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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Freunde

© Beate Walz


Vor dem Fenster tanzten fette weiße Flocken.
Das Klassenzimmer war überhitzt, und die von lustlosen Schülern verbrauchte Luft hing wie ein Sedativum im Raum. In ein paar Minuten war es 14.30 Uhr, dann würde auch diese Stunde, dieser Schultag vorüber sein und ein langes, elternloses Wochenende lag vor Mario und seinen Freunden. Drei Tage Freiheit und drei Tage Party. Die Stimme des Lehrers riss ihn aus seiner Versonnenheit: "... wenn auch Sie nichts dagegen haben, Mario?"
"Nein, gar nicht. Wogegen?" Die Klasse kicherte.
Marios Augen flehten ein "Was hat er gesagt?" zu seinem Tischnachbarn und Freund Jannik hinüber. Der zischte stenografisch hinter vorgehaltener Hand:
"Die Probe. 15 Uhr. Heute. OK?"
‚Heute? Nein!' "Ja, geht in Ordnung. In zwanzig Minuten in der Aula", rettete Mario sich aus der Situation und bereute zum ersten Mal seinen Entschluss, sich bei der Theater-AG eingeschrieben zu haben, aber wenn er sich beeilte, konnte er trotzdem noch bis heute abend mit allen Vorbereitungen für die Fete fertig sein. Lehrer Bieler nickte ihm zu und damit war auch die Klasse entlassen.
Die Katatonie eines Schulraumes verwandelte sich umgehend in lebendige junge Menschen. Stühle scharrten, Bücher wurden in Taschen gestopft, Schülerfüße schlurften aus dem Klassenraum, und in den allgemeinen Lärmpegel mischte sich das Stimmengewirr der Schüler auf dem Gang.
Vor der Aula trafen Mario und Jannik auf die anderen: Petra, Monika, Susanne und noch fünf Jungen aus seiner und der Parallel-Klasse. Die Theater-AG war ein Wahlpflichtkurs. Die Alternative wäre der Hauswirtschaftskurs oder gar die Fußballmannschaft gewesen. Eventuell hätte er auch gerne den Kochkurs belegt, aber sein Freund Jannik war für Theater gewesen, und so hatte Mario sich ihm angeschlossen.
Da wussten sie noch nicht, dass sie die ‚Rocky Horror Picture Show' aufführen würden.
Bieler kam um die Ecke und schloss seinen ‚Schauspielern' den Umkleide-Raum auf. Sie spielten schon von der ersten Probe an in Kostümen. Das war ein kluger psychologischer Schachzug von Bieler, denn wer konnte von Siebzehnjährigen erwarten, sie würden sich bei der Aufführung ohne Hemmungen in Strapsen und Korsett einem Publikum präsentieren. Aber so betrachteten die jungen Leute ihre Kostüme irgendwann im Laufe des Kurses als normale Arbeitskleidung und das verlegene Kichern und unbeholfene Hantieren mit den Kostümen war einer gewissen gespannten Gleichgültigkeit gewichen, um nicht zu sagen, einem wohlig-verruchten Gefühl.
Nach etlichen Proben gefiel es Mario sogar, Strümpfe und Stöckelschuhe zu tragen und fühlte sich darin so wohl, als würde er seine gewohnte Alltagskleidung, Lederjacke, T-Shirt und Jeans anhaben.
Die Rolle machte ihm Spaß. Er spielte den Frank N. Furter, und er machte sich recht gut darin. Mario hatte das ‚gewisse Etwas' für diese Rolle, er konnte es selber nicht benennen, aber vielleicht lag es auch an seinem Aussehen. Er war ein ausgesprochen hübscher Junge: groß und schlank, schwarze üppige Locken und tiefblaue Augen mit langen Wimpern, um die ihn selbst Sophia Loren beneidet hätte.
Die blonde Petra spielte Janet Weiss und deren Verlobter, Brad Majors, wurde höchst überzeugend von Jannik gegeben. Susanne und Monika waren Columbia und Magenta, Sean war genau die richtige Wahl, für den zwielichtigen Diener Riff-Raff. Bieler leitete die Aufführung als der Erzähler.
Die Rollen für Rocky, Eddie und Dr. Scott waren an Jungen aus der Parallel-Klasse vergeben worden. Mario kannte nur ihre Theater-Namen, er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich ihre richtigen Namen zu merken. Bei den Proben redeten sich alle ohnehin nur mit den Rollennamen an.
Sie hatten schon alle Szenen geprobt - bis auf das nächtliche Zusammentreffen mit Janet und Rocky und dem Akt im Bett, bei dem der Transsylvanier Dr. Furter sowohl Janet als auch Brad verführte. Aber heute, eine Woche vor der geplanten Aufführung würde man auch diese - schwierigste - Szene angehen.
Mario und die anderen hatten sich inzwischen umgezogen und routiniert gegenseitig geschminkt, eben noch normale Jugendliche - jetzt geheimnisvolle Kreaturen der Nacht. Mario und Jannik bewegten sich auf der Bühne mit einer Grazie, als wären sie in Transsylvanien geboren und nicht in Köln-Porz. Die Mädchen verschlangen sie mit den Augen.
Herr Bieler ging mit ihnen noch einmal schnell die Skripte durch: "Noch Fragen? Nein? Dann Los!" Der Beleuchter, oder vielmehr der theaterbegeisterte Hausmeister, der hier in seiner Freizeit aushalf, bekam sein Zeichen, und auf der Bühne wurde es Nacht.
Janet lag auf dem Bett, die Scheinwerfer erfassten ihre Silhouette und gleich darauf auch die von Frank, der als Brad verkleidet zu ihr schlüpfte. Janet Weiss war willig und Petra war es auch. Mario hatte Wochen zuvor bei Petra seine Unschuld verloren - er fragte sich ernsthaft, warum die Jungen aus seiner Klasse immer so viel Aufhebens um das Thema Mädchen machten. So aufregend war der den Sex mit Petra nicht gewesen, fand er.
Aber bei dieser Bettgeschichte hier auf der Bühne war Mario recht dankbar für die gemachten Erfahrungen und auch die so entstandene Vertrautheit mit Petra, sie half beiden über mögliche Peinlichkeiten hinweg.
"Coming" rief Frank N. Furter, die Beleuchtung wurde wieder hochgefahren und Mario bemerkte so etwas wie Bewunderung oder Neid bei seinen Freunden, die vom Bühnenrand aus zugesehen hatten. Petra war der Typ Mädchen, mit dem jeder der Jungen gerne im Bett gelegen hätte.
Jannik knuffte Mario mit dem Ellenbogen in die Seite. "Alter Schwerenöter!", raunte er ihm zu. Mario konnte es hier im Schatten nicht genau erkenn, aber er vermutete, dass Jannik grinste und ihm zuzwinkerte. Er knuffte zurück.
In der nächsten Szene würde Frank/Mario das Ganze mit Brad/Jannik wiederholen. Mario fragte sich nervös, wie es wohl sein würde, Jannik zu küssen. Sein bester Freund Jannik. Sein Kumpel, den er seit dem Kindergarten kannte. Mit dem er schon so manchen Blödsinn angestellt hatte, für den ihnen ihre Eltern, wenn sie es je herausbekämen, das Taschengeld auf Jahrzehnte rückwirkend entzogen hätten.
Jannik beugte sich zu ihm und flüsterte an Marios Ohr, absichtlich gerade laut genug, um von den Nächststehenden gehört zu werden: "Aber nicht mit der Zunge, Darling!" Dann stolzierte er betont tuntig zum Liebeslager auf der Bühne. Susanne, Petra und Sean prusteten los, Bieler bat prompt um Ruhe. Mario lachte nicht mit, er fühlte sich wie eine dieser russischen Steckpüppchen - nur falsch zusammengesteckt.
Jannik lag bereit, Mario war wieder auf Position. Das Licht wurde gedämpft, Bieler nickte, und Mario betrat, seine Verlegenheit geschickt überspielend, das Schlafzimmer von Brad. Petra sprach im Hintergrund ihren/seinen Text:
{"Oh, Brad darling, it's no good here. It'll destroy us."},
und Frank/Mario stürzte sich, der Rolle gemäß, auf Brad.
Auf seinen Mund. Janniks Mund.
Der Kuss war - unerwartet. Zart.
Jannik war - unerwartet. Leidenschaftlich.
{"oh YOU!"}
{Frank: Oh yes yes, I know... but it isn't all bad, is it? Not even half bad, I think you really quite enjoyed it.}
"Nur auf die Oberlippe, nur andeuten" hatte ihnen Bieler eingeschärft.
{Brad starts moaning: "Oh... so soft..."}, stöhnte Jannik und Mario empfand genau dasselbe.
{Brad: Stop it... stop it... oh Janet... JANET!}
Janniks Brust, Janniks Bauch...
‚Was geschieht hier', fragten sich Mario und Jannik atemlos.
Riff-Raff/Sean hatte seinen Einsatz mit der Meldung:
"Master, Rocky has broken his chains and vanished. Your new playmate is loose and somewhere on the castle grounds... Magenta has just released the dogs..."
Dann beendete Franks zweites {"Coming"} die Szene.
Beifall. Die anderen hatten nichts gemerkt. Für sie alle hatte dieser zweite Durchgang genauso ausgesehen, wie der mit Petra. Auch Bieler war begeistert. Nur Jannik teilte Marios Verlegenheit, sagte aber kein Wort, sah ihn nur hin und wieder seltsam von der Seite an. Dann kam noch die lange Szene mit Janet und Rocky dran, die auch zur Zufriedenheit gemeistert wurde. Ausgelassen tanzten sie alle noch kurz den Time-Warp an, bis Bieler sie endlich für heute entlies.
Mario und Jannik zogen sich schweigend um. Die anderen verabschiedeten sich schulterklopfend von ihnen. "Bis nachher zur Party dann", sagten sie. ‚Ach ja, die Party', fiel es Mario wieder ein. Jannik würde ihm bei den Vorbereitungen zur Fete helfen und bei ihm übernachten, wie schon so oft. Kein Problem, oder doch? Verlegen schweigend traten sie gemeinsam den Heimweg an, kauften auf dem Nachhauseweg noch einige Tüten Chips und ein paar Getränke - alles andere würde jeder Gast selber mitbringen - und räumten dann zuhause diverse Möbel um.
Eine Stunde vor Party-Beginn war alles fertig.
Jannik holte zwei kühlschrankkalte Dosen Pepsi aus der Küche, und sie setzten sich damit nebeneinander auf den untersten Treppenabsatz. Jetzt, da nichts weiter zu tun war, als zu warten, konnten sie einander nicht mehr ausweichen. Sie waren jung, sie waren siebzehn, sie waren verwirrt.
"Was ist da vorhin eigentlich passiert?" fragte Jannik leise und sah Mario aus braunen, goldgesprenkelten Augen an, als wäre er ein völlig Fremder, der ihn soeben auf der Straße angesprochen hatte. Mario hielt den Blick auf seine Fußspitzen gesenkt. Dann sah er auf, fand Janniks Augen und sagte dann fast trotzig:
"Weiß ich doch auch nicht. Aber es fühlt sich richtig an. Auf einmal ist alles so klar."
"Ja", sagte Jannik ruhig, "plötzlich passt alles."



Eingereicht am 25. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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