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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Death Metal

© Ines Freyer


"Ja, jeden Tag über 30 Grad, war 'ne super Idee, in den Süden zu fliegen, bei diesem Scheißsommer zuhause. Palmen, Strand, alles vom feinsten. Du, die letzte Münze ist gerade durchgerasselt - ich melde mich wieder. Bis bald." Angewidert hängte Death den klebrigen Hörer in die Gabel und machte sich auf den matschigen Rückweg zum Haus seiner Oma, das etwas abgelegen von dem saarländischen Dörfchen Wahnwegen am Waldrand stand. Es nieselte inzwischen nur noch und der kühle Wind trieb ihm den modrigen Geruch von feuchtem Dung in die Nase.
Er log nicht gerne andere an, schließlich verzettelte man sich genug in den eigenen Lebenslügen, wie er fand. Und am wenigsten verdiente es Katrin. Sie wohnten seit über fünf Jahren zusammen, konnten sich alles erzählen, lebten jeweils ihr eigenes Leben und hatten in kalten Nächten nach reichlich Rotwein auch manchmal miteinander geschlafen. Er schätzte sie sehr und vertraute ihr, weil es keine Leidenschaft gab, die er hätte erwidern müssen.
Oft erinnerte sie ihn an seine Oma, mit ihrer schicksalsergebenen Art. Es gab immer etwas zu essen und ein offenes Ohr, auch für seine seltsamsten Gedanken. Nur diesmal konnte und wollte er ihr nichts erzählen, weil er sich erst irgendwie zurechtfinden musste in dieser Geschichte mit Esther.
Sie ließ ihm sein bisheriges Leben wie ein Klärbecken erscheinen, in das er hinein gefallen war. Verzweifelt versuchte er, die Kackwurst zu finden, welche für seine seelische Verstopfung verantwortlich war. Deswegen hatte er sich hier in der Einöde bei seiner inzwischen völlig verkalkten Oma verkrochen. Hier, wo er nach dem Unfalltod seiner Eltern aufgewachsen war als Außenseiter, der mit der Dorfjugend nichts zu tun gehabt hatte.
Er besuchte damals das Gymnasium in der nächsten Kreisstadt und nahm morgens den einzigen Bus hin und nachmittags den anderen Bus zurück. Meistens war er allein gewesen, die Ohrstöpsel seines Walkmans in den Ohren, damit er das vermeintliche Getuschel seiner Mitschüler nicht hören musste.
Er war schon immer ein hässlicher Kerl gewesen mit großem Kopf und den Zügen eines Aborigines, die er mit den langen, verfilzten Locken zu verbergen suchte. Seine Hände waren knorrig, mit runden, dicken Fingernägeln, die sich gelblich über die Kuppen wölbten. Wegen dieses Aussehens und seiner Leidenschaft für Death Metal-Bands hatte man ihm in der Oberstufe den Namen "Death" verpaßt und er hatte ihn akzeptiert.
Das Unheimliche und Bedrohliche, was ihn umgab und selbst befremdete, wurde in diesem Namen gebannt und so behielt er ihn auch während des Studiums in der neuen Stadt bei. Er begann sogar, sich in dem makabren Image zu gefallen. Es war Schutz und machte aus seinem Dilemma eine Besonderheit . Man begann, ihn zu schätzen und er wurde als Original auf allen Parties gerne gesehen. Death war überzeugt, dass seine große Stunde eines Tages schlagen würde.
Unachtsam war er geworden und hatte alle Hemmungen über Bord geworfen.
Seine Oma hatte immer gesagt: "Ton nom, c'est plus que son son" - dein Name bedeutet mehr als sein Klang. Aber er hatte es abgetan als Geschwätz einer lieben, aber wirren Greisin aus dem Bergland Lothringens. Ihren Aberglauben und die romantischen Zeilen aus den alten, französischen Chansons hatte sie ihm mitgegeben. Den Glauben an die unerfüllbare Sehnsucht nach der leidenschaftlichen, also wahren Liebe. Sein leiblicher Großvater hatte der Oma zum Kriegsende eine Gefallenenurkunde hinterlassen und ihre Zukunft in Wahnwegen. Hier musste sie die taufrische Schwangerschaft in einer lebenslangen Ehe zu seinem Opa vertuschen, ohne je den anderen vergessen zu können.
Auch Death würde Esther niemals vergessen. Was für ein unfassbares Mädchen. Zart gebaut mit feinen Zügen, doch gleichzeitig mit allen Wassern gewaschen. Er bewunderte sie seit dem ersten Semester, aber er wagte es nicht, sich ernsthafte Hoffnungen zu machen. Es genügte ihm, dass sie beide Menschen waren, die auf Parties kein Ende finden konnten und er erinnerte sich gerne an die gemeinsamen Wankereien durch die frühmorgendliche, menschenleere Stadt. "Wie die letzten Überlebenden", hatte sie einmal gesagt und er begnügte sich damit, zumindest in diesem Sinne zu ihr gehören zu dürfen.
Auf der letzten Party hatten sie sich ein Gramm Koks geteilt und ihre Augen blitzten interessiert auf, als er sich seinen Teil in einer Spritze aufzog. Danach glaubte er in seinem Wahn, sie müsse seine Leidenschaft erwidern. Doch mit verachtendem Blick hatte sie gezischt, er solle seine widerlichen Klauen von ihr wegnehmen. Er war zu weit gegangen. Doch war ihm Zurückweisung vertraut und kein nachhaltiges Hindernis und so hatte er auch diese Warnung überhört.
Und, siehe da, bei der nächsten Begegnung entschuldigte sie sich für ihr schroffes Benehmen und fragte, ob er mit ihr zur Party von Manne Bohlert gehen wolle. Selbstverständlich wollte er das und sie verabredeten, dass er sie am übernächsten Abend gegen acht bei ihr zuhause abholen würde.
Noch heute fühlt er die reißende Nervosität jener beiden Tage vor diesem Rendez-vous. Daheim hielt er es nicht aus.
Katrin war bei einer Freundin in Berlin und ohne sie konnte er seine fast panische Unsicherheit nicht in Worte fassen .
Wie getrieben war er in der Wohnung und im Viertel herumgestrichen, konnte sich weder auf seine Arbeit noch auf irgendeine Zerstreuung konzentrieren. Er ahnte es und fürchtete sich gleichzeitig davor, dass nun der große Augenblick seines Lebens gekommen war.
An jenem Abend fand er Esther schöner denn je, und die Traurigkeit in ihrem Gesicht schien ihm vertraut wie eine ästhetische Variante seines eigenen Spiegelbildes, damals im winterdunklen Busfenster.
Sie redeten ein bisschen über das Studium und was wohl danach kommen würde bei einer Flasche Cremant, die er zur Einstimmung mitgebracht hatte.
Ihr Blick war leicht verhangen und er überlegte noch, ob sie wieder irgendwas genommen hatte, als sie mit erregter Stimme fragte, ob er ein Geheimnis für sich behalten könne.
Sie habe kürzlich erfahren, dass sie zuckerkrank sei und die Handhabung falle ihr schwer, zumal sie den Eindruck habe, der Alkohol sei ihr nicht gut bekommen.
Death eilte zu dem Sofa, auf dem sie wie hingegossen lag und fragte, wie er ihr helfen könne. Ihre Stimme klang angenehm leise und dunkel: "Ich brauche mein Insulin", antwortete sie, "aber ich habe keine pens mehr und bin zu daneben, um es mir selbst injizieren zu können." Er wollte einen Arzt rufen, doch sie winkte ab. "Bloß nicht," meinte sie, "dann können wir die Party vergessen."
Das wollte er auf keinen Fall verantworten und war es nicht ein besonderes Zeichen, ihr diesen Gefallen tun zu können? Sie suchte die Einwegspritze und eine Ampulle aus ihrer Handtasche. Fahrig riss sie die Verpackung auf, zog Luft durch die Kanüle und presste sie in die Ampulle. Die Spritze füllte sich durch den Unterdruck mit dem milchigen Medikament. Gebannt schaute Death ihr zu. Esther klopfte etliche Male dagegen. Es war noch erregender als seine ersten Drogenerfahrungen.
Dann streifte sie die mit einem schüchternen Blick die Hosen bis zu den Knien herunter und desinfizierte eine Stelle auf der Außenseite ihres Oberschenkels: "Es kommt aber unter die Haut, o.k."
Er war benommen von der Erotik dieses Augenblicks, in dem sie ihn mit erwartungsvollem Blick gewähren ließ. Entschlossen umfasste er den zitternden Muskel und ließ das spitze Metall hineingleiten. Vorsichtig drückte er ab und schaute ihr in die Augen, deren Lider leicht flatterten.
Sie hielt seine Hand noch ein paar Sekunden fest und drückte sie dann behutsam weg. Eine Weile schwiegen sie beide.
Esther legte sich seufzend zurück: "Danach bin ich immer sehr müde. Ist scheinbar normal am Anfang. Lass mich ein bisschen schlafen, vor elf ist bei Manne eh noch nichts los." Dann nickte sie tatsächlich ein. Death betrachte das Mädchen. Sie war unglaublich, noch krasser als er sich selber empfand. Seine Unruhe der letzten Tage wich einer angenehmen Müdigkeit. Er hatte sich lange nicht mehr so wohl gefühlt wie in der kleinen, verspielten Wohnung von Esther. Es war wie nach Hause kommen. Dann musste er eingeschlafen sein.
Kurz vor Mitternacht wachte er wie benommen auf. Als er sie wecken wollte, stellte er fest, dass sie tot war. Panisch schüttelte er sie und durchwühlte das Täschchen auf der Suche nach einem Diabetikerausweis oder weiterem Insulin oder sonst irgendeinem Hinweis. Aber da war nur ein handschriftlicher Zettel:
Tut mir Leid, Death. Es ist nichts wahr an der Diabetes.
Ich finde dieses Leben öde, aber ich schaffe es nie allein, das Notwendige zu tun. Man kann niemanden um Hilfe bitten.
Aber ich wusste, dass du der Richtige sein würdest.
Danke. Esther.



Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.



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