gehen! Wo blieb nur dieser verdammte Fahrstuhl? Er drückte zum wiederholten Mal den Knopf, aber das Licht der Anzeige stand unverrückbar auf E! Roger verlor die Geduld und eilte zur Treppe. Immer zwei Stufen auf einmal überspringend, überwand er in kurzer Zeit die drei Stockwerke zum Hauseingang. Zwischendrin hatte Roger merkwürdigerweise den Eindruck, bereits vier Stockwerke überwunden zu haben. Er schob es auf seine momentane Verwirrung, da er sich der Ausgangstür näherte. Sie kam ihm etwas verändert vor, ließ sich aber mühelos öffnen. Roger stürmte auf die Straße und bremste unvermittelt ab. Er traute seinen Augen nicht! Wieso stand die Dachantenne mitten auf der Straße? Roger kreiselte langsam um die eigene Achse, seine Augen weigerten sich das Gesehene anzunehmen. Schritt für Schritt tastete Roger sich vor, bis er am Rand ankam. Er sank in die Knie und beugte sich vorsichtig vor.
"Wach auf Mensch. Das kann doch nur ein Traum sein. AUFWACHEN!" sein Schrei hallte über die Dächer der Nachbarhäuser. Tastend fuhr seine rechte Hand über den Boden neben seinem Knie, bis er einige Kieselsteine spürte. Er hob sie auf und streckte den Arm mit der geschlossenen Faust aus. Langsam öffnete er die Faust und die Kiesel fielen heraus. Sie fielen fünf Stockwerke in die Tiefe! "Ich bin doch die Treppe runter gelaufen! Ich bin doch nicht verrückt!" Taumelnd kam Roger auf die Beine. Hilflos drehte er sich um und ging langsam wieder auf die Tür zu. Ein ums andere Mal wanderte sein Blick nach rechts und links. Er sah überall das gleiche Bild. Schornsteine, Antennen und vereinzelt auch Wäscheleinen. Vorsichtig öffnete Roger die Tür und spähte in den Flur dahinter.
Erschöpft lehnte er an der Fahrstuhlwand und musterte sein blasses Gesicht in dem kleinen Metallfeld, in dem ein rotes Display gerade eine 2 signalisierte. Die Treppe hatte er lieber gemieden. Der Fahrstuhl machte dieses Mal keine Zicken, Roger konnte problemlos den Knopf für den dritten Stock drücken und das Gerät zuckelte sofort los. "Ich dreh durch. Das muss der Prüfungsstress sein! Ich gehe jetzt einfach wieder ins Bett und schlaf noch ein paar Stunden. Dann geht's zur Prüfung, egal was für ein Ergebnis dabei rauskommt!" Mit einem Ruck kam der Fahrstuhl zum Stehen und die Türen öffneten sich mit leisem Knirschen. Dankbar schlurfte Roger aus dem Transportvehikel und drehte sich nach links, wo sich der Gang zu seiner Wohnungstür befand. Nach zwei Schritten blieb Roger wie angewurzelt stehen.
"Was ist hier los. Ich will das nicht. Bitte, aufhören." Fassungslos murmelte der Physikstudent die Worte in Richtung der Briefkästen im Eingangsflur. Meierbrink, Wolters, Czibulka, Seimermann. Name für Name las Roger auf den kleinen, weißen Namensschildchen. Seimermann, das bin ich. Unvermittelt schlug er mit der geballten Faust auf seinen Briefkasten ein. Heißer Schmerz raste durch Hand und Arm. "Aua, verdammt noch mal! Das gibt es einfach nicht. Wenn ich träumen würde…?" Ja, was dann? Er wirbelte herum, sprang die drei grau-grünen Steinstufen zur Eingangstür herunter und riss sie auf. Kalte Nachtluft schlug Roger ins Gesicht, seine Füße standen in einer Pfütze. Knurrend machte er einige Schritte zur Seite, hob den Blick in Richtung des Juweliers. Ohne weiter auf die Zeiger der Uhr zu achten, wanderten seine Augen zum Straßenschild. Er weigerte sich, das Gelesene zu akzeptieren. Schritt für Schritt ging er an den Häusern lang, bis er auf einer Höhe mit dem Schild stand. Aus fünf Metern Entfernung konnte er die Buchstaben endlich einwandfrei entziffern. "Tkramgrebdlog!" Mit einem verzweifelten Aufschrei warf Roger sich herum und rannte in sein Haus zurück. Keinen weiteren Gedanken fassend, raste er die Treppen hinauf, dann wieder hinab. Irgendwann stand er keuchend mitten in seinem Zimmer. Minutenlang, ohne eine Bewegung. Dann schwankte Roger zu seinem Bett und fiel einfach um.
Als Roger wach wurde, blieb ihm noch genug Zeit ausgiebig zu duschen. Wie ein Automat verrichtete er die alltäglichen Dinge, packte seine Tasche und ging zu S-Bahn. Er traf Mitstudenten, unterhielt sich mit ihnen über die bevorstehenden Prüfungen, unterband jeden Gedanken an die nächtlichen Ereignisse. Punkt zehn Uhr verteilte die wissenschaftliche Hilfskraft die Prüfungsunterlagen, verlas die Prüfungsordnung und beantwortete letzte Fragen. Dann begann die Prüfung. Roger schlug das Deckblatt zur Seite und las die erste Prüfungsaufgabe. "Definieren sie die Bernsteintheorie und erläutern sie die Umsetzung in der Teilchenphysik" In Rogers Gehirn entstanden sofort alle Lehrsätze zur Theorie von G. Bernstein und auch der Modellversuch aus der Vorlesung im Bereich Teilchenphysik war problemlos präsent. Mit Feuereifer bearbeitete Roger die Aufgabe. Gut anderthalb Stunden später ging er zur zweiten Aufgabe über. "Erläutern sie das Goldbergtheorem und seine Auswirkungen in der Teilchenphysik" Wieder sprangen alle erforderlichen Begriffe in Rogers Kopf und nur zu lebhaft konnte er sich an die Ausführungen seines Professors über die Auswirkungen des Theorems erinnern. Sein Kugelschreiber flog weitere neunzig Minuten über das Papier. Nach gut drei Stunden ging ein erschöpfter, aber sehr zufriedener Roger aus dem Prüfungssaal. Diese Prüfung hatte er ohne Zweifel sauber bestanden und das nach so einer verrückten Nacht. Vor dem Hörsaalgebäude traf Roger auf eine Gruppe heftig diskutierender Mitprüflinge. Als er auf die Gruppe zukam, drehten sich alle zu ihm um. "Mensch Roger. Das war der Hammer oder?" "Ja, allerdings. Ich war echt glücklich über die Fragen!" "Glücklich! Spinnst du jetzt komplett? Erst die Bernsteintheorie und dann noch das Goldbergtheorem? Keiner von uns hat damit gerechnet! Du etwa?"
Seltsam, jetzt wo sein Kommilitone es aussprach, da staunte Roger doch. Er konnte sich gar nicht daran erinnern, dass sie während der Vorbereitung viel über diese beiden Themen gelernt hätten. Wieso waren ihm dann die Aufgaben so leicht gefallen? Verwirrt ließ Roger die anderen Studenten einfach stehen und machte sich auf den Heimweg. Er nahm auch wieder die S-Bahn zurück und brauchte dann nur noch zwei Querstraßen zu laufen. Er bog schließlich in seine Straße ein und überquerte direkt unter der Uhr des Juweliers die Fahrbahn. An der Haustür stockte Roger, drehte sich noch einmal um. Er zögerte kurz, dann ging er ein paar Meter zurück und suchte das Straßenschild der Querstraße. Es hing genau dort, wo es auch letzte Nacht gehangen hatte. Nach einem tiefen Atemzug hob Roger den Blick und las den Straßennamen. "Goldbergmarkt" Erleichtert stieß Roger einen langen Seufzer aus und ging nun leise vor sich hin pfeifend zum Haus zurück. Er holte die Post aus dem leicht verbeulten Briefkasten und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Dort stieg er dann aus und ging die letzten zwei Stockwerke zum Dach über die Treppe. Die Dachtür ließ sich mühelos öffnen und Roger stand erneut auf dem Dach, genau wie in der Nacht. Er sah wieder die Antennen, die Schornsteine. Es fehlte allerdings die Wäscheleine. Roger kam eigentlich regelmäßig aufs Dach und genoss die besondere Atmosphäre da oben. So eine Wäscheleine hatte er vor letzter Nacht noch nie auf den Nachbardächern gesehen. An irgendetwas erinnerte Roger aber diese Leine. Dann fiel es ihm wieder ein. Als kleiner Junge hatte er seine Ferien oft bei Onkel und Tante verbracht. Sie lebten in einer anderen Stadt und seine Tante hatte ihn regelmäßig mit aufs Dach genommen, um dort ihre Wäsche auf zu hängen. Jetzt erinnerte Roger sich auch wieder an die Straße, in der seine Verwandten lebten. "Bernsteinstraße"
Roger räumte seinen Schreibtisch auf. Er hatte zur Vorsicht noch einmal die Kapitel über die "Bernsteintheorie" und das "Goldbergtheorem" gelesen. Bei der Prüfung war ihm kein Fehler unterlaufen, er hatte an die Auswirkungen durch die Spiegelungen im Wellenbereich gedacht. Auch das räumliche Umkehrungsverhalten hatte er völlig korrekt wiedergegeben. Eigentlich war alles soweit in Ordnung und Roger hätte sich zufrieden zurücklehnen können. Es gab aber eine Sache, die ihm keine Ruhe ließ. Wieso war er innerlich auf gerade diese beiden Themen so gut vorbereitet gewesen?



Eingereicht am 27. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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