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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Anhaltender Augenblick fortschreitenden Unglücks

© G. Rade


1
Ihre erste Begegnung war wie ein Wiedersehen. O, Angestellter einer Werbeagentur, hatte sich auf dem Weg in die Mittagspause noch von einem Arbeitskollegen aufhalten lassen, als oben im Treppenhaus Annasusanna erschien. Erstaunt über das Verstummen des Kollegen, der, da er der Treppe zugewandt war, sie zuerst bemerkte, drehte O sich um. Sein Blick traf ihren. Annasusanna war auf der obersten Stufe stehen geblieben und sah ihn gedankenverloren an. Dabei lächelte sie ein wenig wehmütig. "Ein Augenblick völligen Stillstands", fuhr O durch den Kopf. Er hätte gerne einem Gefühl plötzlicher Nähe nachgegeben und etwas unternommen. Doch was? Mit einem Achselzucken, das betont gelassen wirken sollte, drehte er sich zurück. Der Kollege nahm die Unterhaltung wieder auf, indem er, als wäre nichts geschehen, Wort für Wort seinen letzten Satz wiederholte. Auf dem Weg zum Ausgang verabschiedete sich Annasusanna noch leise mit einem vertraulich klingenden "Hallo" von O. "Hallo." Dann verließ sie das Haus.
2
O dachte, vielleicht gibt es nur solche Liebe: Die auf den ersten Blick. Ihre ganze Geschichte, alle ihre Möglichkeiten, an jedem Ort zu jeder Zeit, alles das jäh geschaut in einem einzigen Augenblick - ein so unendlich kurzer Moment, dass er beinahe aus der Zeit zu fallen droht. Alles andere: Beziehungsarbeit, Kompromiss von Krämerseelen, die sich nicht erschrecken wollen.
3
Der Tag ihrer ersten Begegnung war zugleich Annasusannas erster Arbeitstag in der Agentur. Sie hatte eine Stelle in der Öffentlichkeitsabteilung angenommen, weshalb sie vom entfernten B. in die Kleinstadt gezogen war - zusammen mit ihrem Lebensgefährten Stephan. Stephan, der selbst in B. gerade Fuß zu fassen begann, hatte die eigene Karriere zugunsten der seiner Freundin aufgegeben. Auf jeden, der die beiden herumschlendern, beim Einkaufen oder im Cafe sah, wirkten sie so frisch verliebt wie am ersten Tag. Laut lachend liefen sie durch die Strassen, eng umschlungen standen sie auf den Plätzen. Einmal, beim Verlassen einer Unterführung, sah O ein Paar sich an die taubengrau gekachelte Wand drücken. Dann erst erkannte er sie. Es traf ihn wie ein Schlag. Seit seiner Begegnung mit Annasusanna musste er ständig an sie denken. "Ich will sie haben", murmelte er verwirrt beim Weitergehen vor sich hin, während die Passanten diskret einen Bogen um ihn machten: "Sie gehört mir." Annasusanna war eine Aufsehen erregende Schönheit. Stephan hielt sie mit kaum verhohlenem Stolz im Arm. Annasusanna blickte lächelnd zu Stephan auf.
So harmonisch Annasusannas Privatleben verlief, so schwierig gestaltete sich ihr Arbeitsbeginn. Immer wieder ergaben sich Spannungen, ohne dass genau zu erklären gewesen wäre, warum. Der Abteilungsleiter verhielt sich merkwürdig abweisend und gereizt, Kolleginnen machten hinter vorgehaltener Hand spitze Bemerkungen und mit O schien auch den Direktor Annasusannas Verhältnis mit Stephan zu stören. Eines Tages hörte man ihn hinter verschlossener Tür völlig außer sich herumtoben. Anschließend verließ Annasusanna wie ein begossener Pudel den Raum. Der Vorfall beschäftigte das ganze Büro. Annasusanna tat das einzig richtige. Sie vermied es, von nun an Stephan zu erwähnen. Zudem überzeugte sie ihren Freund, dass es besser für beide wäre, wenn er sich nicht mehr mit ihr zusammen in der Öffentlichkeit sehen ließe. Vor allem nicht in der Kantine, wo er so gerne Zeitung lesend auf sie gewartet oder sich, den Arm um sie gelegt, an bürointernen Gesprächen beteiligt hatte.
Mit einem Schlag beruhigte sich das Klima im Büro. Alles verkehrte sich wie von Zauberhand ins Gegenteil. Seitdem Stephan offiziell zu existieren aufgehört hatte, glich Annasusannas Arbeit einem heiteren Fest der Kontakte, Pläne und angeregten Plaudereien. "Man hätte ganz andere Möglichkeiten, wenn…", "Da sollte man neu ansetzen, weil…", "Man müsste einmal überlegen, ob…". Dem Direktor gefiel die jugendliche Emphase, auch wenn - oder gerade weil - der mit schnell errötenden Wangen vorgetragene Gedankengang bereits nach zwei Einwänden in sich zusammen zu brechen drohte. Zwar verlegte sich Annasusannas Abteilungseiter noch, nachdem er ihr zuvor die kalte Schulter gezeigt hatte, auf verbalerotische Attacken. Doch Annasusanna leitete (erst, nachdem ein wichtiger Auftrag, an dem beide interessiert waren, aus rein fachlichen Gründen an sie vergeben worden war) ein betriebsinternes Verfahren wegen "sexueller Belästigung am Arbeitsplatz" gegen ihn ein. Beim Direktor stieß das auf tiefstes Verständnis. Nachdem der Abteilungsleiter sich daraufhin zusammenriss, bewies Annasusanna Großmut und stellte das Verfahren ein. Alle waren zufrieden. Beschwingt lief der fast 40 Jahre ältere Direktor neben seiner Angestellten her - und nach Büroschluss dann, umgeben vom neuen Reiz der Heimlichkeit, Stephan.
4
Seit seiner Begegnung mit Annasusanna litt O unter einer Unruhe, die sich immer mehr ins Unerträgliche gesteigert hatte. Kaum noch schlief er, wenn doch, dann plagten ihn schwere Träume. Mitten in der Nacht stand er auf und irrte durch die Gassen der Altstadt und an den Flüssen entlang. Das Mietshaus, in dem Annasusanna wohnte, besaß eine große alte Toreinfahrt mit einem schmiedeeisernen Gitter. Als er an ihm vorbei kam, sperrte sie gerade ab. Er blieb stehen. Wortlos sahen sie sich durch die Gitterstäbe an. Es war wie bei ihrer ersten Begegnung. Monatelang waren sie mit knappem Gruß aneinander vorbei gegangen, jetzt fiel alle Fremdheit von ihnen ab. Annasusanna öffnete das Tor. Schweigend gingen sie hoch in die Wohnung. Nicht die geringste Spur von einem Mitbewohner. O fragte nichts, er verschwendete nicht einmal einen Gedanken an Stephan. Annasusanna sah etwas mitgenommen aus und servierte Hagebuttentee, der zu lange gezogen hatte und bitter schmeckte. Er trank. Sie sagte, dass es keinen Sinn mehr habe. Dass sie so nicht mehr weiter machen, sich nicht mehr verstellen könne. Normalerweise müsse man sich für einen solchen Schritt mehr Zeit lassen, aber sie habe nicht mehr die Kraft dazu. Dass ein Schlussstrich unter ihrer bisherigen Art des Nebeneinanders gezogen werden müsse. Sie weinte ein bisschen und sagte, wie viel er ihr bedeute. Dass sie sich sogar schon ausgemalt hätte, ihn zu heiraten. O hörte sich alles stumm an. Er brachte kein Wort heraus. Etwas derartiges war ihm noch nicht vorgekommen. Dann stand er auf und ging nach Hause. Endlich löste sich seine Sprachhemmung. Er setzte sich ans Telefon, als Annasusanna abhob, sagte er, dass sie zusammen gehörten und er sie unbedingt sehen müsse. Dann weinte auch er.
5
Am nächsten und den folgenden Tagen, als O bei ihr anrief, schaltete sich der Anrufbeantworter ein. So oft er auch an ihrer Haustür klingelte, niemand öffnete. Annasusanna war spurlos verschwunden. Die Betriebsferien hatten begonnen und langsam wurde O klar, dass Annasusanna sich nicht mehr in der Stadt aufhielt. Tatsächlich hatte sie kurz entschlossen einen Billigurlaub gebucht. In M., von wo aus der Flug ging, hatte sie noch einmal Stephan getroffen, der inzwischen hier lebte. Anders als es den Anschein hatte, war Stephan nur ein guter alter Bekannter, seine weiterreichenden Ambitionen wurden von Annasusanna beharrlich abgewiesen. "Er wird immer auf mich warten", stellte sie einmal fest. Sie lächelte, diesmal ein wenig herablassend. Nachdem er zuvor Drehbücher für eine Vorabendserie ("Hör auf dein Herz") geschrieben hatte, war Stephan jetzt fest entschlossen, eine neue, mit seinen Idealen besser zu vereinbarende Karriere als Journalist anzustreben. Später, als er an die Grenzen seines journalistischen Könnens stoßen sollte, fasste er sogar den Mut, noch einmal ganz von vorne anzufangen und ein Publizistikstudium zu beginnen.
Gegen Ende des Urlaubs rief Annasusanna O an. Das war der Wendepunkt. O's so lang andauernde, so tief gehende Unruhe fand ein Ende. Sie trafen sich in der Nähe des Flughafens in einem Ferienhaus von Annasusannas Eltern. Das Haus lag am See. O hatte einige Mühe, es zu finden. Die Wege waren von Schilf und Gräsern überwachsen. Die ganze Familie war da: Eltern und Schwester. Die Eltern waren Lehrer. Der Vater, der O an Stephan erinnert hätte, wenn er sich noch an Stephan erinnert hätte, erzählte ihm allerhand darüber, wie man ein Werbebüro leiten müsse. Am Abendbrottisch wusste er mit Seitenblick auf seine Frau zu berichten, in welchem Supermarkt es den herzhaftesten Käse zu kaufen gab, der zugleich auch der billigste war, und wo man die knackigsten und nebenbei auch preiswertesten Würste bekam. Seine Frau hörte sich alles stumm an, überhaupt sprach sie in Gegenwart ihres Mannes nur wenig. Dafür redete sie hinter seinem Rücken umso engagierter auf beide Töchter ein. Am Nachmittag sollte ein altes Ruderboot auf den Namen "Flotte Lotte" oder "Wilde Hilde" getauft werden. Während der Vater den Namenszug auf den Bug pinselte, musste die eine Tochter das Boot halten, die andere den Farbtopf. O wurde gebeten, ein Erinnerungsfoto zu schießen. Beide Schwestern lächelten. Es wirkte nicht einmal gequält, besonders herzlich wirkte es allerdings auch nicht.
Annasusannas Eltern waren O von Anfang an unsympathisch. Er gab ihnen die Schuld, dass keine Nähe aufkommen konnte. Ihre Gegenwart schien alles zu blockieren. Annasusanna dachte offenbar ähnlich. Schon nach ein paar Tagen brachen sie auf. Kaum waren sie abgefahren, fragte Annasusanna ihn, ob er sie liebe. Nach langer Zeit ging O das "Ja" wie selbstverständlich über die Lippen. "Dann wirst du das verstehen. Ich habe den Urlaub gebucht, weil ich das Gefühl hatte, etwas Abstand zu brauchen. Wieder etwas zu mir kommen. Außerdem konnte ich nicht mehr zurücktreten. Das ganze Geld wäre verloren." "Ich verstehe." "Ich habe es dir einfach nicht sagen können." "Kein Problem", antwortete O. Aber obwohl jetzt eigentlich alles in Ordnung war, kam er sich doch vor wie ein Idiot. Annasusanna vermied es feinfühlend, das Thema nochmals zu erwähnen. Zuhause angekommen, gingen sie indes noch, wie um einen bösen Zauber zu vertreiben, in verschiedene Reisebüros und führten dort ausgiebige Beratungsgespräche über gemeinsame Fernreisen - um am Ende künstlich in Streit zu geraten und, ohne sich geeinigt zu haben, das Büro wieder zu verlassen. Schließlich stand ihnen in Wahrheit ja überhaupt keine Urlaubszeit mehr zur Verfügung.
6
"Würdest du mich auch lieben, wenn ich herrschsüchtig und berechnend wäre?" "Nein", dachte er sich, während er nach langer schweigender Fahrt das Auto provozierend umständlich einparkte: "Und du? Könntest du mich auch an meinen eigenbrötlerischen und mürrischen Tagen ertragen?"
7
O saß mit aufgestütztem Kopf am Tisch, vor ihm ein Buch. "Und? Noch etwas unternehmen?" Er zuckte mit den Schultern. Nichts los mit ihm heute. Er las: "Die Unterdrückung der Frau ist auf eine infame Weise bürgerlich geworden. Die Männer befehlen nicht mehr, sie reden gut zu. Sie sorgen sich um die Launen der Gattinnen, lassen sie in alle Fallen laufen und machen ihnen Kinder, damit sie beschäftigt sind." Aus dem Nebenraum drangen Stimmen. Er: "Bitte geh nicht weg. Ich liebe dich." Sie: "Es ist doch Wahnsinn." Er: "Ich lass dich nie wieder gehen. Ich habe mein Leben lang auf dich gewartet. Wir sind füreinander bestimmt." Pause, dann wieder er: "Was ist mit Claus?" Sie: "Er liebt mich." Er: "Niemand wird dich je so lieben können, wie ich es tue. Ich verspreche es dir, ich werde dich glücklich machen. Du wirst es niemals bereuen." Es lief eine Folge von "Hör auf dein Herz". Der Titel klang merkwürdig ungelenk: DIE LIEBE IST SIEGER.
Später verließen sie doch noch die Wohnung, etwas essen zu gehen. Das chinesische Restaurant war gut besucht, es war Feiertag. Zur Begrüßung servierte ihnen der Kellner einen Pflaumenlikör. O zahlte schon einmal, dann ging er zur Toilette. Ihm war schlecht. Als er zurückkam, sah er, wie Annasusanna eine Tablettenschachtel in ihrer Tasche verschwinden ließ. Sie beschwerte sich bei ihm über das Selbstverständnis, mit dem Männer Fragen der Verhütung den Frauen überließen. Wenn sie sich wenigstens an den Kosten beteiligen würden. Die Hormonbelastung, die Pille, ob davor ob danach. Offenbar könne man mit keinerlei Rücksicht oder Aufmerksamkeit rechnen, Aufmerksamkeit, so hieße das Wort, Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit. Männer wollten sowieso nur das Eine. Annasusanna redete sich in Rage: Ein Mann habe sich über eine Zeugung in jedem Fall zu freuen und bei einem Unfall im Bett nicht laut "Scheiße" zu schreien, andernfalls liebe er seine Frau nicht - ob das Kind ausgetragen würde, sei ohnehin alleine Sache der Frau. Hm. Annasusanna nickte sich selbst zu.
Nach dem Essen gingen sie spazieren. O druckste rum. Er sagte, dass es ja noch nicht zu spät sei, man könne sich alles noch mal überlegen. Er merkte, wie fade seine Worte klangen. Annasusannas Beschwerden hatten ihn getroffen. In den nächsten Tagen machte er einen Aidstest und sie stiegen auf Kondome um. Schon beim ersten Versuch platzte eins. Als er es bemerkte, schrie O laut "Scheiße", aber sie blieben jetzt bei den Kondomen.
8
Hand in Hand liefen sie durch die Straßen. Sobald sie sich unbeobachtet fühlten, küssten sie sich. Neuerdings achteten sie auf Diskretion. Für das Büro hatten sie sich der Einfachheit halber getrennt, man hatte es dort kommentarlos zur Kenntnis genommen. Annasusanna meinte lachend: "Wenn wir clever wären, könnten wir es weit bringen. Du wickelst die Dezernentin ein. Ich den Direktor." O lachte mit und sah dabei unauffällig auf ihre Brüste.
Ihr Lieblingsort war eine Ruine hoch über den Flüssen. Sie thronten dort wie ein heroisches Paar aus anderer Zeit. Es zog zwischen den Säulen und durch die Steine. Als er sie küsste, fühlte er ihr Herz schlagen. Umständlich schob er die Hand aus ihrer Bluse. Dann, als er in ihre Augen blickte, sah er die Nacht sich in ihnen spiegeln. "Ein Augenblick absoluten Stillstands", dachte er: "Und alles liegt in diesem Augenblick begraben."



Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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