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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die Liebe die du gabst

© Ingar É. Wenzel


Das Jahr 1998 hielt viele Schlüsselerlebnisse parat, in deren Windschatten ich die Welt ein Stück weit anders sah. Im Mai begleitete ich meine Eltern durch das südliche Afrika, dessen Farben und Düfte bezaubern. Ich erfuhr, mit wie wenig viele Bewohner auskommen müssen und lernte freundliche Menschen kennen. Stark beeindruckt war ich von der schier unendlichen Weite, die mir vor allem auf einem Hügel nahe der Etoscha-Pfanne in Namibia gewahr wurde. Die Tier- und Pflanzenwelt war grandios und am meisten bewunderte ich die großen, mächtigen Elefanten. Doch das ist eine andere Geschichte.
Leider kommt nach einem Hoch gelegentlich eine Talsohle. Für unsere Familie war es eine sehr tiefe Schlucht, denn im Sommer erkrankte meine Mutti an einem bösartigen Tumor. Das war ein schlimmer Schock und für mich ein Zeichen nun endgültig erwachsen werden zu müssen.
Mutti war für uns alle diejenige, welche der Familie mit ihrer Liebe und Fürsorge Geborgenheit und eine Heimat gab. Nichts schien ihr zu mühselig und zu schwer. Sie versuchte all ihre Kräfte ein zu setzen und ihre eigenen Bedürfnisse hintenan zu stellen, um uns glücklich zu machen. Dass unsere ausländischen Freunde sie ebenfalls Mutti nannten, erfüllte uns mit Stolz, war es doch eine recht umfassende Aussage über ihre starke und warmherzige Persönlichkeit. Wie in jeder Familie, gab es auch bei uns Auseinandersetzungen und da war es Mutti, die beschwichtigend und ausgleichend eingriff, denn sie sehnte sich nach Harmonie. Sie machte so vieles möglich und somit war sie für uns der Mittelpunkt unseres Mikrokosmos. Ich liebte meine Mutti, ich konnte mich stets auf sie verlassen und jetzt wollte ich alles in Bewegung setzen, um sie fröhlich zu machen. ‚Vielleicht hilft ihr das ja, um wieder gesund zu werden', dachte ich.
Am Wochenende nach ihrer Operation tauschte ich meinen Dienst und telefonierte mit der Station, auf der meine Mutti sich befand. Die Schwester versprach mir, nicht zu verraten, dass ich komme, aber Vati gegebenenfalls aufzuhalten, bis ich bei ihnen bin. So fuhr ich über drei Stunden mit dem Zug, welcher zum Glück kaum Verspätung hatte, um meine Mutti zu besuchen. Ihre Freude über mein Erscheinen war riesig und dass sie sich freute, freute mich.
Die darauf folgenden Bestrahlungen und Chemotherapie ließ sie geduldig über sich ergehen. Sie beklagte sich nicht, sondern versuchte immer das Beste daraus zu machen. Sobald sie sich ein kleines bisschen besser fühlte, war sie voller Tatendrang. Sei es den Haushalt zu schmeißen oder mit Vati eine Ausstellung zu besichtigen, sie wollte dabei sein.
Dass ich mich verändert hatte, bemerkte ich einige Zeit später bei einen Gespräch mit einem Freund. Nachdem er sich kurz nach dem Befinden meiner Mutti erkundigt hatte, wurde zur Tagesordnung zurückgekehrt. Das ewige Hin und her zwischen ihm und seiner Mutter kannte ich
in- und auswendig. Diesmal versuchte ich nicht diplomatisch zu sein, ich sagte ihm ganz klar meine Meinung. Wenn ich mit einer Situation Probleme hätte, dann müsse ich etwas daran ändern. Würde ich mich von meiner Mutter bevormundet fühlen und Gespräche führten zu nichts, sollte ich besser nicht bei meinen Eltern wohnen. Genauso brächte Lamentieren einen ebenfalls wenig weiter und überhaupt, jemand der oft genug seinen hohen IQ heraus hängen ließe, müsste genügend Ideen haben, um selbstständig zu werden. Nun, an diesen Tag regte es mich wahnsinnig auf. ‚Die Intelligenz eines Afrikaners, der aus Nichts sein Überleben meistert, muss gewaltig sein. Wahrscheinlich hat das Gros auch gar keine Zeit, sich zu bemitleiden. Und Mutti, nach einer solchen Diagnose hätte sie allen Grund dazu, und was macht sie, schmiedet Pläne!' dachte ich.
Nach ihrer Genesung im Jahr 2000 flogen Vati, Mutti und ein befreundetes Tierarztpaar wieder nach Namibia zu den gigantischen Elefanten, zu unserer namibischen Schwester Lahja und ihrer Familie.
Während Lahja in der Stadt arbeitet, lebt ihre Familie noch traditionell auf dem Land und das Wichtigste neben der Gesundheit ist der Regen, die Ernte und die Tiere. Muttis Erkrankung schien besiegt.
Wie schön wäre es, zu Muttis Geburtstag Roger Whittaker auftreten zu lassen. Mutti war ein Fan von ihm (welche Mutter nicht) und als ob mein Wunsch erhört wurde, las ich in der Zeitung, dass er ein Konzert in ihrer Nachbarstadt gab. Vati erhielt die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Mutti weder etwas von dem Auftritt mitbekommt, noch Karten kauft, denn das war schon erledigt.
Mutti war verdutzt, als ich ihr den Umschlag gab und sagte, sie könne dorthin mitnehmen, wen sie möchte. Sie traute ihren Augen kaum als sie zwei Karten für ihren Roger Whittaker in den Händen hielt. Sie war so überglücklich, dass sich Freudentränen ihren Weg bahnten und sie sich fast überschlug mit Umarmungen und Küsschen.
Doch noch in derselben Woche erreichte uns die Hiobsbotschaft: ‚Der Krebs hat uns wieder.' Es traf uns alle wie ein Schlag und jeder, der diese Krankheit kennt, weiß wie heimtückisch sie ist. Ein Rückfall, egal bei welcher Erkrankung, bedeutet nie etwas Gutes. Diesmal war er sehr aggressiv und wuchs pro Tag um einen Zentimeter. Mutti kam wieder unter's Messer, mit anschließender Behandlung, welche abermals ihre Haut verbrannte und ihre Haare ausgehen ließen. Unsere gesamte Familie, Freunde und Ärzte versuchten Mutti, bei ihrem Kampf zur Seite zu stehen und durch ihren Optimismus ließ sie in ihrer Gegenwart nie Traurigkeit aufkommen. Die Angst kam, wenn wir alleine waren, manchmal kroch sie lautlos heran und schnürte die Kehle zu oder sie überrollte einen wie ein Tsunami, tosend und in Windeseile.
Ich dachte, Mutti würde mit Vati oder einer Freundin zu der Veranstaltung gehen, doch sie bat mich. Für mich war es wirklich eine große Ehre, sie dorthin begleiten zu dürfen. So fuhr ich nach der Arbeit los und hoffte, dass die Bahn pünktlich ankommen möge. Mutti war bereit, in ihrem schönen, nachtblauen und mit goldenen Fäden durchwirkten, griechischen Kleid. Dieses hatte Vati ihr von einer Geschäftsreise mitgebracht. Ihre Freundin, eine Spitzenfriseurin, hatte die Perücke super gestylt, niemand wäre irgendwas aufgefallen.
So stand sie vor mir, zappelig, wunderschön und um viele Jahre verjüngt. Vorsorglich hatte ich einen Strauß Blumen besorgt, eine Möglichkeit, Mutti ihrem Star noch näher zubringen. Am Veranstaltungsort angekommen wurde sie immer aufgeregter, fasste meine Hände und ihre Augen wurden größer und größer. Dann saßen wir auf unseren Plätzen, aber Mutti war so aufgewühlt, dass sie ganz unruhig auf ihrem Sitz herum rutschte. Auf der Bühne standen einige Instrumente, Drums, ein Piano und der Hintergrund war angenehm in Blau und Grün beleuchtet. Allmählich entspannte ich mich. Endlich erschien Roger Whittaker, ein überaus freundlicher Mann mit angenehmer Stimme.
Schon die ersten Melodien ließen Muttis Herz höher schlagen. Die Dame neben ihr war auch hin und weg, ich erwartete fast, dass beide ihre Arme ineinander hakten und sich im Takte wiegten. Ob ihr damals klar war, wie enorm die Gefahr war, in der sie durch den Krebs schwebte, habe ich nie erfahren, aber in dem Augenblick verschmolz sie mit der Musik.
In der Pause vertraten wir uns die Beine und postierten uns an einer günstigen Stelle, damit Mutti die Blumen überreichen konnte. Sie zitterte vor lauter Hochspannung und gemeinsam mit einer anderen Frau ging sie nach vorn, sobald der Künstler in Rampenlicht erschien. Wie in Trance gab sie ihm das Bukett.
Nun kannte ihre Begeisterung keine Grenzen mehr. Wie in Trance gab sie sich dem Gesang des Stars hin. Auf unseren Sitzen strahlte sie mich an, ihre Wangen waren gerötet und ihre verträumten Augen leuchteten.
Sie war begeistert und kam mir wie eine 17-jährige vor. Ich blickte sie an und sah eine junge Frau, der das Schönste dieser Welt wieder fahren war. Wie aus einen Kokon entschlüpfte ein bunter Schmetterling, so verwandelt war sie. Keiner kann ermessen, wie dankbar ich für diesen Moment ihres Lebens war und bin.
Den Sommer darauf verbrachte ich mit meinen Eltern. In der letzten Woche meines Urlaubs, bei einen unseren Spaziergängen, eröffnete sie mir, welche Wünsche sie hätte, für den Fall, dass sie sterben würde.
Da ich nicht daran glaube, dass es nach dem Tod endgültig vorbei ist, hatte sie darüber wohl lieber mit mir als mit Vati gesprochen. Sie wollte, wie so oft, niemanden betrüben.
Sie lebte noch zehn Tage, nachdem ich sie zum letzten Mal sah. Sie hatte sich bis zum Schluss nicht ihren Lebensmut nehmen lassen und obwohl sie ahnte, dass der Tod sie bald in die Arme nehmen würde, hatte sie noch so viele Ziele. Erst in ihrer letzten Stunde meinte sie zum Arzt, dass sie nächstes Jahr wohl doch nicht nach Afrika reisen könnte. Seitdem vermisse ich sie schmerzhaft, ihre Wärme, ihre Herzlichkeit und ihr Lachen. Wenn mich ihr Verlust am Meisten bedrückt, denke ich zurück, an den wunderschönen Abend. Dann sehe ich es mit einen weinenden und einen lächelnden Auge. Doch in meinen Innersten lebt sie weiter. Oft frage ich mich: Was hätte sie dazu gesagt oder getan? Sie ist für mich ein großes Vorbild, ihre Selbstlosigkeit, ohne sich selbst dabei auf zu geben oder zu opfern.
Ich hoffe, dass wenigstens ein Teil von mir so wird wie sie und ich ihr Vermächtnis weitergebe - ihre Liebe.
Ein zarter Windhauch streicht über die Gräser Namibias, ein Flüstern breitet sich aus, nun ist sie befreit vom Schmerz. Sanft ziehen ein paar dünne weiße Wölkchen über den blassen Himmel, das stille Raunen der mächtigen Elefanten meinte, dass sie jetzt überall hin kann. Wohin immer sie will.



Eingereicht am 25. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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