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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Sandalen

© Barbara Vigl


In einem Ratgeber der "Schöner Leben" heißt, habe ich gelesen dass der Wind das Leben bestimmt. Deswegen habe ich mein gelbes Sommerkleid angezogen und mich auf eine kleine Anhöhe vor der Stadt, in der ich lebe, gestellt. Ich habe diesen Hügel ausgewählt, weil hier nur wenige von den mageren Sträuchern wachsen, die das umliegende Gebiet dicht besiedeln. Der Wind lässt auf sich warten, und ich werde langsam ungeduldig. Als ich gerade überlege, ob ich nicht gehen soll, wölbt sich mein Kleid sachte nach Westen. Endlich. Der Wind wird stärker und ich lasse meine Schritte von ihm lenken. Ich konzentriere mich auf mein Kleid, das mir die Richtung anzeigt. So merke ich zunächst nicht, dass er mich schon an den Stadtrand geführt hat. Die Straße ist hier nicht so gut wie bei mir zuhause, und meine Sandalen bekommen dunkle Flecken vom schmutzigen Straßenstaub. Ich ärgere mich ein bisschen, aber das soll mich nicht davon abhalten dem Wind zu folgen, jetzt, wo ich ihn endlich gefunden habe. Ich bemerke dass die Häuser hier schlecht sind und die Betonwände vom Regen ganz grau gewaschen. Ich erschrecke ein bisschen vor der Armut und bin gleichzeitig neugierig, weil ich hier noch nie war. Meine Eltern verbieten es mir, sie sagen, es sei hier gefährlich. Ich zögere ein wenig, bevor ich ihr Verbot breche. Sofort rüttelt der Wind heftiger an meinem Kleid. Das Gefühl, das ich jetzt empfinde, lässt sich wohl am besten mit dem Wort "befreit" beschreiben. Schließlich ist es das erste Mal, das ich von dem bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Weges, den meine Eltern für mich bestimmt haben, abweiche. Ich lasse mich wider vom Wind leiten und bleibe erst stehen, als mir der Geruch entgegenschlägt. Der Geruch der Armut ist mir so fremd wie mir der Geruch des Wohlstandes bekannt ist. Ich überwinde mich und ergebe mich wider den Strömungen der Luft. Ich komme durch verschiedene Gassen, von denen meinen Sandalen jedes Mal ein Stück Staub mitnehmen. Ein paar Hunde drücken sich an mir vorbei. Hier sind viel mehr Tiere als bei uns im Villenviertel. Sie tragen auch kein Halsband und haben ein stumpfes Fell. Ich bin im Geiste böse auf die Herrchen dieser Hunde dass sie die Tiere so schlecht pflegen. Die schmutzigen Hochhäuser werden immer weniger. Vielleicht gibt es jetzt ein paar schöne Häuser, hoffe ich, aber die Betonblocks verändern sich mal abgesehen von Anzahl und Größe nicht, bis sie schließlich in kleine Baracken übergehen. Wie eine andere Welt denke ich ängstlich. Hier gibt es auch keine Zäune und fast keinen Gärten. Der Wind wird ungeduldiger obwohl ich gleichmäßig gehe. Es gibt hier so viel zu sehen, alles ist so neu. Plötzlich stoße ich mit meinem Fuß gegen etwas Weiches. Erschrocken schaue ich auf meine Füße, geradewegs auf einen Hundekadaver. Ein paar aufgeschreckte Insekten kriechen unter der vertrockneten Haut hervor und machen sich davon. Meine Hand fest an die Lippen gepresst springe ich einen Schritt zurück. Er schaut so traurig und arm aus. Was leben hier für Menschen! Bei mir zuhause würde niemand es zugelassen, dass jemand so etwas Entsetzliches zu Sehen bekommt. Von Ekel und Schluchzen geschüttelt laufe ich in die entgegengesetzte Richtung. Ein paar Menschen halten in ihrem Tun inne und schauen mir verwundert nach. Der Wind hetzt mich immer noch vorwärts. Er hüllt mich in eine Staubwolke und trägt meine Tränen davon. Ich habe noch nie ein totes Tier gesehen. Ich habe nicht gewusst dass sie so arm ausschauen. Schlamm spritzt mir ins Gesicht und ich bleibe abrupt stehen. Ich steige aus der Pfütze, in die ich hineingelaufen war. Der Schlamm stinkt und ich verspüre einen Brechreiz. Ob es wegen des Hunds oder wegen des Schlammes ist, kann ich nicht sagen. Jetzt wunderte es mich, was Wasser in dieser Hitze zu suchen hat, da bemerke ich dass ich am Flussufer stehe. Was ist bloß mit dem Fluss los? Hier säumen keine Alleen sein Ufer und Müll schwimmt darin. Nein, nicht nur Müll, ich bemerke dass sich kleine Körper im Wasser bewegen und den Dreck aufsammeln. Sie lachen und reden dabei, aber ich muss wider weinen. Meine Eltern würden mich nie in dieses Wasser lassen um Müll zu sammeln. Haben sie denn keine Maschinen? Ich kann doch nicht hier stehen und ihnen zusehen, vielleicht bemerken sie mich und ich muss auch... Nein, ich folge lieber wider dem Wind der jetzt wider stärker wird und mich in eine andere Richtung treibt. Ich lächle ihm dankbar zu, obwohl er mich doch nicht sehen kann. Ich habe auch überhaupt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn er macht an einer Hauswand halt und ich lehne mich dagegen. Die Sonne kommt heraus und scheint auf meine Füße, aber meine Sandalen glänzen nicht mehr. Wenn ich wider zuhause bin, muss ich sie putzen, bevor es jemand bemerkt. Ich stelle mich Schatten suchend unter ein Blechdach. Wieso ist der Wind jetzt fort? Jetzt höre ich schwaches Babygeschrei in unmittelbarer Nähe. Direkt hinter mir sitzt eine junge Frau in einem Winkel und hält ein Baby in schmutzige Laken gewickelt im Arm. Jetzt schiebt sie ihr T-Shirt hoch um dem Baby Milch zu geben. Ich sehe ihre eingefallenen Brüste und die Rippen die sich deutlich abzeichnen. Ihre Haut ist staubig und ihr Haar stumpf. Doch sie lächelt und singt leise, während ihr Kind gierig saugt. Ich laufe wider, schneller als vorher, doch kein Wind begleitet mich. Ich muss den Weg alleine finden, vorbei an den Kindern im Fluss und dem toten Hund. Beide Male hefte ich meinen Blick fest auf dem Boden um nichts mehr sehen zu müssen. Spät abends erreiche ich die Hügelkuppe. Ich setze mich ins Gras, obwohl ich das eigentlich nicht darf, und atme tief. Ich nehme mir vor, nicht mehr an das zu denken, was ich gesehen habe. Wie Gott so etwas zulässt, ist mir rätselhaft. Ich beschließe, dem Wind nicht mehr zu folgen. Dann werfe ich die Sandalen weg, streiche mein Kleid glatt und gehe nach Hause.



Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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