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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Winterbegegnung

© Isabella Breier


Jedes Mal, wenn das Tageslicht wieder damit anfängt, sich selbst zurückzunehmen, sich einzuziehen, Stunde für Stunde, beginnt meine Krankheit von neuem. Sie schleicht sich um Septemberecken und Oktoberwolken und bricht auf mich hernieder mit ungeheurer Wucht, im November. Rasch breitet sich die Kälte aus zwischen meinen Sätzen und Atemzügen, und ich bemerke leidenschaftslos, dass es Zeit wird, eine Tasche zu packen und mich in Winterschlaf zu begeben. Die Sonne könnte mir nicht helfen, das Meer ermattet mich mit seiner Schönheit, und die gute Laune der Menschen dort würde mir fürchterlich auf die Nerven gehen. So lasse ich meine Rettungsmöglichkeiten beiseite, erwehre mich allen tröstenwollenden Umarmungen tröstender Wohlwollender, bespreche meinen Anrufbeantworter zu Hause mit vagen Prophezeiungen, zurückzukehren abermals im März, April, wer weiß schon, dann fahr' ich ein letztes, allerletztes Mal mit U- und Straßenbahn quer durch Wien, durch frierende Gesichter und sprießende Weihnachtsmärkte, üppig dekorierte Innenstadtgassen, die widerhallen von Glühwein und Gesprächen, bevor ich mich aufmache, die Flucht antrete ins ewige inländische Exil, in infrastrukturlose Ursprünglichkeiten, ins kalte Waldviertel. Dort quartier' ich mich ein, in einem kargen Dorf nahe von Gmünd, da steht ein alter Dreikanthof, der meiner Oma gehörte, als sie noch in Österreich gewohnt hat und in dem meine Mama aufgewachsen ist und sogar ich die ersten drei Lebensjahre verbracht hab', hier bleib ich also monatelang und wache über meine Stille. Von der von großen Nadelbäumen umzäunten Gartenrückseite aus sehe ich zwischen den schneebeladenen Zweigverästelungen auf den hügelabwärts gelegenen Friedhof und beobachte jeden Morgen, sobald die bittere Spätdämmerung, triefend vor Minusgraden, dem müden Winterlicht weicht, eine alte Frau, die ich nicht kenne, von der ich nicht einmal irgendetwas weiß, was wohl in diesem Dorf zu den großen Seltenheiten zählt, denn selbstverständlich erzählen sich hier alle alles über alle, um über die weite schöne Öde hinwegzukommen, in andere Bereiche zu gelangen, zumindest in Gedanken.
Jeder Friedhofsbesuch dieser alten Frau gleicht dem vorherigen aufs Detaillierteste, jeden Morgen spielt sich dieselbe unspektakuläre Szene ab, fast auf die Minute genau, erreicht sie das immer, auch nachts (vor wem sich fürchten in dem klirrenden Niemandsraum?) offenstehende Ein- und Ausgangsportal, zu Fuß und sehr, sehr langsam. Ob ihrer Langsamkeit wird mir, die ich wie gesagt in meinem Garten hinterm Haus hinunterspähe, warm und dick in Jacke, Haube, Fäustlinge, Decke gehüllt und gewickelt die ihrerseits mich nicht beachtende, wahrscheinlich nicht einmal registrierende alte Frau betrachte, ganz beschaulich zumute. In kleinen Schritten, mit vielen Pausen bewegt sie sich einem unauffälligen hellgrauen Grabstein entgegen, der sich ungefähr in der Mitte des Friedhofsgeländes befindet, bückt sich schwach und unbeholfen und legt die mitgebrachten Blumensträuße auf ihren künftigen Platz, und nur bezüglich der Blumensorten, so glaub' ich wenigstens, erkannt zu haben, variieren ihre je in etwa zehn Minuten dauernden Aufenthalte, während derer sie schimpft, schweigt, weint und wieder schweigt. Warum sie schimpft, schweigt, weint und wieder schweigt, weiß ich nicht, auch nicht, was sie sagt, wenn sie schimpft, kein Wort verstehe ich in meinem Garten, bloß dass sie schimpft, das läßt sich hören, und dass sie weint (sie weint wohl leise), das läßt sich vermuten. Über den Hügel hinauf spüre ich, dass sie dort in den täglichen zehn Minuten ihr Leben verbringt, und manchmal, wenn sich so früh das Winterweiß des Horizonts kaum aus der Schneelandschaft heben will, ist mir, als möcht' ich sterben hier oben in meiner Krankheit, und meine Sinne vermitteln mir einen Schmerz, der mit meinem verschmilzt, untrennbar das dichte, in meinen Gliedern brennende Eis, unerbittlich. Besonders ihr zeitweiliges Schweigen nährt diese behutsame Vernetzung von Abschieden, starrend und bebend sauge ich ihre Wortlosigkeit in meinen Tagesanfang. Lange Zeit, jahrelang genoss und fürchtete ich jene verborgene, einseitige Begegnung, denn sie war ja mittlerweile ein wesentlicher Bestandteil meiner nicht ungewöhnlichen, selbstgewählten Exileinsamkeit geworden, Orientierungspunkt und Stütze in der gnadenlosen Verschwendung von immerhin vier oder fünf Monaten, aufeinanderfolgenden, leblosen und aufgewühlten.
Ununterbrochen nichts, so etwas muss man erst aushalten lernen, denk' ich mir, so einfach ist es schließlich doch nicht, diese pure Leere zu ertragen. Und würd' ich das Scheitern nicht vorplanen - denn jeden Frühling verlasse ich ja meine Verlassenheit aufs neue und begebe mich in die Wiener Sommerhälfte, wie bei den Zugvögeln hängt meine Lebensart von Kälte und Wärme ab - dann würde es mir sicherlich passieren.
Aber es kann mir nicht geschehen, zu scheitern, weil es ohnehin, verabredet, dazugehört zu diesem unseligen Rhythmus von Wien und Waldviertel, Waldviertel und Wien. Als ich schließlich eines nachweihnachtlichen Abends in besonderer Weise, wie niemals zuvor und kaum danach, begriff, wie allein ich in all meinen dunklen Monaten bin, und wie wenig sich über die Jahre an deutlichen Veränderungen, an merkbaren Spuren ansammelt, nahm ich mir vor, die alte Friedhofsfrau demnächst vor Ort anzureden, sie vielleicht sogar auf einen Kaffee einzuladen, zumindest ein Gespräch zu beginnen. Weil ich in meiner Winterfaulheit nicht selten dazu neige, alles endlos vor mir herzuschieben, was nicht unumgänglich und sofort zu tun sich aufdrängt, und mir diese traurige Eigenschaft gerade sehr bewusst gewesen, ich zudem eine plötzlich bittere Furcht davor hegte, hier totzuwerden, mitten im Waldviertel zu einer Leiche zu mutieren, nicht begraben und nicht beweint, beschloss ich, mich der persönlichen Konfrontation schon am folgenden Tag zu stellen. Was sollte, was konnte denn schon misslingen, warum sollte sie denn nicht mit mir sprechen wollen, wieso mich links liegen lassen. Nun wusste ich zwar, dass die Person, die ich in den meisten meiner Wiener Jahreshälftetagen bin, die Frau einfach angesprochen hätte oder auch nicht, dass jedenfalls eine wirre vielstündige innerliche Konversationsanfangsplanung am Vorabend sicher das letzte gewesen wäre, wozu sie sich bereit erklärt hätte. Zu stolz wäre sie, um sich so sehr zu demütigen und zu entblössen. Nichtsdestotrotz grübelte ich als Person meiner Winterzeit eifrig und zweifelnd hin und her, denn wenn ein Mensch mit einer bestimmten Regelmäßigkeit über längere Strecken hinweg nur sich selbst zur Gesellschafterin hat, mit Ausnahme eventueller vertrauter und neuer Fernseh- und Buchgestalten, wird sie manches Mal in einer gewissen unheimlichen Art scheu und unsicher, die sie nicht einmal mehr wünschen lässt, diese vor sich oder anderen zu verhüllen. Man nimmt, was man kriegen kann, wenn das Alleinsein einer nicht bloß den Tages- und Nachtablauf verfremdet, sondern sich weiter in jegliches Denken vorfrisst, ihre Sprache verarmen oder verrotten macht. Die Einsamkeit kann einer dermaßen wild den Kopf waschen, dass man sich oft selbst nicht mehr erkennt, auskennt, nur staunt und staunt und sich heftigst wundert. Aber es liegt nicht nur am Mangel an Stolz, keine Verschleierungen und keine Selbstdarstellereien zu bezwecken, es entsteht vielmehr eine besinnliche, aufrichtige, fast klösterliche Einkehr, bei wem auch immer. Jedenfalls bei mir. Nur dann und wann müssen die meisten wieder auskehren, aus dem eigenen Zirkus, den Quälereien mit sich selbst ausbrechen und das heißt vielleicht wieder und mit Bedacht und allgemein ohne böse Vorsätze und schlimme Hintergedanken lügen und lügen, leise und insgeheim, um ein bisschen Spannung zu kreieren in sonst wohl zu durchsichtige Handlungsketten. Am nächsten Tag sprach ich sie an: ob sie gleich mit mir kommen wolle, fragte ich, oder erst morgen oder übermorgen, dass ich sie öfters schon hier gesehen habe, und sie mir so allein vorkäme, und ich mich ja auch ein wenig einsam fühle. Wer ich denn sei, entgegnete sie etwas überrascht, aber mit sehr gelassener, aufmerksamer Stimme. Eine langjährige Beobachterin ihrer Friedhofsbesuche, antwortete ich wahrheitsgemäß, eine Winterwahlwaldviertlerin. Da hakte sie sich wie eine vertraute ältere Verwandte bei mir unter und begleitete mich wie selbstverständlich zu mir nach Hause. "Die Leute im Dorf hier kennen mich nicht", sagte sie gleich, nachdem sie sich auf das alte dunkelrote Wohnzimmersofa bei der Fensterwand gesetzt hatte, "sie sehen mich zwar ab und zu, am Friedhof oder beim Aneinandervorbeigehen auf den schmalen Hügelwegen oder auch auf der Hauptstraße, aber sie vergessen mich, sobald sie sich meinem Blick entzogen haben und ich ihren entzogen wurde. Es ist schon eigenartig." "Seit wann leben Sie schon hier?" fragte ich schnell, begierig, endlich etwas über diese Frau zu erfahren. "Ach, ein paar Jahre werden`s sicher sein, glaube ich." "Und haben Sie wenigstens ein paar Freunde oder gute Nachbarn?" "Ich weiß nicht, liebes Kind." In meiner Wiener Zeit hätte ich diesen Begriff "liebes Kind" bestimmt nicht ohne einen kurzen Konfrontationskommentar oder zumindest innerliches Unwohlsein vorbeiklingen lassen, da hingegen empfand ich mich nicht nur nicht ernst genommen, sondern sogar besonders geschätzt. Vielleicht lag es an ihrer freundlichen schweren Stimme, diesem unverbindlich sorgenden Tonfall, dass ich zu Beginn der Unterhaltung Lust bekam, jene Rolle tatsächlich zu spielen. "Was haben Sie denn früher gemacht, oder wollen Sie mir von irgendwelchen anderen Dingen gerne erzählen?" Es blieb beim bloßen Versuch, Sie kennen zu lernen, sie sträubte sich allem Anschein nach, mir ihre Person und ihre Geschichten zum mittlerweile lauwarm gewordenen Milchkaffee aufzutischen, und sie tat dies mit bewundernswerter Offenheit. Was sie mir präsentierte, waren Spuren eines merkwürdigen selbstgefälligen Menschen. "Ich gehe so oft spazieren, wie nur möglich, sobald ich am Morgen wach werde, ziehe ich mich an, noch vor dem Frühstück, vor jedem Waschen, und gehe hinaus, meist ein, zwei Stunden, bis zu den Wackelsteinen und den ganzen Weg vom Wald zurück, mitunter plane ich Umwege, zum Pichingerteich oder gar zum Lorenzhof, wissen Sie, mein Leben lang habe ich mich nur dann gut gefühlt, wenn ich viel und meist rasch, für meine schwächlichen betagten Verhältnisse, gegangen bin, während des Gehens verfliegt meine Nervosität, wissen Sie, das Unterwegssein begleitet mein Überleben, und das Rasten danach, bei heißem Tee, ich werde mir selbst nah, es ist meine Existenz, denke ich, das Allheilmittel gegen mein Altern." Im Laufe ihrer Sätze sprach sie immer geschwinder, bis sie gegen Ende wiederum ihr anfängliches Tempo benutzte.
"Seit ich allein bin, weiß ich mir nicht anders zu helfen. Um meine Unruhe abzustreifen, einen Fuß vor den anderen, währenddessen überlege ich und interpretiere ich und lasse ich fallen, mich und meinen Kummer. Seit ich allein bin..., und wann war ich denn schon nicht allein?" Ich sah sie gespannt an, und ihr selbstverliebt pathetischer Ausdruck wuchs.
"Aus der Tür, aus dem Sinn, eine Masse an verlorenen schönen Momenten, im Gehen vermindert sich der Schmerz vieler Narben, wissen Sie, in der Aufregung und der Stille danach." Mit ihren Andeutungen, die in meine Winterleere drangen, nur noch ungeduldiger geworden, probierte ich, jegliche Gelegenheit am Schopf zu packen, jeglichen Aussagen hinter die Schliche zu kommen. "Welche Narben? Meinen Sie Allgemeines oder Spezielles?" antwortete ich etwas ungeschickt, was sie scheinbar nicht berührte. "Und am Schluss meiner täglichen Flucht bleibe ich am Friedhof einige Minuten für mich, dort warte ich und denke nach." Ich nickte, als wüsste ich Bescheid, und was wusste ich schon, jedenfalls nahm ich diese letzte Bemerkung als Möglichkeit, sie weiter zu inspizieren. "Darf ich Sie fragen, an wessen Grab Sie da täglich stehen?" bemühte ich mich um eine geschmackvolle Formulierung meiner nicht verhaltenen Ungeduld. Als hätte ich kein Wort von mir gegeben, fuhr sie fort: "Ja, und dort denke ich viel nach. Über alles Mögliche, glauben Sie mir, solange ich mich im Griff habe, gehe ich auf den Friedhof." "Warum ausgerechnet dorthin?" "Zum Nachdenken, mein liebes Kind." Jetzt verstörte mich der meine neugierige Gegenwart verniedlichende Ausdruck gewaltig, fühlte ich mich doch, wohl berechtigterweise, ein bisschen ignoriert. "Aber Sie besuchen auch jemanden, nicht wahr? Sie bringen Blumen, Sie weinen, Sie schimpfen, tagtäglich, am selben Grab...." Mag sein, dass ich etwas grob wurde, dass in der Art, gewisse Wörter zu betonen, zwischen den forschen abgetrennten Satzstücken meine Unzufriedenheit mit ihrem egozentrischen Konversationsbenehmen durchklang. Dennoch überraschte mich ihre Reaktion, nach einer kleinen unschuldigen Schweigepause, in der sie sogar zu einem versöhnlichen Lächeln ansetzte, aufzustehen, mir (wie eine Hebamme einer wimmernden Patientin) über die Wange zu streichen, sich schnell zu verabschieden und zu verschwinden. Ihre Freundlichkeit hatte, im Nachhinein betrachtet, in ihrer willkürlichen Temporalität beinahe etwas Despotisches, machte ich mir Mut, mich selber nicht zu sehr für meine Aufdringlichkeiten zu kritisieren. Den Rest des Tages bemühte ich mich, die misslungene Begegnung in meinem Kopf nicht mehr zu wiederholen, mir die Zeit von, wie ich dachte, unnötigen Wies und Wiesos freizuhalten. Also versuchte ich, mir ein paar gemütliche Stunden zu verschaffen, stellte mir Weihnachtslebkuchen und Kekse auf den Tisch, öffnete eine für meine bescheidenen finanziellen Verhältnisse besonders teure Rotweinflasche und begann, was ich nur zu bestimmten Anlässen, in bestimmten emotionalen Verfassungen tue, in mehreren Büchern zugleich zu lesen. Hier vier Seiten, dort ein Kapitel, die Figuren vermischten sich, ihre Charaktere wurden biegsam, die Handlungen vorläufig und zwei Minuten später in einen gänzlich neuen Kontext gebracht. Es blieben kaum Namen übrig, nicht einmal Initialen und mit jedem Schluck aus der Flasche schwanden die Zusammenhänge der Geschichten schneller, letztlich kreisten sie alle um mich, flatterten zwischen den aufkeimenden Gedankenabwesenheiten, mit meinen Erwachsenenjahren beschäftigten Überlegungen und woben sich in meine selbstverliebte Befindlichkeit ein. Ein gegenstandsloses Dahinsinnieren, ein bedauernswert abgehobenes, dialogentwöhntes Erinnern. Im darauffolgenden Tagtraum kamen die Texte wieder, bei anfangs noch müde und angestrengt geöffneten, schließlich nachgiebig geschlossenen Augen ließ ich in dem auch vom Alkohol produzierten Schwindel, der mich zwang, gänzlich stillzusitzen, die Personeninventare aufmarschieren, um mich mit ihren unendlichen Einzigartigkeiten entsetzlich zu verwirren. Sie redeten wild auf mich ein, unterbrachen einander, fielen aus der Rolle, bis ich, im Ohr plötzlich lang verschollene Verse aus meinem ersten Lieblingsgedicht,
einschlief: Elis, wenn die Amsel im Wald.....Drei Stunden später weckte sie mich auf, indem sie mich an einer Schulter fasste und unzählige Male, wie mir schien, laut flüsternd "Guten Abend, liebes Kind, guten Abend" wünschte. Da stand sie wieder, meine seltsame Wintergenossin, setzte sich neben mich und verhielt sich, als wären wir gute alte Nachbarinnen, als würde sie mich schon jahrelang kennen oder beobachten, so wie ich ihre täglichen zehn Friedhofsminuten. "Sie haben geschlafen, hat Sie unser Gespräch denn derartig ermüdet? Ich hoffe doch nicht, Sie so sehr zu langweilen", scherzte sie in ihrer antiquierten Art, Humor vorzutäuschen, und ich zwang mich zu einem für meine damalige Stimmung großzügigen Lächeln. "Sie sind vorhin ganz schnell fortgegangen, völlig unvermittelt, ohne irgendeine Erklärung, warum?" "Ach", winkte sie ab, "das hat nichts zu bedeuten. Darf ich ein bisschen bei Ihnen bleiben?" "Gerne. Wollen Sie etwas essen oder trinken?" Ich bot ihr gleich an, eine Suppe zu kochen, wenn sie darauf Appetit habe, oder ein Brot mit Wurst, Käse, Ei zu belegen. Andere Möglichkeiten schienen Kühlschrank und Küchenkästchen kaum zu erlauben, des Öfteren ging ich hier nur zweimal monatlich ins einzige Dorfgeschäft, um den Einsamkeitsproviant aufzufüllen. Irgendwie musste in diesen Monaten alles karg sein, das Waldviertel war meine ideale Grundlage, in mehreren Hinsichten zu verarmen, meine körperlichen und geistigen Kräfte auszutesten, die Widerstandskraft zu messen. Bis zu welchem Punkt akzeptiere ich mich ohne Freundinnen und Freunde, ohne Unterhaltungsangebote (Bücher und Fernseher ausgenommen), ohne elektrische Heizung? "Als ich ein Kind war", hörte ich mich meinem ungewohnten Gast auf einmal erzählen, "konnte ich hier nie problemlos atmen. Dauernd dachte ich, ersticken zu müssen, es war eine Qual, dazusein, und wir kamen dreimal jährlich." Ich staunte über ihre nicht zu erwartende Anteilnahme, und ihr Interesse wirkte sehr ungekünstelt. "Weshalb konnten Sie nicht gut atmen, sind Sie asthmakrank?" "Nicht eigentlich", schwächte ich sofort ab, "aber auf bestimmte Allergene reagiere ich mit akuter Atemnot, ich weiß nicht, ob Sie das kennen, ich glaube, in Ihrem Alter ist das eine sehr weit verbreitete Erfahrung, es fühlt sich furchtbar an, der immer klotziger und klumpiger werdende Brustkorb, das Herzstechen, der schmerzende gebeugte Rücken, die Schwerfälligkeit in den Bewegungen, und die Dürftigkeit des Ein- und Ausatmens, wie sehr ich mich auch bemüht habe, Luft zu bekommen, ich blieb wie eingesperrt in einen plötzlich gar nicht mehr gesunden, gar nicht mehr federleichten Kinderkörper.
Sie haben mich schon so sehr angewidert, diese Waldviertler Umstände." "Welche Umstände?" Jetzt war sie an der Reihe, hartnäckig Fragen zu stellen.
"Zufällige. Katzen. Zwei Katzen bei meiner Oma und sieben bei einer Stadttante sowie ein paar am Bauernhof eines anderen Onkels. Jahrelang unerkannte Auslöser meiner immer nur in Niederösterreich auftretenden Beschwerden, die von allen mit mir in Kontakt getretenen Ärzten und Ärztinnen durchgängig fälschlicherweise mit diesem ominösen Begriff von, wie sie sich auszudrücken pflegten, "rauer waldviertlerischer Luft" erklärt wurden. Jetzt sind die Katzen tot oder fort, und ich kann problemlos atmen. Na ja, bis ich mich wieder verkühle, was mir bei diesen entsetzlichen Brennöfen eigentlich sehr häufig passiert. Ich hasse es, die Temperatur nicht regulieren zu können, zuerst im kurzen Leiberl zu schwitzen, vier Stunden später mit zwei Rolkragenpullovern zu frieren." "Woran man hier auch erkrankt", unterbrach sie mich schließlich, "lässt sich nicht kurieren." Es wurde uns ganz heimelig zumute, als wir einander von diesen kleinen auffälligen Schrecken erzählten, die wir zu brauchen schienen oder brauchen wollten oder einfach eines anderen Grundes wegen aushielten oder herbeiriefen. "Die Weite macht mich manchmal ganz verrückt, vor allem dann, wenn sich die Tagesgeräusche langsam verlieren." "Der Himmel hat am Morgen und am Abend so viele Farben hier, und alles ist eine einzigartig offene und gleichzeitig so unüberschaubare Fläche." "Und die raue Luft, der regnerische Wind und die Stille zwischen dem Grillenzirpen." "Es ist wohl meine jährliche Lebenspause." Sie stand nickend auf: "Oder mein ruheloses Rasten zwischen dem Lärmen. Alles, alles hat seine Bedeutung", sagte sie, gab mir die Hand, strich mir ein paarmal über die Haare, und ließ mich wieder allein und ob ihrer Art, vorbereitungslos zu verschwinden, etwas erstaunt zurück. Diese Verwunderung wuchs ein bisschen, als ich von den anderen Dorfbewohnerinnen und -bewohnern immer ein bisschen seltsam angeschaut wurde, wagte ich es, nach meiner Friedhofsfrau zu fragen. Niemand schien sie zu kennen, alle überlegten ein Weilchen, manche setzten schon zu einem bedächtigen "Hm, ja.." an, aber letztlich konnte sich niemand erinnern. Meine Erwartung, sie in den nächsten Tagen irgendwann an die Tür klopfen zu hören oder einfach grüßend im Zimmer stehen zu sehen, erfüllte sich nicht, und ich bekam es mit der Angst zu tun, von der rauen Winterwaldviertelluft plötzlich psychotisch geworden zu sein. Doch bald stand sie wieder vor ihrem Grab, und ich konnte sie vom Garten aus beobachten, sie war keine alkoholgetränkte Einbildung gewesen, kein Einsamkeitswahn, sie wartete, weinte und schimpfte wohl an derselben Stelle, ganz leibhaftig und wirklich und menschlich, und ihr für mich so wortloser Schmerz wand sich wieder den schneebedeckten Hügel herauf und berührte mich leise und heftig.



Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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