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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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A Day in the Life

© Tanja Dückers


Bis ich zwölf war, hatte ich kein leidenschaftliches, in irgendeiner Weise inniges Verhältnis zu Musik, sondern hörte die Charts rauf und runter, überspielte mir mit meinem kleinen Kassettenrecorder, das, was gerade im Radio lief und ärgerte mich immer über die ständig in die Musik hineinquatschenden Moderatoren. Bis Jürgen, der einen Stock über uns wohnte, sich das Leben nahm. Er war vier Jahre älter als ich gewesen, und ich hatte ihn kaum gekannt. Aber seine Eltern sprachen mich eines Tages im Treppenhaus - einige Tage nach seinem Freitod - darauf an, ob ich mir nicht "etwas Schönes" aus seiner Plattensammlung aussuchen wollte. Sie wussten wohl nicht viel damit anzufangen, und Freunde schien Jürgen keine gehabt zu haben.
Es war das erste Mal, dass ich Jürgens Zimmer betrat. Über seinem Schreibtisch hingen die vier Beatles-Köpfe aus dem "White Album" an der Wand. Von der Decke baumelte ein Mobile, das er vielleicht als Kind gebastelt hatte. Ich erinnere mich auch daran, dass auf seinem Schreibtisch noch ein aufgeschlagenes Schulbuch lag. Als würde er morgen wieder hier sitzen. Ich suchte in dem Zimmer nach Anhaltspunkten, nach Zeichen für eine besonders schiefe Seelenlage, aber ich fand keine. Es hätte auch mein Zimmer oder das von meinem Bruder sein können. Die Normalität dieses Zimmer war das Erschreckende. Nein, ganz normal war dieses Zimmer nicht:
Jürgen besaß mehr LPs als jeder andere Mensch, den ich kannte. Es müssen Hunderte gewesen sein. Erst traute ich mich nicht an sie heran; irgendwie schienen sie mir das Zentrum dieses Zimmers zu sein, es ging eine fast physisch spürbare Kraft von ihnen aus, bildete ich mir ein, zumindest etwas, das mich ehrfürchtig zurückdrängte. Aber Wolfgang, Jürgens Vater bat mich geradezu inständig, mir doch endlich etwas auszusuchen. Zögerlich kniete ich mich zu den Platten und schaute einige an. Ich kannte kaum eine Band. Die Musik, die ich immer im Radio hörte, zum Beispiel ABBA, schien Jürgen nicht zu hören. Völlig wahllos griff ich ein paar LPs, die ganz am Anfang der Reihen standen, um nicht zu tief in dieses fremde und Furcht einflößende Reich einzudringen.
Vielleicht waren die Platten, die ganz vorne standen, gerade die, die Jürgen immer besonders gerne oder zum Schluss noch gehört hatte. "Seargent Pepper's Lonely Heart Club Band" von den Beatles fiel jedenfalls in meine Hände - vermutlich nur, weil das Cover so schön bunt und ich noch ein Kind war. Nicht einmal den Titel verstand ich richtig.
Zuhause stellte ich das Radio ab, und die Beatles ein. Es war ein Wendepunkt in meinem Leben. Durchaus vergleichbar mit anderen Zäsuren im Leben wie dem Beginn oder dem Ende einer Liebesbeziehung oder eines längeren Auslandsaufenthalts .
Das war nicht Gebrauchsmusik, sondern Kunst.
Die ganze Platte war ein Faszinosum, nichts war erwartbar, nichts (mir) bekannt. Die Musik war für mich wie von einem anderen Stern, eine Klang- und Geräuschlandschaft, die ich als Kind mit nichts vergleichen konnte, was ich jemals vorher an "Musik" konsumiert hatte.
Viele Songs, besonders nach meinem Empfinden "A Day in the Life", brachten eine Form von direkter, brachialer Emotionalität, auch von einer Zärtlichkeit mit sich, wie ich sie noch nie in stromlinienförmigen ABBA-Songs gehört hatte. Von Songs wie "A Day in the Life" ging etwas unbedingt Existentielles aus.
Meine Eltern kauften mir das "Beatles Songbook 1", in dem der Text zu "A Day in the Life" auf englisch und deutsch abgedruckt war. Mit meinem Englisch haperte es noch ziemlich. Also las ich immer vor und zurück - den Grundwortschatz an Englisch-Vokabeln habe ich nicht in der Schule, sondern durch die Beatles Songbücher gelernt. Und ich las, dass mein Lieblingssong unter anderem von einem Menschen erzählt, der überraschend schnell sein Leben verliert. Etwas von der von mir in seinem Zimmer vermissten, aber Jürgen dennoch posthum unterstellten Melancholie und "schiefen Seelenlage" schien mir in "A Day in the Life" aufzutauchen. Besonders hingerissen war ich von dem Wechselspiel zwischen sehr melodischen Passagen und reiner Krachorgie. Beide wechseln sich mehrfach ab - er ist Punk und Klassik zugleich.
Vielleicht war es die Verquickung von Jürgens Selbstmord und der im Song besungenen Todes- und Sinnlosigkeitsthematik, die mir oft beim Hören eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Jedenfalls reagierte ich auf diesen Song sehr intensiv; das Anhören versetzte mich jedes Mal in eine Art Rausch, in eine Benommenheit, so dass ich bald beschloss, "A Day in the Life" nur gelegentlich zu hören, um - bei aller Hingabe - mein Seelenleben nicht zu oft aus der Balance zu bringen. Und so ist es bis heute geblieben: Alle paar Monate höre ich "A Day in the Life", und jedes Mal ist es, als hätte ich mir eine "besondere Medizin" verabreicht, jedes Mal brauche ich danach einen kurzen Moment, um mich um Hier und Jetzt wieder zurechtzufinden.
Jürgens Zimmer sieht derweil schon wieder ganz anders aus: Die Poster, das Mobile, die Plattensammlung - nichts mehr davon ist da. Jürgens Eltern haben sich ein Herz gefasst und beschlossen, sich von diesem "Jürgen-Museum" zu trennen. Der Schmerz, den ihnen diese Trennung bereitet hat, spiegelt sich in der Radikalität, mit der sie plötzlich quietschbunte "frische" Farben - einen knallroten Teppich, gelbe Vorhänge, Foto-Poster mit der schäumenden Gischt der Niagara-Fälle - hier hineinbrachten. Jetzt sitzt Hannelore, Jürgens Mutter, dort und versucht, Horoskope für Freundinnen in Lebenskrisen zu erstellen.



Eingereicht am 26. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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